Der Gegenwartskapitalismus steckt nicht nur in einer ökonomischen, sondern längst auch in einer ökologischen, politischen und sozialen Funktionskrise, worauf Gegenwartsdiagnosen der „multiplen“ oder „Vielfachkrise“ hinweisen (z.B. Demirovic et al. 2011). Spätestens seit der weltweiten Finanz- und Wirtschaftskrise 2008ff. besteht zudem wenig Zweifel an einer fundamentalen Hegemonie- und Legitimationskrise des Neoliberalismus. Die multiplen Krisendynamiken verdichten sich zudem zu einer fundamentalen Krise der sozialen Reproduktion: Jahrzehnte der Privatisierung, Deregulierung und Kommodifizierung haben private und öffentliche Sorgekapazitäten erodieren lassen, auf die der Kapitalismus mit seiner strukturellen „Sorglosigkeit“ (Aulenbacher et al. 2015) konstitutiv angewiesen ist. Die Krise der sozialen Reproduktion wird zusätzlich vom Wandel der Familien- und Geschlechterverhältnisse und der Alterung der Gesellschaft vorangetrieben und schlägt sich in Zeiten, da immer weniger Frauen ganztägig als „heimliche Ressource der Sozialpolitik“ (Beck-Gernsheim 1991: 66) zur Verfügung stehen, in wachsenden Sorgeengpässen nieder. Hat sich der neoliberale Kapitalismus also gewissermaßen selbst zu Tode gesiegt – wie manche Autor*innen im Lichte dieser Dynamiken mehr prognostizieren als diagnostizieren?
Nein, argumentieren wir in unserem gerade erschienenen Buch „Community Kapitalismus“. Der Kapitalismus stellt vielmehr aufs Neue seine enorme Wandlungsfähigkeit unter Beweis, nimmt vom radikalen Individualismus Abstand und treibt die Suche nach gemeinschaftsförmigen Krisenlösungen und gemeinschaftsbasierter Solidarität – als neuer Ressource der Sozialpolitik – voran. Der ‚Ego-Gesellschaft‘ scheint die Puste auszugehen und allenthalben ist von Gemeinschaft und Community die Rede: Die Bundesregierung bewirbt Konzepte „sorgender Gemeinschaften“ als neues Paradigma einer nachhaltigen Sozial- und Pflegepolitik, „Bürgerkommunen“ gelten als lokalpolitische Reformmodelle der Zukunft, freiwilliges Engagement, Gabentausch und kollektive Sharing Economy-Projekte florieren. In digitalen Netzwerken gilt die Devise „community is the brand” (Botsman/Rogers 2010: 199), Facebook-Gründer Mark Zuckerberg preist sein Netzwerk als Meta-Community und soziale Infrastruktur der Zukunft.
Unbezahlte Arbeit war und ist, so wird erneut deutlich, das Lebenselixier des Kapitalismus. Und je weniger selbstverständlich unbezahlte Arbeit im Privathaushalt – eingebettet in eine entsprechende Geschlechterordnung – erbracht wird, desto größer wird die Bedeutung informeller Sorgearbeit außerhalb der Familie, die in Zeiten der Krise der sozialen Reproduktion zum Gegenstand politischer Steuerung und Aktivierung avanciert: Vor diesem Hintergrund ist die Entstehung einer Konfiguration zu beobachten, die wir Community-Kapitalismus nennen, deren politische und moralische Ökonomie sich durch eine Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage und die Verknüpfung von nicht regulär entlohnter Arbeit (im Folgenden: Post-Erwerbsarbeit) und Gemeinschaftspolitik auszeichnet.
Natürlich sind nicht regulär entlohnte Arbeitstätigkeiten jenseits von Privathaushalten kein neues Phänomen und auch die steigende Erwerbsbeteiligung von Frauen wirft seit mehreren Jahrzehnten neue Fragen der Organisation von (Für-)Sorge auf. […] Und doch ist die aktuelle Situation von neuer Qualität.Einerseits verbindet sich die – unterschiedlichen Dynamiken geschuldete – Krise der sozialen Reproduktion mit der fundamentalen Legitimations- und Hegemoniekrise des Neoliberalismus, zugleich befördert die rasante technologische Entwicklung digital gestützte, neue Vergemeinschaftungen, durch die die Grenzen von Arbeit und Freizeit, von Öffentlichkeit und Privatheit in neuer Weise fluide werden. Im Lichte dieser heterogenen Entwicklungen hat der Community-Kapitalismus, so unsere These, das Potenzial hegemoniefähig zu werden, denn er bietet eine Antwort auf die multiplen (Krisen-)Dynamiken der Gegenwart. Er verbindetLösungen für die Reproduktionskrise mit einer legitimationsstiftenden Antwort auf die Hegemoniekrise des Neoliberalismus und schafft einen Deutungsrahmen, der zentrale Muster der zunehmend einflussreichen digitalen Vergemeinschaftungen aufgreift. Zudem ist der Anti-Etatismus, der in der Verzivilgesellschaftlichung der sozialen Frage steckt, anschlussfähig an Akteure sehr unterschiedlicher politischer Provenienz. Auf der Ebene der Subjekte antwortet die Anrufung von Gemeinschaft und Gemeinsinn auf ein reales Begehren nach Verbundenheit und Solidarität nach der jahrelangen Konjunktur des Hyper-Individualismus und Sozialabbaus. Das Regieren durch Community reizt etwas an, das vielen Menschen im Alltag wichtig ist. Es befördert ein aktives ‚Mittun‘, ohne dass damit eine dezidierte Bejahung der gesellschaftlichen Neuverhandlung des Sozialen als fürsorgliche Gemeinschaft verbunden sein muss.
Die wissenschaftliche Literatur ist ebenso wie der politische und mediale Diskurs reich an Lob für die Zivilgesellschaft und das Engagement von Freiwilligen und Umsonstarbeitenden; der Lobpreis von Gemeinschaft und Gemeinsinn ist allgegenwärtig. Unser Buch will diese breit verankerte Affirmation aufbrechen und stellt eine Kritik des Community-Kapitalismus dar. Es ist keine Kritik an Freiwilligen und Engagierten, keine Kritik an alltäglichen Formen der Solidarität unter Nachbar*innen und Freundinnen, keine Kritik an Selbstorganisation und Alternativökonomien. Es ist eine Kritik der politischen und moralischen Ökonomie des Community-Kapitalismus, die auf der Ausbeutung von Posterwerbsarbeit, der Informalisierung und De-Professionalisierung von Arbeit, der Umdeutung der sozialen Frage in eine Frage fürsorglicher Gemeinschaften und der Überführung sozialer Rechte in soziale Gaben beruht.