Der syrische Bürgerkrieg mit seinen verschiedenen Akteuren, deren Handeln ganz unterschiedlichen Drehbüchern folgt, war stets teuflisch komplex, auch wenn es in den letzten Monaten ruhiger zu werden schien. Die Regierung in Damaskus kontrolliert mittlerweile 60 Prozent des Landes und die am meisten bevölkerten Zentren. Der Islamische Staat wurde weitgehend in die Flucht geschlagen, und die Rebellen, die sich Präsident Basar al-Assad widersetzen, sind fast gänzlich in die Provinz Idlib im Nordwesten des Landes abgedrängt. Doch plötzlich verschoben die US-Amerikaner die Linien; Russen und Israelis haben sich – womöglich – entzweit; die Iraner bestehen auf ihrem Standpunkt, und die Türkei versucht sich im multi-tasking gegenüber einer ungeordneten Front im Inneren.

Dieser Krieg, der seit mehr als sieben Jahren andauert, forderte an die 500 000 Leben, vertrieb Millionen Menschen, destabilisierte den ohnehin fragilen Nahen Osten – und er ist noch lange nicht vorbei. Im syrischen Krieg gibt es mindestens drei Bühnen, von denen jede auf eigene Weise komplex ist: Idlib im Norden, das Territorium östlich des Euphrat sowie die an die südlichen Golanhöhen angrenzende Region. Nur die vielen verschiedenen, untereinander verfeindeten Kräfte aufzuzählen, erschreckt: Im Osten sind die Türkei, der Iran, die USA und die Kurden die Schlüsselakteure. In der nördlichen Region befinden sich Russland, die Türkei, die Kurden und Assad in einem vorübergehenden Patt. Und Iran, Assad und Israel stehen wiederum in einem Konflikt nahe des Golan – ein Konflikt, in den auch Moskau plötzlich hineingezogen wurde.

Idlib

Assads Ziel ist scheinbar simpel: das Land unter der Herrschaft von Damaskus wieder vereinen und damit beginnen, Syriens zertrümmerte Städte wieder aufzubauen. Die größte Hürde vor diesem Ziel ist Idlib, wo es die letzte größere Zusammenballung von Anti-Assad-Gruppen gibt, mit Al-Qaida verbundene Dschihadisten und dazu eine bescheidene türkische Besatzungsmacht, die sogenannte "Operation Olivenzweig". Die an den südlichen Grenzen der Türkei gelegene Provinz ist bergig und die Rückeroberung verspricht schwierig zu werden. Für den Moment hat Russland einen Deal mit der Türkei abgeschlossen, um die Gegend um die Stadt Idlib zu demilitarisieren, die dschihadistischen Gruppen zu neutralisieren und die Hauptstraßen zu öffnen. Dieses Abkommen schließt einen gemeinsam mit Assad verfolgten russischen Angriff auf Idlib aus, der die Flucht Hunderttausender in die Türkei und sehr wahrscheinlich hohe zivile Verluste bedeuten würde. Doch gilt dieses Abkommen nur kurz, da Russland mit Ungeduld darauf wartet, die Kampfhandlungen zu beenden und mit dem Wiederaufbau zu beginnen. Indes ist nicht abzusehen, wie die Türkei mit der verwirrenden Menge an Gruppen, die in der Region zusammengepfercht sind, und von denen sie einige über Jahre hinweg aktiv unterstützt haben, zu Rande kommen wird. Ankara könnte mehr Soldaten entsenden, doch ist die Türkei gleichzeitig mit Truppen östlich des Euphrat präsent und taumelt derzeit am Rande einer verheerenden Wirtschaftskrise. Noch mehr Gelder in einen ungewissen Krieg zu investieren, mag auch in der türkischen Öffentlichkeit nicht gut ankommen. Diese muss bereits erleben, wie die Inflation ihre Löhne und Renten auffrisst — die türkische Lira fiel im letzten Jahr um fast 40 Prozent. 2019 wird es in der Türkei Kommunalwahlen geben, und die Macht von Präsident Recep Tayyip Erdoğan und seiner „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ beruht auf einer Verbesserung der wirtschaftlichen Bedingungen.

Der Osten

Im Osten Syriens stoßen türkische Truppen – Teil der Operation „Schutzschild Euphrat“ — gegen die US-Truppen und die kurdisch dominierten Demokratischen Kräfte Syriens vor, die den Islamischen Staat (IS) bekämpfen. Erdoğans Sorge gilt weit weniger letzterem als vielmehr den syrischen Kurden und dem Effekt, den diese auf die kurdische Bevölkerung der Türkei haben könnten. In dieser Hinsicht ist Ankaras Bündnispartner der Iran, der seinerseits nicht allzu besorgt hinsichtlich der Kurden ist – umso mehr jedoch, was die Präsenz der etwa 2 200 US-Soldat*innen angeht. „Wir müssen die Schwierigkeiten östlich des Euphrats beseitigen und Amerika vertreiben“, sagte der iranische Präsident Hassan Rohani Anfang September. Dieses Ziel ist doch sehr komplex. Die Spezialkräfte der USA waren ursprünglich damit beauftragt, kurdischen und arabischen Kräften dabei zu helfen, den IS zu vertreiben. Präsident Donald Trump verkündete während eines Treffens im März: „Wir werden Syrien bald verlassen.“ Doch seine Politik scheint schon wieder eine andere Richtung einzuschlagen. Der nationale Sicherheitsberater John Bolton verlautet, die US-Truppen würden so lange in Syrien bleiben, bis der Iran das Land verlasse. Da dies jedoch kaum wahrscheinlich ist, erscheint das Engagement der USA in Syrien auf einmal als eines mit offenem Ende. Boltons Verlautbarung erregte einigen Widerspruch im US-Kongress, Trumps Positionierung steht noch aus. 

Die Kurd*innen sind zwischen all den ausländischen Interessen gefangen. Die USA lassen nicht erkennen, dass sie sie gegenüber der Türkei schützen werden, und das Assad-Regime übt Druck aus, um die Region unter die eigene Kontrolle zu bringen. Gleichwohl hat die syrische Regierung den Kurden die Offerte zu Gesprächen über mehr regionale Autonomie gemacht, und es wird darüber geargwöhnt, ob die Kurd*innen sich darum bemühen werden, einen Deal zum Schutz vor Ankara zu erreichen. Auch die russische Seite drängt auf eine Entspannung zwischen Assad und den Kurd*innen. Möglicherweise will die Türkei in Ostsyrien bleiben, aber es ist schwer vorstellbar, wie Ankara dies gelingen sollte, insbesondere dann, wenn die Aktivität der türkischen Truppen sich zwischen Idlib und der Operation „Schutzschild Euphrat“ im Osten ausdehnt. Erdoğan hatte die Widerstandskraft des Assad-Regimes unterschätzt und war überdies in gefährlicher Weise übers Ziel hinausgeschossen, als er im Jahr 2015 glaubte, mit dem Abschuss eines russischen Kampfflugzeugs die NATO zu seiner Rettung rufen und Moskau einschüchtern zu können. Stattdessen kontrolliert nun die russische Seite den Luftraum über Idlib, und die Türkei findet sich in einer von der NATO entfremdeten Situation wieder. Russland ging in Syrien mit relativer Umsicht vor. Die Hauptanliegen sind, den eigenen Marinestützpunkt in Latakia zu erhalten, Al-Quaida und den IS zurückzuschlagen sowie dem langjährigen Verbündeten Assad beizuspringen. Anstatt direkt auf Erdoğans Provokation von 2015 zu antworten, brachte Moskau sein gefährliches Flugabwehrsystem S-400 ins Land und verstärkte seine Präsenz auf See mit moderneren Radarsystemen. Die Botschaft war unmißverständlich: Versucht das nie wieder.

Israels Patt mit dem Iran

Russland wendete die Attacke auf Idlib ab und versuchte, die Israelis und den Iran davon abzuhalten, in eine Konfrontation um die Golanhöhen zu geraten. Moskau schlug vor, den Iran und seine Bündnispartner mindestens 60 Meilen von der israelischen Grenze entfernt zu halten, doch Israel verlangt, der Iran solle sich gänzlich aus Syrien zurückziehen, was nun auch die USA sich zu eigen machten. Das Assad-Regime will Teheran im Land halten, gleichzeitig aber auch eine große Schießerei zwischen Iran und Israel, mit Damaskus in der Mitte, verhindern. Trotz hunderter israelischer Attacken in Syrien gab es keinen einzigen Gegenangriff durch die syrische oder iranische Seite, was den Schluss zuließ, Assad habe sich auf einen Verzicht auf eine gewaltförmige Reaktion festgelegt. All dies endete am 17. September, als israelische Flugzeuge offenbar ein russisches Aufklärungsflugzeug des Typs Ilyushin-M20 benutzten, um einen Angriff auf Damaskus zu verdecken. Die syrische Flugabwehr antwortete mit dem Abschuss des russischen Flugzeugs und der Tötung aller an Bord befindlichen Personen. Russland beschuldigte die Israelis, und einige Tage später verkündete der russische Präsident Wladimir Putin, dass Moskau sein Flugabwehrsystem S-300 nach Syrien entsenden und eine Reihe Verbesserungen in Damaskus‘ Radarnetzwerk vornehmen werde. Derzeit nutzen die syrischen Truppen noch das System S-200 aus den 1960er Jahren. Die Aufrüstung mit diesem Radarsystem wird die israelische Luftwaffe nicht wirklich abschrecken — das S-300-System ist überholt, und die Israelis verfügen wahrscheinlich über die elektronische Ausrüstung, um es zu bezwingen —, dennoch ist der Luftraum über Syrien nun nicht mehr unumstritten. Und sollte sich Tel Aviv dafür entscheiden, in das syrische Radarnetz einzubrechen, steht die russische Seite mit ihrem S-400-System startbereit.

Der Schimmer einer Lösung

Wie sich all dies auswirkt, ist derzeit noch unklar, doch schimmern auch Ansätze einer möglichen Lösung auf. Die Türkei wird sich schlussendlich aus Syrien zurückziehen müssen, wahrscheinlich jedoch einige Konzessionen hinsichtlich der Frage erreichen, wie viel Autonomie die Kurd*innen Syriens bekommen. Für die Kurd*innen ihrerseits ist ein Abkommen mit Assad vorstellbar, weil das Regime Frieden braucht. Der Iran will seinen Einfluss in Syrien und ebenso eine Verbindung zur Hisbollah im Libanon behalten, gleichzeitig jedoch keinen ernstlichen Streit mit Israel riskieren. Während des Istanbul-Gipfels zu Syrien im Oktober 2018 führten Russland, Frankreich, die Türkei und Deutschland Gespräche über eine politische Lösung und den Wiederaufbau nach dem Krieg. Israel wird sich letztlich mit dem Iran als einem Hauptakteur im Nahen Osten abfinden müssen und anerkennen, dass die großartige „geeinte Front“ gegen Teheran, bestehend aus Washington, Tel Aviv und den Golfmonarchien eher einer Illusion gleichkommt. Die Saudis stecken in ernsten ökonomischen Schwierigkeiten, die Länder des Golf-Kooperationsrats sind gespalten, und Israel und die USA sind in ihrer Feindschaft gegenüber Teheran mehr und mehr isoliert.  

Der Beitrag erschien im Englischen auf Foreign Policy in Focus. Übersetzt von Corinna Trogisch