Man erwartete sogar, diese neue Welle der Informationstechnologie würde sie zu Fall bringen. In Washington gab es eine bestimmte Erzählung vom Ende des Kalten Krieges, die diese Haltung unterstützte: Wenn Radio Free Europe und Kopiermaschinen es geschafft hatten, die Sowjetunion hinwegzufegen, dann wäre es jetzt an der Reihe von Blogs und den sozialen Medien, den noch unerledigten Job des weltweiten Demokratieexports zu Ende zu bringen. Für mich stand fest, dass diese Inanspruchnahme des freien Internets für die US-amerikanische Außenpolitik jegliches Potenzial, über das diese neuen Tools und Plattformen in Bezug auf die Herstellung einer alternativen Öffentlichkeit verfügen mochten, zu untergraben drohte. Je stärker sich der US-amerikanische Staat hier einmischte, desto mehr brachte er andere Regierungen dazu, etwas gegen diese zu unternehmen. Allerdings war ich erst 25 Jahre, als ich The Net Delusion schrieb. Ich dachte, ich würde vielleicht eine Stelle in einem Thinktank in Washington ergattern. Das Buch liest sich jedenfalls so, als hätte ich die politisch Verantwortlichen davor warnen wollen, in ihre eigene Falle zu tappen, als hätte ich ihnen sagen wollen: Hey, Ihr müsst euer Verhalten ändern. Sicherlich würde ich das heute nicht mehr so schreiben. Inwieweit betrachten Sie Ausgang des Arabischen Frühlings als eine Bestätigung dessen, worauf Sie in The Net Delusion hingewiesen haben? Zum Teil. Viele entnahmen meinem Buch eine einzige Botschaft, auch wenn sie sich selten einig waren, worin diese bestand. Ein Teil der Leserschaft unterstellte mir die Position, das Internet würde den Regierungen unweigerlich einen Vorteil gegenüber Protestierenden und Dissidenten verschaffen, ein anderer las heraus, das Internet führe zu oberflächlichem und wirkungslosem Aktivismus und könne daher von allen, die auf wirkliche Veränderung aus seien, vernachlässigt werden. Tatsächlich lautete einer meiner zentralen Thesen, dass bestimmte Aspekte digitaler Technologien gesellschaftliche Mobilisierung befördern und andere zur Unterdrückung dieser Mobilisierung beitragen können. Welche Tendenz sich jeweils durchsetzt, hängt maßgeblich von der politischen Dynamik ab, die in einem Land vorherrscht. Mir ging es auch darum zu zeigen, dass der gängige Diskurs über diese Technologien völlig losgelöst von drei Realitäten stattfindet: der Tatsache, dass sie von privaten Unternehmen kontrolliert werden, die in erster Linie Interesse daran haben, Geld zu verdienen; dass mit Schlagworten wie dem von der »Freiheit des Internets« althergebrachte außenpolitische Erwägungen nicht einfach von einem Tag auf den anderen verschwinden (die diesbezügliche Faszination der US-Amerikaner hat ihre Wurzeln im Kalten Krieg); und dass ihr utopischer Reiz nicht vereinbar ist mit fast allem (Cyberattacken, Überwachung, Meinungsmanipulation), was die US-amerikanische Regierung selbst online so treibt. Von daher hat der Arabische Frühling viele meiner Vorahnungen bestätigt. Wir wissen jetzt, dass westliche Unternehmen Länder wie Libyen und Ägypten mit Überwachungstechnologien ausgestattet haben; dass die Möglichkeit der relativen einfachen horizontalen Mobilisierung über soziale Netzwerke nur von begrenztem Nutzen ist, wenn es zur Herausbildung dauerhafterer politischer Strukturen kommt, mit denen die militärische Herrschaft jenseits der Massenproteste auf den städtischen Plätzen angegriffen werden kann; dass das Abfeiern der Rolle von Twitter und Facebook im Arabischen Frühlings Russland, China und den Iran dazu veranlasst hat, die Kontrolle der eigenen Online-Ressourcen zu verschärfen. Viele Darstellungen des Arabischen Frühlings, die ihn als das Aufkommen einer neuen Art des digitalen Protests deuten, sind tatsächlich aktualisierte Versionen der Modernisierungstheorie, die uns glauben machen wollen, der Einsatz von ausgefeilten Medien ginge einher mit intellektueller Emanzipation, größerem Respekt gegenüber Menschenrechten und so weiter. Wir müssen uns nur die ausgeklügelte Medienstrategie von ISIS betrachten, um zu begreifen: Das ist Quatsch. Wie sehen Ihrer Ansicht nach die gegenwärtigen Eigentumsstrukturen des Internets aus? Bislang habe ich diese noch nicht in ihrer komplexen Gesamtheit kartographiert. Vielmehr beschäftigte ich mich zurzeit ausführlich mit der Mehrdeutigkeit des Begriffs »das Internet«. Wenn wir uns die dominanten Unternehmen im Hardware- und Softwarebereich anschauen, dann ist ziemlich deutlich: Die kommen fast alle aus den USA. Samsung mag zwar einen beträchtlichen Anteil am Smartphone-Markt haben, aber sein Betriebssystem Android ist von Google entwickelt worden. Das bringt uns zu einem anderen Punkt. Android ist Open Source, aber ein Großteil der Open-Source-Software wird von Unternehmen bereitgestellt, die ihren Hauptsitz in den USA haben. Freie Software ist ohne Frage besser als proprietäre Software, aber der Umstand, dass Android von Google stammt und in andere Google-Produkte und -Systeme integrierbar ist, schmälert seine Vorzüge. Im Ergebnis kontrolliert ein US-amerikanischer Riesenkonzern gewaltige Mengen an Daten und Datenverkehr. Ursprünglich war mit Open-Source-Software die Hoffnung verbunden, diese könne von allen auf backdoors im Code ‒ die sie gegenüber dem Zugriff von Behörden wie der NSA anfällig machen ‒ überprüft werden. Aber, wie wir wissen, gibt es einen riesigen Markt für exploits.[2] Mit ausreichend Geld kann man selbst Open-Source-Software ausschlachten. Und wer hat dieses Geld? Mit Sicherheit die NSA. Freie oder Open-Source-Software erlaubt jedoch zumindest Katz-und-Maus-Spiele zwischen Hackern[3] und Überwachern, während bei geschlossenen Systemen wie Apple es so gut wie unmöglich ist, überhaupt zu erfahren, welchen Zugriff Organisationen wie die NSA auf deine Daten haben. Macht diese Unterscheidung noch Sinn? Hier müssen wir die normativen Maßstäbe offenlegen, mit denen wir die Situation beurteilen wollen. Geht es nur um die Frage des Datenschutzes, dann ist Open Source selbstverständlich weitaus besser. Aber das klärt nicht die Frage, ob wir es zulassen wollen, dass ein Unternehmen wie Google, das bereits über den Zugang zu einem gewaltigen Reservoir an persönlichen Informationen verfügt, weiterhin expandiert und zum Standardprovider für jegliche Infrastruktur ‒ sei es im Bereich Gesundheit, Bildung und darüber hinaus ‒ im 21. Jahrhundert wird. Der Umstand, dass einige seiner Dienste etwas besser gegen Ausspähung geschützt sind als die Pendants von Apple, berührt diesen Punkt nicht. Im bin nicht länger davon überzeugt, dass Open-Source-Software eine Art transnationalen Weg aufzeigt, wie wir uns aus dem Zangengriff der amerikanischen Giganten befreien können. Seit Snowdens Enthüllungen sind viele Hacker vor allem vor staatlicher Spionage auf der Hut. Für sie ist das das eigentliche Problem. Sie sind libertäre Bürgerrechtler, die problematische Rolle des Marktes interessiert sie nicht. Vielen anderen ist die Zensur ein Dorn im Auge. Für sie ist die Meinungsfreiheit das Wesentliche, und es ist ihnen relativ egal, ob die Meinungsäußerungen auf den Plattformen von privaten Großkonzernen stattfinden. Ich bewundere Snowden für das, was er getan hat, aber im Grunde genommen hat er nichts gegen Silicon Valley, solange Firmen mit unzureichenden Sicherheitsvorkehrungen und -praxen verschwinden und bei der NSA für eine bessere und strengere Dienstaufsicht gesorgt wird, mit zusätzlichen Kontrollebenen, mehr Transparenz und Rechenschaftspflichten. Ich tue mich mit dieser Haltung, die von vielen Liberalen in den USA geteilt wird, äußerst schwer, da sie zu übersehen scheint, wie das Kapital mithilfe der Instrumente von Silicon Valley in unseren Alltag eindringt. Das ist wahrscheinlich viel folgenreicher als alle Eingriffe der NSA in unsere Bürgerechte. Die Lösungsvorschläge von Snowden bleiben doch sehr legalistisch: Alles wird sich zum Guten wenden, wenn es uns nur gelänge, in das US-amerikanische Rechtssystem fünf weitere Ebenen von checks and balances einzuziehen, und wenn wir ein Gericht hätten, das stärker von der Öffentlichkeit kontrolliert wird. In solchen Diskussionen stellt niemand die Eigentumsfrage oder andere weiterreichende politische Fragen zur Rolle des Marktes. In meinen jüngeren Arbeiten habe ich die Position vertreten, dass wir einfach noch nicht wissen, wie wir mit diesen Problemen umgehen sollen. Die Informationen, die Konzerne wie Google, Apple oder andere von uns erhalten, schlagen sich unmittelbar in deren Bilanzen nieder. Wie kommt, marxistisch gedacht, dieser Wert zustande? Wer arbeitet für wen, wenn man sich eine Werbung im Internet ansieht? Warum sollten Google oder Apple automatisch die Eigentümer dieser Daten sein? Inwieweit werden wir dazu gezwungen, diese Daten zu kontrollieren, zu sammeln und zu verkaufen? Inwieweit entsteht hier eine neue Front im Prozess der Finanzialisierung unseres Alltagslebens? Man kann solche Herausforderungen nicht angehen, wenn man sich nur auf bürgerrechtliche Aspekte konzentriert. Besteht das Kernproblem in diesem Feld nicht in dem Grad der Monopolisierung und dem Tempo, in dem diese vonstatten geht? Die Unternehmen, von denen wir hier sprechen, sind viel schneller gewachsen als ihre Vorgänger. In der Automobil- oder Luftfahrtindustrie etwa hat es viel länger gedauert, bis sich Oligopole herausgebildet haben. Google gibt es erst seit 1996. Das ergibt sich aus der Natur der Service- und Netzwerkeffekte bei Unternehmen wie Google und Facebook. Je mehr Menschen Facebook nutzen, desto wertvoller wird es. Und es ist auch nicht wirklich sinnvoll, dass hier fünf verschiedene sozial Netzwerke mit vielleicht jeweils 20 Millionen Mitgliedern miteinander konkurrieren. Viel besser ist es, alle auf einer Plattform zu versammeln. Das gilt auch für Suchmaschinen: Je mehr Menschen die Suchmaschine von Google nutzen, desto besser funktioniert sie, da mit jeder Suche in gewisser Weise auch eine Korrektur und Verbesserung des Dienstes verbunden ist. So kommt es, dass Google in einem enormen Tempo in alle möglichen anderen Bereiche expandiert. Zurzeit kümmern sie sich um Thermostate, fahrerlose Autos und das Thema Gesundheit. Google und Facebook sind sogar gerade dabei zu versuchen, Länder der sogenannten Dritten Welt besser zu vernetzen. Es geht ihnen darum, alle in Afrika und Asien online zu bekommen, weil das die nächsten Milliarden Kunden sind, aus denen sie Kapital in Form von noch mehr Werbeeinnahmen schlagen können. Es sind selbstverständlich ganz spezifische Bedingungen, unter denen diese online gehen sollen. Facebook arbeitet dabei mit Mobilfunkbetreibern als Partnern zusammen, da in den ärmeren Ländern die meisten Menschen über das Handy das Internet nutzen. Sie zahlen für den Zugang und für ihre Downloads, während der Zugang zu Facebook umsonst ist. Während alles andere seinen Preis hat, ist Facebook mit keinerlei Zusatzkosten verbunden, was einen positiven Eindruck hinterlässt, denn selbstverständlich kommt es besser an, wenn man nicht für alles Geld zahlen muss. Eine der Folgen davon ist, dass alle anderen Dienste auf Facebook präsent sein müssen, womit Facebook zu einer Art Nadelöhr oder Schnittstelle wird, über die Inhalte an die Nutzer gelangen. Wenn man also Schülern oder Studierenden Bildungsinhalte zukommen lassen will, wählt man dafür am besten Facebook, weil dies für sie kostenlos ist. Am Ende könnte das eine Situation herbeiführen, in der eine Privatfirma Informationen darüber sammelt, was Menschen lernen. Diese Daten können dann ein Leben lang für Werbezwecke genutzt werden. Ein Bereich, der zuvor nur in einem eingeschränkten Sinne von Marktkräften beeinflusst war, wird plötzlich von einem global agierenden US-amerikanischen Konzern gekapert. Und das ist allein deswegen möglich, weil Facebook zum Provider der Infrastruktur geworden ist, über die Menschen den Zugang zu allem anderen erhalten. Aber meine Kritik richtet sich nicht allein gegen Facebook, sondern grundlegend gegen den Neoliberal­ismus. Wenn Sie eine Periodisierung all dieser Entwicklungen vornehmen müssten, was wären aus Ihrer Sicht die kritischen Wendepunkte in dieser kurzen, aber rasanten Geschichte des Internets? Und was wären die wichtigsten analytischen Differenzierungen, die man hier vornehmen müsste? Schauen wir uns die Situation in den späten 1970er Jahren an: Damals gab es ein Dutzend weltumspannender Netzwerke: eins für den globalen Zahlungsverkehr, eins für Reisebuchungen und so weiter. Es war durchaus nicht abzusehen, dass sich gerade das Netzwerk, das wir heute als das Internet kennen, als das dominante System durchsetzen würde. Es bedurfte großer Anstrengungen ‒ in Normenausschüssen oder in Organisationen wie der Internationalen Fernmeldeunion ‒, um dies zu erreichen. Hinzu kamen Neuerungen wie die Smartphone-Apps, die wir heute als Teil des Internets wahrnehmen, weil sie auf Plattformen der Unternehmensriesen wie Google laufen, die man aber eher der Softwareentwicklung zurechnen sollte als der Geschichte des internetworking. Dass all diese Prozesse diskursiv im Begriff »Internet« zusammenkamen, ist an sich schon eine bemerkenswerte historische Entwicklung. Wenn wir uns die Debatte zwischen 1993 und 1997 betrachten, dann zeigt sich, dass zu dieser Zeit der am meisten verbreitete Begriff zur Kennzeichnung des Ganzen nicht »Internet«, sondern »Cyberspace« war. Es gab in den 1990er Jahren insgesamt eine Reihe von unterschiedlichen Visionen, Deutungen, Ängsten und Sehnsüchten in Bezug auf diese neue Welt und eine Vielzahl von konkurrierenden Bezeichnungen: virtuelle Realität, Hypertext, World Wide Web, Internet. An einem bestimmten Punkt gewann dann das Internet, verstanden als Medium, die Oberhand und wurde zur organisierenden Metakategorie, während all die anderen auf der Strecke blieben. Was wäre anders gekommen, wenn wir über das Internet weiterhin eher als Raum nachgedacht hätten und weniger als Medium? Es ist wichtig, sich solche Fragen zu stellen. Das Netz ist nämlich keine zeitunabhängige, unproblematische Kategorie. Mich interessiert, wie es dazu kam, dass heute als diese parallelen Entwicklungen zusammengebracht und analysiert werden: die der Hardware, der Software, der zunächst vom Staat zur Verfügung gestellten Infrastruktur und der Privatisierung dieser Infrastruktur. Ich will auch verstehen, wie es dazu kam, dass die politischen, ökonomischen und historischen Zusammenhänge dabei völlig ausgeblendet werden. Ich bin gern bereit, die Realität des TCP/IP-Protokolls anzuerkennen, aber nicht die diskursive Vereinheitlichung, die mit dem Begriff Internet einhergeht. Ich fürchte, die meisten Menschen gehen davon aus, es gäbe eine Reihe von Fakten, die sich unmittelbar aus dieser Architektur ableiten lassen, als stünden hinter den Diensten und Programmen, die diese Architektur nutzen, keine kommerziellen Interessen von Unternehmen, oder als würden diese nicht von staatlicher Seite kontrolliert. Es kommt dann zu Aussagen wie: Das wird das Internet zerstören, oder: Das Internet wird scheitern, oder: Das Internet wird das nicht hinnehmen. Die Art, darüber zu sprechen, hat fast etwas Religiöses. Wie würde eine angemessene sozialhistorische Perspektive auf diese Entwicklungen aussehen? In den 1960er Jahren stellten sich die Ingenieure am Massachusetts Institute of Technology (MIT) und anderswo die elektronische Datenverarbeitung als eine Art öffentliche Dienstleistung vor, vergleichbar mit dem heutigen cloud computing. Sie dachten an einen Riesencomputer an einem Ort wie dem MIT und dass die privaten Haushalte von dort aus mit Rechenleistung versorgt würden, ähnlich wie mit Strom oder Wasser. Man hätte keinen eigenen Prozessor und keine eigene Hardware benötigt, da ja alles über einen zentralen Computer gelaufen wäre. Damals stellten die großen Computerfirmen wie IBM vorwiegend Großrechner für Großkonzerne her ‒ sie richteten sich nicht an private User, Familien und Kunden. Es ist zum Teil dem antiinstitutionellen Klima und den gegenkulturellen Bewegungen der 1970er Jahre zu verdanken, dass Unternehmen wie Apple die Vorherrschaft dieser big players infrage stellten. Es bedurfte einiger Anstrengungen von Leuten wie Steve Jobs und seinen intellektuellen Wegbereitern von der schreibenden Zunft wie Stewart Brand und dem gegenkulturellen Flügel von dem Whole Earth Catalog, die das Do-it-yourself-Prinzip vertraten, um die Verbraucher davon zu überzeugen, dass Computer von Privatleuten besessen und bedient werden können und dass es sich hierbei nicht nur um aggressive Maschinen im Dienste der Bürokratie, sondern auch um kreative, neue Instrumente handelt, die in den Dienst der Befreiung gestellt werden können. Heute ähnelt ein Teil der Diskussion, die mit dem Trend hin zu cloud computing verbunden ist, der Rhetorik aus diesen frühen Jahren ‒ nur dass es heute die kommerziellen Anbieter selbstverständlich vermeiden, von Versorgungsleistungen zu sprechen, weil das nahelegen würde, dieses über eine öffentlich verwaltete und kontrollierte Infrastruktur anzubieten. Welche Rolle nimmt das gegenwärtige Phänomen zentralisierter Big Data in dieser ganzen Geschichte ein? Big Data gibt es nicht erst seit ein paar Jahren. Um zu verstehen, was hinter dieser Datensammelwut steckt, lässt man am besten die Debatten zum Internet beiseite und fängt damit an, sich näher mit den Datenbanken zu beschäftigen, die Informationen auf dem Sekundärmarkt verkaufen ‒ Unternehmen wie Axiom und Epsilon. An wen verkaufen die ihre Daten? An Banken, Versicherungskonzerne, Privatdetekteien und so weiter. In den späten 1960er Jahren hat man in den USA schon einmal über die Rolle und den potenziellen Missbrauch von Datenbanken gestritten, eine Diskussion, die sich gar nicht so sehr von den aktuellen Debatten zu Big Data unterscheidet. Es ging darum, ob die USA nationale Datenbanken betreiben und ob alle von den Bundesbehörden gesammelten Informationen in einer einzigen Megadatenbank gespeichert werden sollten, auf die jede Behörde und jede Universität Zugriff gehabt hätte. Das war eine Riesendebatte, die auch im Kongress stattfand. Die Idee wurde am Ende aufgrund von datenschutzrechtlichen Bedenken fallengelassen. Aber viele Wissenschaftler und Unternehmen vertraten die Ansicht: Da man die Daten bereits gesammelt hätte, sollte man diese anderen Forschern zur Verfügung stellen. Dies könnte zum Beispiel dazu beitragen, Krebs zu heilen ‒ also genau die Art von Argumentation, die uns aus gegenwärtigen Debatten zu Big Data vertraut ist. Heutzutage ist es viel einfacher, an Informationen zu gelangen, weil alles, was wir tun, mithilfe von Mobiltelefonen, smart gadgets oder Computern nachzuverfolgen ist. Damit wächst die Menge an Daten unaufhaltsam. Es wird heute so viel gesammelt, dass man sich fragen sollte, ob dafür nicht eine neue Bezeichnung sinnvoll wäre. Selbst Googles wichtigster Ranking-Algorithmus hat eine längere Geschichte, denn tatsächlich ist er aus der jahrzehntelangen Arbeit von Informatikern und Wissenschaftlern, die sich mit Indizierung befassen, hervorgegangen. Der von Google eingesetzte Mechanismus zur Bestimmung von Relevanz ‒ der danach sucht, wer was mit wem verlinkt, Zitationsmuster etc. ‒ ist keine Erfindung von Google, sondern ist ursprünglich entwickelt worden, um akademische Publikationen zu indexieren. Aber man muss sich schon mit Entwicklungen in der Informatik auskennen, um das zu wissen Genauso wenig ist den meisten bewusst, dass die »Massive Open Online Courses« nicht etwas völlig Neues sind, sondern dass sich bereits in den 1950er und 1960er Jahren Leute wie B.F. Skinner für die Einführung von sogenannten »Lehrmaschinen« einsetzten, die Dozenten überflüssig gemacht hätten. Die Automatisierung des Lehrens und Lernens hat Tradition. Dass sich heute eine Reihe von Start-ups darauf verlagert hat, macht diese früheren Entwicklungen nicht ungeschehen. Wir sind heute an einem Punkt angelangt, an dem das »Internet« in alle denkbaren Bereiche vorstößt ‒ Bildung, Gesundheit (Stichwort: der vermessene Mensch) und so weiter. Gleichzeitig laufen wir Gefahr, am Ende mit einer Art Geschichte für Trottel dazustehen, die glauben machen will, dass alles in Silicon Valley begonnen hat, und in der alle anderen treibenden Kräfte und Zusammenhänge verschwiegen werden. War der Schritt hin zu mehr technischer und organisatorischer Zentralisierung, der in den letzten Jahrzehnten stattgefunden hat, aus Ihrer Sicht unausweichlich? Wir sehen überall Tendenzen in Richtung größerer Zentralisierung, obwohl jede Branche über eine spezifische Dynamik verfügt, die das Tempo dieser Entwicklung in den verschiedenen Sektoren und Schichten bestimmt. Wir sollten daher differenzieren zwischen den Entwicklungen im Bereich Big Data und denen im Bereich der Mobiltelefon-Produktion. Jetzt sind aber Google und Facebook darauf gekommen, dass sie unmöglich ihre Geschäftsidee, das gesamte Weltwissen zu erfassen, verfolgen können, wenn sie nicht auch die Sensoren kontrollieren, die dieses Wissen generieren, sowie die gateways, durch die das Wissen zu uns kommt. Das heißt: Sie müssen überall präsent sein ‒ im Bereich der Betriebssysteme, der Datensammlung und Indexierung ‒, um sich die Kontrolle über den ganzen sprichwörtlichen »Bestand«[4] zu sichern. Lassen sich hierzu aktuell irgendwelche Gegentendenzen ausmachen? Wenn mehr und mehr Branchen und Unternehmen irgendwann realisieren, dass Googles Ziel nicht nur darin besteht, das weltweite Wissen zu organisieren, sondern auch die diesem Wissen zugrundeliegende Infrastruktur unseres Alltagslebens zu kontrollieren, dann könnte es zu Spannungen kommen. Wenn Google zu vielen in die Quere kommt, könnte das Widerstand hervorrufen. Zurzeit gibt es Druck auf die politisch Verantwortlichen in Europa, Googles weitere Expansion zu verhindern. Dahinter stecken vor allem nationale Unternehmen, oft deutsches Kapital, das verständlicherweise Angst davor hat, Google könnte auch noch die Automobilindustrie übernehmen. Auch die großen Medienkonzerne in Deutschland haben angesichts Googles Geschäftsgebaren Anlass zur Sorge. Solche Kämpfe um die Vorherrschaft in bestimmten Branchen könnte die Entwicklung ein wenig bremsen. Aber ich denke nicht, dass die Bürger davon etwas haben werden, da Google und Facebook über eine Monopolstellung verfügen, die scheinbar natürlich ist. Den wenig überzeugenden Forderungen in Europe nach einer Zerschlagung oder Schwächung von Google fehlt es an einer alternativen ökonomischen, politischen und ökologischen Vision. Sie stellen den Widerstand in Europa gegen Google so dar, als würden sich hier vor allem alteingesessene gegen neue Unternehmen wehren. Aber man könnte es auch als den Versuch betrachten, sich dem amerikanischen Konzernriesen, der wie ein Dschagganath-Wagen alles niederzuwalzen droht, in den Weg zu stellen. Sie dagegen scheinen den Menschen eher nahelegen zu wollen, sich mit Google abzufinden, da in der Nacht schließlich alle neoliberalen Katzen grau sind. Das anhaltende Gerede in der hiesigen Politik, dass es notwendig sei, ein europäische Pendant von Google an den Start zu bringen, sowie die meisten anderen Vorschläge, die zurzeit aus Brüssel oder Berlin kommen, sind entweder der Sache nicht angemessen oder unausgegoren. Was würde denn ein europäisches Google machen? Google ist heute viel mehr als eine Suchmaschine. Es hat ein Betriebssystem für Smartphones entwickelt, das bald auch für andere intelligente Geräte nutzbar sein wird, es verfügt über einen Browser, ein E-Mail-System und sogar über einen nicht ganz unbeträchtlichen Anteil an der Kabel- und Breitbandinfrastruktur. Zwischen all diesen Bereichen gibt es eine Menge Synergien. Man kann diese nicht einfach replizieren, indem man einige Dutzend Milliarden Euro lockermacht und eine Universität daransetzt, einen Suchalgorithmus zu entwickeln, der leistungsfähiger ist als der von Google. Google wird seine Überlegenheit behalten, solange seine Herausforderer nicht über eine vergleichbare Menge an Userdaten verfügen. Ein besserer Algorithmus genügt einfach nicht. Will Europa hier nicht noch mehr an Bedeutung verlieren will, muss es sich mit der Tatsache anfreunden, dass Daten und die Infrastrukturen (Sensoren, Mobiltelefone und so weiter), die diese hervorbringen, in Zukunft für jegliche wirtschaftliche Aktivität entscheidend sein werden. Es ist überaus bedauerlich, dass man im Gegenzug für eine Reihe kostenloser Dienste es Google erlaubt hat, sich überall breitzumachen und alles Mögliche an sich zu reißen. Wenn es den Europäern wirklich ernst wäre, dann würden sie einen anderen rechtlichen Umgang mit personenbezogenen Daten erwirken, indem sie etwa dafür sorgen, dass diese nicht verkauft werden dürfen. Zusätzlich könnten sie kleinere Unternehmen damit beauftragen, neue Lösungen zu entwickeln (von der Internetsuche bis zum E-Mail-Sytem), auf der Grundlage derart geschützter Daten. Wie würden Sie ihre persönliche politische Entwicklung seit Ihrem Buch The Net Delusion beschreiben? Früher hätte ich mich eher der pragmatischen Mitte zugeordnet, mit mehr oder minder sozialdemokratischen Einstellungen. Meine politische Umorientierung hängt damit zusammen, dass sich irgendwann der Katalog an Fragen, die ich mir stellte und die ich als legitim empfand, ausweitete. Während ich mich also noch vor, sagen wir, fünf Jahren damit zufriedengab, mir Gedanken über wirkungsvollere Steuerungs- und Kontrollmechanismen für Google und Facebook zu machen, verschwende ich damit heute kaum mehr Zeit. Stattdessen geht es mir um die Frage, wer der Betreiber und Eigentümer der Infrastruktur und den damit zusammenhängenden Datenströmen sein soll, da ich der Ansicht bin, dass wir es nicht länger hinnehmen sollten, dass alle diese Dienste von kommerziellen Anbietern bereitgestellt werden und erst, nachdem sie auf dem Markt sind, reguliert werden. Bestandteil meiner genealogischen Forschung über die Geschichte »des Internets« ‒ sowohl aus einer diskursiven als auch materialistischen Perspektive heraus, was durchaus eine Herausforderung ist ‒ war, herauszufinden, was eigentlich in Silicon Valley passiert ist. Denn wir erhalten nur dann ein stimmiges Bild von Silicon Valley, wenn wir es in eine umfassendere historische Erzählung einbetten und Veränderungen in der Produktion und Konsumption, gewandelte Staatsformen sowie veränderte Überwachungsmöglichkeiten und Interessen des US-amerikanischen Militärs berücksichtigen. Es lässt sich viel von der marxistischen Historiographie lernen. zumal alles, was es bislang zur Geschichte »des Internets« gibt, ideell betrachtet eher belanglos ist, da Fragen von Kapital und Empire überhaupt nicht behandelt werden. Irgendwann im Sommer/Herbst 2013 habe ich damit angefangen, mich näher mit der zunehmenden Kommodifizierung personenbezogener Daten zu beschäftigen. Heute ist es durchaus möglich, jeden Moment unseres Lebens (selbst wenn wir schlafen) zu erfassen und in Geld zu verwandeln mithilfe von intelligenten Betten, intelligenten Fahrzeugen und intelligentem Weiß-der-Teufel-was, alles vermittelt auf die ein oder andere Weise über Silicon Valley. Wir alle sind aufgerufen, zu Datenunternehmern zu werden und unser eigenes Datenportfolio zu pflegen. Aus analytischer Sicht ist diese »Verdatung« von allem und jedem Teil eines umfassenderen Prozesses: der Finanzialisierung unseres Alltagslebens. Ich habe lange darüber nachgedacht, warum das passiert und wie diese Entwicklung aufzuhalten wäre, und für mich ist inzwischen ganz offensichtlich, dass die Antwort auf diese Fragen weit mehr mit Politik zu tun hat als mit Technologie. Mir wurde auch klar: Man kann sich alle möglichen politischen Reformen ausdenken. Die Gründe, warum diese nicht umgesetzt werden, sind struktureller Natur. Dass Europa sich so schwer tut mit der Formulierung einer Alternative zu Silicon Valley, liegt nicht an fehlenden hiesigen Kenntnissen oder Qualifikationen. Vielmehr scheut man sich vor den notwendigen Schritten und Interventionen, die da wären: die Reduzierung der Abhängigkeit von US-amerikanischen Unternehmen, die Förderung von Initiativen, die sich nicht der Konkurrenz- und Unternehmenslogik unterwerfen, öffentliche Investitionen in eine an den Interessen der Bürger ausgerichtete Infrastruktur. Dies verstößt grundlegend gegen alles, wofür das neoliberale Europa heute steht, ganz zu schweigen von den zahlreichen Lobbyisten der großen Technologiekonzerne, die die Debatten in Brüssel bestimmen. In anderen Worten: Um den Umgang Europas mit »dem Internet« besser zu verstehen, sollten wir viel eher Europa historisieren als »das Internet«. Nachdem ich mich nur ein wenig mit einigen elementaren Aspekten und Fragen beschäftigt hatte ‒ beispielsweise mit der Entstehung der Antitrust- und Wettbewerbsgesetzgebung in Europa oder der Verbreitung von Ideen aus dem Umfeld des »Dritten Weges«, die unter dem harmlos klingenden Label »gesellschaftliche Innovationen« daherkamen ‒, war meine eigene sozialdemokratische Selbstgewissheit kaum mehr aufrechtzuerhalten. Was sind die politischen Implikationen einer Entwicklung, bei der sich das Internet auf immer mehr Bereiche ausdehnt und die zentralisierte Sammlung von Daten massiv zunimmt? Einflussreiche Technologieunternehmen könnten in die Lage versetzt werden, die politische Agenda noch stärker zu bestimmen. Aktuell unterstützen sie die vorherrschende neoliberale Ideologie und Austeritätspolitik. Datensammlungen werden genutzt, um Immigranten zu identifizieren, die abgeschoben werden sollen, oder verschuldete Menschen, die wahrscheinlich ihre Hypothek oder ihren Kredit nicht mehr bedienen können. Und trotzdem: Die Kumulation von immer mehr Daten hat auch ein enormes positives Potenzial, vorausgesetzt, der institutionelle Rahmen ‒ und damit meine ich den politischen Rahmen ‒ stimmt. Davon bin ich fest überzeugt. Es ist doch so: Wenn ein Teil der Aktivitäten eines Menschen erfasst und nachverfolgt wird und auf diesen Informationen aufbauend Vorschläge und Prognosen erstellt werden, dann ist davon auszugehen, dass eine Erfassung der restlichen Aktivitäten zu einer Verbesserung dieser Dienste beitragen würde. Der Umstand, dass Google meine Suchen im Netz erfasst, meine E-Mails, meine Aufenthaltsorte etc., trägt dazu bei, dass seine Prognosen in jedem dieser Bereiche wesentlich treffsicherer sind, als würde es nur einen davon verfolgen. Folgt man dieser Logik, dann ist doch die ultimative Schlussfolgerung: Zweihundert verschiedene Anbieter im Bereich der Informationsdienste sind nicht erstrebenswert. Besser ist ein einziger, und zwar aufgrund der Skaleneffekte, die Dinge für die Nutzer wesentlich einfacher machen. Die entscheidende Frage, die dann bleibt, lautet: Muss dieser Anbieter ein kapitalistisches Unternehmen sein? Was spricht gegen einen Verbund von öffentlich kontrollierten Diensten, die sich auf eine gemeinsame Datennutzung einigen und damit den Zugriff von Geheimdiensten und anderen Sicherheitsbehörden ausschließen könnten? Nehmen wir den Fall des öffentlichen Transportsystems. Dieses würde wahrscheinlich wesentlich besser funktionieren, wenn wir dazu in der Lage wären, Angebote auf der Grundlage von Informationen über den jeweiligen Standort von Menschen zu koordinieren. Das würde uns die Möglichkeit eröffnen, vorherzusehen, wo die Leute abzuholen sind, was ein großer Vorteil gegenüber dem gegenwärtigen recht unflexiblen System wäre, in dem es immer wieder vorkommt, dass Züge oder Busse ohne Fahrgäste verkehren. Damit könnten nicht nur Kosten gesenkt werden, es wäre auch ein Beitrag zum Aufbau einer umweltfreundlicheren Infrastruktur. Ich will nicht alle zum Tragen eines elektronischen Armbandes verpflichten, aber ich bin nicht grundsätzlich gegen den Einsatz von Monitoring-Geräten. Vielleicht sollte dieser jedoch auf einzelne Länder beschränkt und nicht global organisiert sein. Alle, die nach Möglichkeiten suchen, wie im 21. Jahrhundert ein Regime jenseits des Neoliberalismus funktionieren kann, das sich zugleich den drängenden ökologischen und technologischen Herausforderungen annimmt, muss sich mit solchen Fragen befassen. Daran führt kein Weg vorbei. Was wir brauchen, ist eine grundsätzliche Auseinandersetzung darüber und einen Plan dafür, wie wir eine allgemeine Informationsinfrastruktur aufbauen können, wie wir sie etwa für das Zusammenleben in den Kommunen benötigen. Es geht um wesentlich mehr als eine Reihe von Diensten, die jedes Unternehmen bereitstellen kann. Die Antwort von Sozialdemokraten darauf wäre: Kein Problem. Wir werden Anreize setzen und Vorgaben machen, sodass sich Privatfirmen dieser Aufgabe annehmen. Ich halte das für wenig erfolgsträchtig. Es ist schwer vorstellbar, wie eine solche Regulierung von Google zum jetzigen Zeitpunkt aussehen würde. Für die Sozialdemokraten ist das klar. Google zu regulieren, heißt für sie vor allem, den Konzern höher zu besteuern. Einverstanden: Sollen sie mehr Steuern bezahlen, aber das ändert nichts an den grundsätzlichen Problemen. Zurzeit fehlt es uns an Macht und Ressourcen, um diese wirklich anzugehen. In Europa gibt es nicht den politischen Willen, die dringend benötigte Alternative zu Google zu entwickeln. Selbstverständlich können sich die Dinge aber ändern. Wer weiß, was passieren wird, wenn nach Syriza in diesem Jahr auch noch Podemos die Wahlen in Spanien gewinnen sollte? Bis dahin bleibt uns nichts anderes übrig, als selbst eine Art Utopie zu entwerfen, Ideen zu skizzieren, wie eine solche nicht-neoliberale, aber technologiefreundliche Welt aussehen könnte. Welche Voraussetzungen bräuchte es für die Umsetzung Ihres hier vorgestellten Big-Data-Konzeptes, das für alle gut wäre? Auf der nationalen Ebene bräuchten wir Regierungen, die uns nicht länger den Neoliberalismus predigen. Zum jetzigen Zeitpunkt müsste eine Regierung aber schon ziemlich mutig sein, um zu sagen: Wir sind zu der Ansicht gelangt, dass diese Dinge nicht weiter von Privatunternehmen kontrolliert werden sollten. Wir bräuchten darüber hinaus Regierungen, die das Risiko eingehen und sagen: Der Datenschutz und der Schutz der Privatsphäre sind uns so wichtig, dass wir es nicht zulassen werden, dass jeder Schritt, den Menschen tun, erfasst und überwacht wird, und wir werden unser Rechtssystem dahingehend stärken, dass alle Anträge auf den Zugriff von Daten eingehend geprüft werden. Aber das ist ein wunder Punkt, weil das Ergebnis, nämlich ganz viele Rechtsvorschriften, wenn man nicht aufpasst, das System blockieren und sich als kontraproduktiv für die Infrastruktur erweisen könnten. Wir müssen uns daher fragen: Wie können wir ein bürgernahes und -freundliches System aufbauen, das eventuell auch Platz für eine Art Wettbewerb zwischen verschiedenen Suchmaschinen lässt? Die Macht der großen Konzerne basiert zurzeit weniger auf den Algorithmen als auf den Datenmassen, die sie kontrollieren. Daher besteht die einzige Möglichkeit, diese Macht einzudämmen, darin, Daten dem Zugriff des Marktes zu entziehen, sodass kein Unternehmen sie mehr als ihr Eigentum behandeln kann. Die Bürger könnten über die gemeinsame Nutzung der Daten für verschiedene gesellschaftliche Zwecke entscheiden. Unternehmen, die diese nutzen wollen, müssten eine Art Lizenzgebühr dafür bezahlen. Außerdem hätten sie keinen Zugriff mehr auf die Gesamtdaten, ihr Zugang bliebe auf bestimmte Teilinformationen beschränkt. Die Herausforderung besteht also darin, ein System zu entwickeln, dessen juristisches und gesellschaftliches Regelwerk dafür sorgt, dass die Datenbestände weiterhin wachsen können, ohne dass sie jedoch in den Konzernsilos von Google oder Facebook landen. Mit einem solchen System würden alle möglichen gesellschaftlichen Experimente denkbar. Mit ausreichend Daten ließe sich etwa endlich über den Horizont des einzelnen Verbrauchers hinaus planen, beispielsweise auf der Ebene von Gemeinschaften, Nachbarschaften und Städten. Nur so kann eine Zentralisierung verhindert werden. Solange wir also nichts an dem juristischen Status von Daten ändern, werden wir nicht sehr weit kommen. Sie meinen also, wir haben die grundlegende Wahl zwischen zwei verschiedenen Big-Data-Welten ‒ die eine unter der Kontrolle von Privatunternehmen wie Google und Facebook, die andere unter der Kontrolle des Staates oder einer öffentlichen Einrichtung? Ich sage nicht, dass das System dem Staat unterstellt sein sollte. Aber um den Status von Daten zu verändern, sind gesetzliche Änderungen notwendig, und die müssen von staatlicher Seite durchgesetzt werden. Ansonsten gilt auf jeden Fall: Je weniger der Staat direkt involviert ist, desto besser. Ich stelle mir keine stasiähnliche Einrichtung vor, die jedermanns Daten aufsaugt. Das linksradikale Konzept der Commons könnte hier eventuell hilfreich sein. Es gibt Mittel und Wege, eine Struktur für die Speicherung, den Besitz und die Nutzung von Daten aufzubauen, die ohne zentralistische Planung und Kontrolle auskommen. Es wäre eine Struktur in Bürgerhand und müsste nicht zwingend unter staatlicher Aufsicht stehen. Ich bin also davon überzeugt, dass es mehr Alternativen gibt. Ein anderer Vorschlag, wie man das Monopol von Google und Facebook aufbrechen könnte, lautet: Die Bürger sollen zu Eigentümern ihrer Daten gemacht werden, ohne den rechtlichen Status von diesen Daten grundlegend zu ändern. Man behandelt also personenbezogene Informationen als eine Ware, die veräußert werden kann. Das ist das Modell von Jaron Lanier.[5] Indem man Daten in eine Gelddruckmaschine für die Bürger verwandelt und uns alle zu Unternehmern macht, treibt man jedoch die Finanzialisierung des Alltagslebens ins Unermessliche. Am Ende entstünde eine Situation, in der die Menschen ganz besessen davon sind, all ihre Gedanken, Gefühle, ihr Wissen und ihre Ideen finanziell auszuschlachten, wissend, dass sich, wenn sie diese nur entsprechend artikulierten, eventuell dafür auch ein Käufer auf dem freien Markt finden lässt. Dies würde zu menschlichen Verwerfungen führen, die noch schlimmer sind als die gegenwärtige neoliberale Subjektivität. Meiner Ansicht nach gibt es daher drei Optionen: Wir belassen alles so, wie es ist, das heißt Google und Facebook frönen weiter ihrer Sammel- und Zentralisierungswut, legitimiert dadurch, dass sie die besten Algorithmen haben und die besten Prognosen erstellen und so weiter. Wir ändern den Status von Daten, damit Bürger Eigentümer ihrer Daten werden und diese verkaufen können. Oder wir geben den Bürgern die Kontrolle über ihre Daten zurück, ohne dass sie diese veräußern können, und bereiten damit den Weg für kollektivere Formen der Lebensplanung. Ich bevorzuge die letztere Option. Sie wenden sich also gegen die Vorstellung, dass sich in der Zukunft unweigerlich die gegenwärtigen Entwicklungen fortsetzen werden: eine immense Konzentration von Rechenleistung und Daten in den Händen von Monopolisten? Die zentralen Frontlinien sind zweifelsohne bereits abgesteckt. Es wird sich zeigen müssen, ob all die vorhandenen Sensoren, Filter, Profile und Algorithmen den Bürgern und dem Gemeinwesen zugute kommen werden und sie sich mit ihrer Hilfe von den Bürokratien und Unternehmen in gewisser Weise emanzipieren können. Sollten sich die gegenwärtigen ökonomischen, sozialen und politischen Trends allerdings fortsetzen, dann ist folgendes Szenario wahrscheinlich: eine zunehmend datengesteuerte Automatisierung, sodass die Armen all ihre Zeit auf die Arbeit verwenden können, während die Reichen diese damit verbringen dürfen, ihre Sinne zu kultivieren, Sprachen zu erlernen, sich mit Kunst zu befassen und zu studieren, so zumindest meine Befürchtung. Wir reden hier aber nicht über die Zukunft der Datensammlung und -verarbeitung an sich, sondern über die Frage, wofür diese genutzt werden können. Einerseits ist abzusehen, dass sich Konzerne wie Google und Facebook immer mehr in unserem Alltagsleben ausbreiten werden. Irgendwann ist dann vielleicht ein Punkt erreicht, an dem es immer schwieriger wird, sich überhaupt noch ein anderes Modell vorzustellen und den Wunsch danach zu artikulieren, weil die ständige Nutzung dieser Technologien und die mit ihr einhergehende Politik auch Einfluss darauf nehmen, wie wir über unser Leben nachdenken. Andererseits ließe sich über eine utopische Zukunft spekulieren, in der Technologie die Rolle spielt, die ihr Murray Bookchin in seinem Aufsatzband Post-Scarcity Anarchism zugewiesen hat: uns dabei zu helfen, ein Leben im Überfluss zu führen.   Eine Langfassung des Artikels erschien zuerst in der New left Review unter dem Titel »Socialize the Data Centres!« und kürzlich auch im Deutschen im Lettre International. Aus dem Englischen von Britta Grell

Anmerkungen

[1] The Net Delusion: How Not to Liberate the World, New York and London 2011. [2] Exploit: Begriff aus dem Bereich Computersicherheit für eine Technik, die technische Fehler oder Schwachstellen eines Programms ausnutzt, um Zugriff auf ein gewünschtes Gerät zu erhalten. [3] »Hacker« bezieht sich hier auf Angehörige einer bestimmten technologieaffinen Subkultur, die Verbindungen zum experimentierfreudigen Do-it-yourself-Milieu aufweist. Dieses Verständnis ist zu unterscheiden von einer eher popkulturellen Verwendung des Begriffes, womit Personen gemeint sind, die sich unerlaubt Zugang zu Computersystemen verschaffen. [4] Im Englischen stack (Stapel), was sowohl eine Datenstruktur in der Informatik als auch den Bestand einer Bibliothek bezeichnet (Anm. d. Übers.). [5] Vgl. zur Position von Lanier den Beitrag von Rob Lucas: Xanadu as Phalanstery, in: New Left Review 86, März/April 2014.