In den späten 1970er Jahren öffnete sich die intellektuelle und politische Führungsriege Chinas in ihrem Denken »der Außenwelt«, wie Deng Xiaoping zu sagen pflegte. Das war mehr als nur ein Slogan – chinesische Delegationen fingen an, die Welt zu bereisen, und intellektuelle Kreise erhielten die Chance, persönlich zu erfahren, was außerhalb Chinas passierte. Für viele von ihnen war dabei eine der erschütterndsten Erfahrungen, wie »rückständig« China in wirtschaftlicher und technologischer Hinsicht gegenüber der kapitalistischen Welt geworden war. Bei der Revolution war es darum gegangen, eine kommunistische Gesellschaft aufzubauen und China vom Imperialismus und Feudalismus zu befreien; doch beim neuen Kapitel der Wirtschaftsreformen war das vorrangige Ziel, der blanken Armut zu entkommen und beim materiellen Wohlstand aufzuholen. Wie wichtig war das Erbe der Kulturrevolution dabei, einen Nährboden für die anschließenden Wirtschaftsreformen in China zu schaffen? Die Kulturrevolution war neben vielen anderen Dingen auch ein Frontalangriff auf bürokratische Strukturen (eine ihrer Losungen –»Bombardiert die Zentrale!« – erinnerte sehr an die 68er-Bewegung im Westen). Das Konzept der hierarchisch organisierten, zentralistischen Planwirtschaft stand unter Beschuss. Zugleich verdammte man die Marktwirtschaft als kapitalistische Einbahnstraße. Als Ergebnis ähnelte die Wirtschaftsordnung in vielerlei Hinsicht einer chaotischen Kommandowirtschaft, die politischen Kampagnen einen großen Stellenwert einräumte, und hatte wenig mit einem geplanten, zentral gesteuerten System gemein. Hua Guofeng, der designierte Nachfolger Maos, versuchte zunächst die Planungsstrukturen wiederzubeleben, und zwar durch einen umfangreichen, sowjetisch inspirierten Industrialisierungsschub, was jedoch grandios scheiterte. Es liegt eine gewisse Ironie der Geschichte darin, dass sich die Kulturrevolution als wegweisend für Reformen herausstellen sollte. Die Kulturrevolution hatte die bestehende Gesellschaftsordnung gewaltsam zertrümmert. Viele derjenigen, die zuvor in Machtpositionen oder intellektuell einflussreich waren, wurden im Zuge von Säuberungsaktionen in ländliche Umerziehungslager geschickt. Auch viele Jugendliche aus den Städten verdonnerte man oft für Jahre dazu, im Bauernstand zu leben. Als diese Menschen in die Städte und in die Machtzentren zurückkehrten, standen sie vor der Frage, wie Chinas Neuaufbau aussehen sollte. Bei ihrer Suche nach Wegen in die Zukunft spielten die oft traumatischen Erfahrungen der Kulturrevolution und die in dieser Zeit geknüpften Netzwerke eine entscheidende Rolle. Aus dem Chaos der Kulturrevolution war in gewisser Weise ein Raum der Kommunikation entstanden, wo die Reformfrage diskutiert werden konnte. Ich bin keine Expertin für die Geschichte Russlands, doch ich denke, man kann sagen, dass in Russland – wo es eine Kontinuität starrer, bürokratischer Strukturen gab – kein solcher Raum entstand, als man sich dort an Reformen versuchte. Können Sie den Übergang von der Wirtschaftspolitik während der Kulturrevolution zur Phase der schrittweisen Wirtschaftsreformen kurz skizzieren? Wie gelang es China, sich dem Markt zu öffnen und dabei eine stark zentralistische Struktur beizubehalten? In den späten 1970er Jahren war China immer noch sehr landwirtschaftlich geprägt; die Volkskommunen waren die Schlüsselinstitutionen der maoistischen politischen Ökonomie. Der erste Schritt hin zu einer Reform des Wirtschaftssystems war die Landwirtschaftsreform. Man fing in den ärmsten Regionen an, wo mit einfachsten Mitteln produzierte wurde und man sich kaum selbst versorgen konnte – denn dort ließ sich experimentieren, ohne dass es sich groß auf das nationale Getreideversorgungssystem auswirkte. Wie ich in meinem Buch zeige, spielte bei der Verbreitung dieser Experimente die sogenannte eine zentrale Rolle. Im Zuge der Reform verlagerte sich die Verantwortung für die Produktion von der Kommune auf die Haushalte, d.h. die Haushalte mussten bestimmte Quoten für den Plan produzieren, konnten darüber hinaus jedoch ihre eigenen Produktionsentscheidungen treffen. Das geschah zunächst nur in den ärmsten Gegenden, doch das Prinzip wurde schließlich auch auf Chinas nationale Getreidekammern ausgeweitet. Die Forschungsgruppe für ländliche Entwicklung ging aus einer Bewegung hervor, die in den späten 1970er Jahren von denjenigen jungen Erwachsenen gegründet worden war, die sich nach Jahren auf dem Land an den Universitäten eingeschrieben und dort zusammenschlossen hatten. Chinas Bauernfrage war ihnen ein persönliches Anliegen und mit den Bedingungen des Landlebens waren sie bestens vertraut. Zugleich standen sie abseits der renommierten Forschungseinrichtungen. Mit Unterstützung von der ersten Generation wie Deng Liquin und Du Runsheng untersuchten sie die landwirtschaftlichen Experimente in den verschiedenen Regionen und erstellten Gutachten zu ihren Ergebnissen. Ihre Berichte waren maßgeblich für die Entwicklung einer neuen Landwirtschaftspolitik, die auf dem basierte und die von der Systemperipherie ausgehend nach und nach ins Zentrum drang zu den nationalen Getreidekammern drang. Diese Entwicklungslogik ist ein Kennzeichen von Chinas Reformen: Man setzt an einer Stelle der politischen Ökonomie an, die für das Funktionieren des Systems als Ganzes nicht wesentlich ist, während man weiterhin die Kontrolle über die entscheidenden Systemelemente behält. Ein weiteres Beispiel dafür ist das zweigleisige Preissystem, das sich in den 1980er Jahren herausbildete, als sich die politische Kontrolle marginaler Produktionszweige allmählich lockerte. Im Zentrum der Planwirtschaft blieben die Befehls- und Ordnungsstrukturen weiter an geplante Preise gekoppelt; an der Systemperipherie hingegen wurde eine an Marktpreis und Nachfrage orientierte Produktion erst toleriert und später sogar offiziell genehmigt. Doch mit der Schaffung dieser Räume entstanden neue institutionelle Gefüge und eine Wirtschaftsdynamik, die das System schließlich auch im Kern veränderten. An diesem Prozess war die Wirtschaftsforschung mit ihren empirischen Datenerhebungen und konzeptuellen Analysen entscheidend beteiligt, denn sie gab die in Randbereichen erfolgreich erprobten Praktiken an Schlüsselinstitutionen weiter. Der experimentbasierte Ansatz konkurrierte in den 1980er Jahren mit der Idee, ein Zielsystem mit dem Markt als zentralem Koordinationsmechanismus zu entwerfen, das schrittweise oder auf einmal umgesetzt werden sollte. Letztendlich setzte sich aber der experimentbasierte Ansatz durch und bestimmt auch heute noch die Entwicklung der chinesischen Wirtschaftspolitik. Kann man von einer Art Dialektik sprechen zwischen dem Lager, das politische Reformen befürwortete, und dem, das sich für Wirtschaftsreformen aussprach? Ohne allzu sehr ins Detail gehen zu wollen, kann man sagen, dass es in China spätestens seit 1979 eine Diskussion darüber gibt, ob politische Reformen eine Voraussetzung für Wirtschaftsreformen sind. Manche waren schon in den 1980er Jahren der Ansicht, dass nur eine Generalüberholung von Chinas politischem System zu einem erfolgreichen Wirtschaftssystem führen könne – ein Argument, das in Ostereuropa letztlich hegemonial wurde. Die große politische Wende ist bekanntlich in China nie eingetreten, aber das Wirtschaftssystem hat sich dennoch grundlegend verändert. Eine der Ursachen für dieses besondere Verhältnis zwischen wirtschaftlicher und politischer Reform könnte die Erfahrung der Kulturrevolution gewesen sein. Damals lautete die Devise: Die Politik übernimmt das Ruder und man versucht, die Wirtschaftsentwicklung auf politischem Wege voranzutreiben. Diejenigen, die sich marktbasierte Reformen erhofften, hatten eine ganz andere Art von politischem Wandel vor Augen als dieses Modell ständiger Revolution, das sich während der Kulturrevolution etabliert hatte. In Teilen als Reaktion auf die Kulturrevolution eine Reformlogik durch, die dem Primat der Wirtschaft und der Wirtschaftsentwicklung verpflichtet war – was nicht wirklich kompatibel war mit der Vorstellung, dass Wirtschaftsreformen ein politischer Wandel vorangehen muss. Ein weiterer wichtiger Grund dafür, dass sich wirtschaftliche gegenüber politischen Reformen durchsetzten, war der unvorhergesehene Erfolg der Landwirtschaftsreform in ihrer Anfangsphase. Außerdem darf man nicht vergessen, dass die Revolutionäre der ersten Generation in den so entscheidenden 1980er Jahren weiterhin an der Macht waren. Aber auch wenn sich die wirtschaftlichen Reformen durchgesetzt haben, muss man sehen, dass mit ihnen auch bedeutende politische Veränderungen einhergingen. In der Landwirtschaft hat das Prinzip der Haushaltsverantwortung letztendlich die Volkskommune als politisches Grundprinzip des Maoismus abgelöst. Auf eine zentral verwaltete Wirtschaft, deren Dreh- und Angelpunkt staatlich und kollektiv geleitete Betriebe waren, folgte ein starker Zuwachs an Privatunternehmen, die schrittweise Privatisierung vieler Staatsunternehmen und die Proletarisierung der ehemaligen Landarbeiterschaft – all das hat tiefe Spuren in der politischen Struktur der chinesischen Gesellschaft hinterlassen. Welchen Hintergrund hatten die Leute, die die Wirtschaftsreformen in den späten 1970er Jahren entwickelt haben? Wie standen Sie zur westlichen geprägten Wirtschaftstheorie? In meinem in Kürze erscheinenden Buch zeichne ich im Detail nach, wie heterogen der Kreis der Intellektuellen war, die Chinas Wirtschaftsreformen gestaltet haben. Aber – und das wird auch am Beispiel der Forschungsgruppe für ländliche Entwicklung und ihrer Mitwirkung an der Landwirtschaftsreform deutlich – diejenigen, die maßgeblich für die Reform des Wirtschaftssystems waren, waren eben keine ›Lehnstuhl-Ökonom*innen‹, die mit irgendeiner großartiger Idee für Chinas künftige politische Ökonomie aufwarteten. Die entscheidende Rolle hatten eher die Ökonom*innen, die experimentelle Reforminitiativen entwarfen, begutachteten und bewerteten, als die Staatsführung Experimentierfelder auf verschiedensten Ebenen ermöglichte, in denen man zumeist Marktmechanismen erprobte. Wichtige Beiträge leisteten dabei vor allem junge Intellektuelle, die nach Jahren auf dem Land an die Universitäten gingen und oft von ihrem guten Draht zu älteren Parteikadern oder Intellektuellen profitieren konnten. Eine Institution, die aus der Landreformbewegung hervorging, war beispielsweise die Forschungsgesellschaft für Reform des Wirtschaftssystems, die vom damaligen Premierminister Zhao Ziyang gegründet und von Chen Yizi und Wang Xiaoqiang geleitet wurde. In gewisser Weise übertrugen sie den Ansatz der Landwirtschaftsreform auf das Feld der Industriereform und städtisch-industrieller Systeme und verfolgten somit einen weitaus induktiveren und empirischeren Ansatz als das osteuropäische Reformparadigma, wie man es von in den Westen emigrierten wie Ota Šik, Włodimierz Brus oder János Kornai kennengelernt hatte. Der Ausgangspunkt für osteuropäische Ökonomen war häufig die theoretische Entwicklung eines Zielmodells, woraufhin man versuchte, ein Reformpaket zu gestalten, um dieses Ziel zu erreichen. Während sich dieser Ansatz auf die Suche nach einem passendem Zielmodell und Reformpaket konzentrierte, entstand der experimentbasierte Ansatz aus den chinesischen Landwirtschaftsreformen heraus. Das Vorgehen bestand darin, die Randgebiete weniger strikt zu kontrollieren, die Auswirkungen zu dokumentieren und schließlich zu untersuchen, wie sich aus den experimentellen Ergebnissen eine systematische Methode ableiten ließ. Diese Methode nutzte man dann für die Reformierung zunehmend wichtigerer Zweige und Institutionen des Systems, ohne jedoch die Stabilität des Gesamtsystems zu gefährden. Ein Paradebeispiel für diesen Ansatz ist das bereits erwähnte zweigleisige Preissystem. Derzeit wird in China darüber gestritten, wer dieses System erfunden hat. Ich denke jedoch, kein einziger hat es wirklich erfunden; ich verstehe es eher als Folgeerscheinung des Freiraums, den man Lokalverwaltungen und den Leitungen von Staatsbetrieben eingeräumt hatte. Die Wirtschaftsforschung sollte untersuchen, welchen Bereichen man einen größeren Freiraum zugestehen konnte, und sie systematisierte diese experimentellen Erkenntnisse so, dass sie in politische Maßnahmen umgemünzt werden konnten. Das zweigleisige Preissystem ist also nicht entstanden, weil man zuerst einen Idealtyp entworfen hätte. In diesem ganzen Prozess gab es außerdem einen stetigen Austausch mit den Revolutionären der ersten Generation. Anders als die Sowjetführung der 1980er Jahre kannte diese Generation den Markt und das kapitalistische System noch aus eigener Erfahrung. Zur Zeit des Bürgerkriegs setzten sie den Markt als Waffe in der wirtschaftlichen Kriegsführung ein und in den späten 1940er und frühen 1950er Jahren als Instrument zur Gestaltung der neuen Wirtschaftsordnung. Genau genommen war die Entstehung der sozialistischen Ökonomie ein Prozess, bei dem man sich vom Markt löste und in Richtung eines Zentralplans entwickelte – und um sich diesem Plan anzunähern, machte man sich Marktmechanismen und -dynamiken zunutze. In den 1980er Jahren setzte China wirtschaftspolitische Praktiken ein, die an die Zeit des revolutionären Kampfs und die Gründungstage der Volkrepublik erinnerten – aber diesmal dienten sie dazu, in den Markt hineinzuwachsen. Denken Sie, die Geschichtsträchtigkeit und das Kulturbewusstsein Chinas hatten einen Anteil am Erfolg der Wirtschaftsreformen? Würden Sie der Idee zustimmen, der Konfuzianismus hätte dabei auch eine Rolle gespielt? Ich denke, der Wirtschaftsreformansatz, der aus dem Zusammenspiel von Experimenten an der Peripherie und empirischer Forschung entstanden ist, stützte sich teils darauf, vorrevolutionäre Praktiken wieder aufleben zu lassen – und dabei waren traditionelle Konzepte und Regierungsinstitutionen nicht ganz unwichtig. In meinem Buch zeichne ich das mit Blick auf Ansätze der staatlichen Marktschaffung und Preisregulierung im Detail nach. Wenn es um die allgemeine Debatte über die Renaissance des Konfuzianismus in China geht, finde ich die Frage entscheidend, warum wir diese Diskussion gerade jetzt führen. Ich denke, dafür gibt es tiefreichende Gründe, denn die zwei Jahrhunderte wirtschaftlicher, politischer und kultureller Vorherrschaft des Westens, die mit der industriellen Revolution anfingen, neigen sich ihrem Ende zu. Anzeichen dafür können wir in sehr vielen Lebensbereichen beobachten. Das hat zu einem neuen Selbstbewusstsein Chinas geführt, sodass man sich nicht mehr als unterdrücktes oder rückständiges Land sieht. Damit stellt sich die Frage, was China ausmacht, woher das Land kommt und wie man sein Verhältnis zum Westen verstehen soll. Aus diesem gewichtigen historischen Moment speist sich wahrscheinlich auch die Debatte über die Rolle des Konfuzianismus. Sie wird politisch oft für Propagandazwecke instrumentalisiert, doch in intellektuellen und akademischen Kreisen besteht auch ein aufrichtiges Interesse daran, sich mit Chinas konfuzianischem Erbe auseinanderzusetzen. Eine ganz andere Frage ist wiederum, ob Chinas Geschichte – sagen wir mal des 20. Jahrhunderts –, ein Ergebnis seiner konfuzianischen Tradition ist. Darüber wird heftig diskutiert, und ich persönlich fände es töricht, wenn wir nicht anerkennen, dass etwa Staatswesen, Bürokratie, Philosophie und sogar Mathematik, enzyklopädisches Wissen eine jahrtausendealte Tradition in China haben. Genauso absurd wäre es allerdings, das 20. Jahrhundert nur als Fortführung dieser Tradition zu begreifen. Können Sie ein Beispiel dafür nennen, wie zwischen westlichen Wirtschaftskonzepten und dem chinesischen Sozialismus eine Brücke geschlagen wurde? Wie kam man auf die Idee eines Mittelwegs zwischen Sozialismus und schrittweiser Marktöffnung? Wie übertrug sich diese Vorstellung auf konkrete politische Maßnahmen? Ich denke, hier geht es eigentlich um zwei Fragen. Erstens: Warum gewann die westliche Wirtschaftslehre in den späten 1970er Jahren für China an Bedeutung und wie integrierte man sie in den Reformdiskurs? Man hätte sich in China ja auch sagen können, warum sollen wir uns mit kapitalistischem, bürgerlichem Wirtschaftsdenken herumschlagen? Ein entscheidender Gedanke dabei war, dass China Lehren aus der kapitalistischen Wirtschaftsentwicklung ziehen könnte. Diese Vorstellung beruht auf dem orthodox-marxistischen Modell einer in Stadien verlaufenden Wirtschaftsentwicklung. Wenn China das Stadium kapitalistischer Entwicklung übersprungen hat – wenn es also von einer feudalen Gesellschaftsordnung, die dem Einfluss ausländischer Imperialmächte unterlag, direkt zum Sozialismus übergangen ist –, dann bedeutet das, China könne von kapitalistischem Management lernen und daraus Lehren ziehen, um zukunftsfähig zu werden. Diese Vorstellung ist zwar in vielerlei Hinsicht problematisch, aber sie hat den damaligen Reformdiskurs ohne Zweifel geprägt. Infolgedessen hat man in China angefangen, alle möglichen ausländischen Wirtschaftstheorien unter die Lupe zu nehmen, angefangen bei Milton Friedman bis hin zum westlichen Marxismus. Bei der zweiten Frage geht es darum, auf welche Weise die westliche Wirtschaftslehre in China umgesetzt wurde. Es gab zum Beispiel eine Gruppe von Ökonomen, die von den (bereits genannten) osteuropäischen Emigranten beeinflusst war, die die Weltbank nach China eingeladen hatte. Die chinesischen Ökonomen, die sich sehr an dieser Schule orientierten, waren vom Wunsch getrieben, ein marktwirtschaftliches Zielmodell zu entwickeln. Sie stellten sich beispielsweise folgende Frage: Wie können wir ein Preisgleichgewicht herstellen, sodass – wenn wir erstmal Gleichgewichtspreise ermittelt haben – der Markt dann den Rest erledigt, um es vereinfacht auszudrücken. Dieser Ansatz hat die neoklassische ökonomische Theorie aus dem Westen auf sehr unkritische und in gewissem Sinne sogar naive Art und Weise aufgegriffen. Andererseits gab es wie gesagt aber auch ein Lager von Ökonom*innen, die die Wirtschaftsreformen dadurch vorantreiben wollte, dass sie Experimente entwarfen, begutachteten und auswerteten. Diese Gruppe war ebenfalls sehr an allen möglichen ökonomischen und sozialwissenschaftlichen Forschungsansätzen aus dem Westen interessiert. Allerdings begriff man diese Ansätze nicht als feststehendes Paradigma, aus dem sich ein Zielmodell ableiten lässt, sondern vielmehr als Instrument, um konkrete Probleme zu verstehen und bestimmte Schwierigkeiten bei den Reformen zu lösen. Diese beiden Gruppen lieferten sich in den 1980er Jahren einen erbitterten Streit, bei dem es primär nicht darum ging, ob Chinas Wirtschaft reformiert werden soll, sondern wie. Das erste Lager schlug ein Reformpaket vor, das starke Ähnlichkeit mit einer Schocktherapie aufwies wie sie später in Russland und Osteuropa umgesetzt wurde. Das andere Lager war strikt gegen diese Art von Hauruck-Reform und argumentierte, ein solches Vorgehen wäre riskant und würde die erfolgreiche Durchführung der Reformen gefährden. Die 1980er Jahre liegen natürlich relativ weit zurück, aber ich denke, diese Diskussion ist auch heute noch relevant. Die Idee, Chinas Reformprozess wäre unvollendet, suggeriert natürlich: unvollendet in Hinblick auf ein bestimmtes Ziel – und unter dem zu erreichenden Idealmodell wird dann oft der westliche Kapitalismus verstanden. Wenn man sich Reformen dagegen als dynamischen, offenen und kontinuierlichen Prozess vorstellt, wird klar, dass dieser zwar nie abgeschlossen werden kann, aber keineswegs richtungslos ist. Wenn man sich den Finanzsektor ansieht, ist dieser Reformstreit nach wie vor aktuell. Gleiches gilt für das Thema der staatlichen Unternehmen, wenn es darum geht, ob man diese Unternehmen wie kapitalistische, börsengelistete Privatunternehmen gestaltet oder ob man einen gänzlich neuen Unternehmenstypus schafft, der zwar Elemente eines kapitalistischen, börsengelisteten, multinationalen Privatunternehmens aufweist, sich aber experimentell in Richtung einer neuen Organisationsform entwickelt. Würden Sie sagen, die Verbindung von neoliberaler Programmatik und chinesischem Sozialismus hat sich als Erfolg erwiesen? Wenn ja, inwiefern und weshalb? Wie ich eben angedeutet habe: Die Debatte um neoliberale Reformen ist noch nicht vorbei. Ein wichtiger Aspekt des aktuellen Handelskriegs ist es, China zur Öffnung wirtschaftlicher Teilbereiche zu zwingen, die für das Ausland bisher unzugänglich sind. Die auf den eindeutig neoliberalen Standards von WTO und EU aufgeworfene Infragestellung Chinas Status als Marktwirtschaft, macht deutlich, dass dessen Wirtschaftspolitik eben noch nicht komplett neoliberalisiert ist. Somit stellt es eine Herausforderung für das vorherrschende neoliberale System der Global Governance dar. Ob man das Land als sozialistische Systemalternative sehen kann, ist wiederum eine völlig andere Frage. Ich finde es bemerkenswert, dass der Begriff des Sozialismus zwar gerade eine Art Revival erlebt, aber man sich nicht darüber einig ist, was Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeutet – und leider bietet das derzeitige chinesische System darauf auch keine Antwort. Zugleich muss man sagen, dass es China gelungen ist, ein vom Washington-Konsens abweichendes Institutionengefüge aufzubauen, das klar überlegen ist, was das Wirtschaftswachstum angeht. Der Vergleich mit Russland ist hier sehr aufschlussreich. Russland hat sich das neoliberale Programm als Schocktherapie verabreicht. Laut Pikettys Datensatz verfügten die unteren 99 Prozent der russischen Bevölkerung im Jahr 2015 über ein niedrigeres Pro-Kopf-Realeinkommen in US-Dollar als noch im Jahr 1990. Im Vergleich dazu hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der unteren 99 Prozent der chinesischen Bevölkerung im selben Zeitraum vervierfacht. Wie ich in meinem Beitrag zum SAGE Handbook of Neoliberalism argumentiere, hat sich China voll und ganz auf das Prinzip des Marktwettbewerbs und alle damit einhergehenden sozialen Probleme eingelassen, darunter auch eine sehr ausgeprägte Ungleichheit – aber die Neoliberalisierung in Reinform, die als Schocktherapie verabreicht wird, hat man vermieden. Diese Tatsache war nicht zuletzt auch entscheidend für die nie zuvor dagewesenen Wachstumssprünge, die wir in den letzten Jahrzehnten beobachten konnten. Das Interview führte Raffaele Danna. Es erschien zuerst bei Pandora rivista. Aus dem Englischen von Utku Mogultay