Die soziale Frage ist zurück – die Migrationsbewegungen der letzten Jahre haben sie als Frage globaler Gerechtigkeit auf die politische Tagesordnung gesetzt. Die dramatische Ungleichverteilung des gesellschaftlichen Reichtums samt der ihr zugrunde liegenden imperialen Produktions- und Lebensweise bilden eine zentrale Ursache weltweiter Migration. Selbst Angela Merkel bemerkte 2015, die Globalisierung, die viele in Deutschland vor allem als Exportweltmeister kannten, kehre in Gestalt der Flüchtenden zurück. Sie verwies damit auf die Frage, was ›unser‹ Lebensstil mit Kriegen, autoritären Regimen, Hungersnöten, Klimawandel und ökonomischer Perspektivlosigkeit von Millionen Menschen zu tun habe. Doch klingt es oft nach bloßer Rhetorik und falscher Moral, wenn es von links heißt, ›wir‹ lebten auf Kosten ›anderer‹. Angesichts des Leids in großen Teilen der Welt verblassen die Ungerechtigkeiten, die sich auch hierzulande für viele Menschen zu Ausbeutung, Marginalisierung und Demütigung zusammenballen. Der Zusammenhang gesellschaftlicher Verhältnisse, die das Elend hier wie dort erzeugen, gerät aus dem Blick. Wie aber kann ein politisches Projekt, das im reichen Zentrum des Kapitalismus gesellschaftliche Mehrheiten für Veränderung organisieren will, auch diese Menschen ansprechen?

Gerechtigkeit von rechts und links

Derzeit ist es auch die Rechte, die die Gerechtigkeitsfrage stellt. Die Herausforderungen einer globalisierten Welt und der Einwanderungsgesellschaft, die in Deutschland längst Realität ist, deutet sie als Konkurrenz- und Verteilungskonflikt zwischen denen, die schon hier sind, und jenen, die tatsächlich oder imaginiert hinzukommen. Die Alltagssorgen der Menschen – sich auf nichts verlassen, das eigene Leben nicht planen zu können, Druck in den Betrieben und die Angst davor abzusteigen, der Mangel an tragfähigen Infrastrukturen und die Sorge, aus der Erschöpfung nicht mehr raus und politisch kaum mehr vorzukommen – werden im rechten Diskurs aufgegriffen und der vermeintlich sorglosen Situation von Geflüchteten gegenübergestellt. Der Wunsch nach Gerechtigkeit wird in Wut und Hass gegen eine offene und plurale Gesellschaft verkehrt. Sicherheit und Fairness, so die Argumentation, seien nur im Rahmen eines homogenen deutschen Nationalstaates möglich, der sich gegen die Zumutungen der Welt abschotte. Die Rechte inszeniert die soziale Frage als Kulturkampf und damit als Angriff auf eine Gesellschaft der vielen, letztlich auf die Lebensmöglichkeiten aller.

Wie aber sehen linke Antworten in dieser Konstellation aus? Die Debatte ist gespalten:

Teile der Linken nehmen die Erfolge der Rechten zum Anlass, diejenigen (wieder) stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken, die von der rechten Erzählung tatsächlich oder vermeintlich angesprochen werden – zuweilen mit ›Zugeständnissen‹ an deren rassistische und national-soziale Argumentation. Der Preis dafür ist, dass das Argument, ein gesellschaftlich relevanter Konflikt verlaufe zwischen den ›Abgehängten‹ auf der einen und den Geflüchteten auf der anderen Seite, zumindest implizit reproduziert wird.

Andere stellen in dieser Konstellation zu Recht den Kampf gegen Rassismus ins Zentrum. Zuweilen allerdings in einer scharfen Abgrenzung gegenüber Positionen, die auch diejenigen für ein linkes Projekt gewinnen wollen, die sich zur rechten Mobilisierung uneindeutig verhalten. Notfalls gelte es, Spaltungen im linken Feld hinzunehmen, ein emanzipatorisches Projekt zunächst nur mit dem »dissidenten Drittel« (Seibert) zu verfolgen, mit jenen, die schon fest für solidarische Praxen, für eine offene und plurale Gesellschaft einstehen. Oder, wie Jan Ole Arps in der ak formuliert: »Warum als Linke nicht einfach auf die konzentrieren, die von der Rechten bedroht sind, statt auf die, die ihr rattenfängermäßig nachlaufen, auch wenn sie nicht überzeugte Rassisten werden wollen?«

Klassenverhältnisse und Kämpfe um Emanzipation

Oder ist die Frage falsch gestellt? Suggeriert sie doch, dass Rassismus und soziale Marginalisierung unabhängig voneinander zu bearbeiten wären. Doch rassistische und Klassenverhältnisse sind eng miteinander verwoben. Es ist genau die Trennung von Emanzipations- und Lebensweise-Fragen auf der einen und jenen nach sozialer Gerechtigkeit auf der anderen Seite, die dazu beigetragen hat, dass die Rechte ein so leichtes Spiel hat. Denn es stimmt: Teile der Linken leben in akademisch geprägten Subkulturen, während andere antirassistische, queere oder feministische Praxen nicht als echte soziale Kämpfe anerkennen, was diese Spaltung befördert. Die Emanzipationskämpfe der ›neuen Linken‹, der Frauen- und Umweltbewegung, die Kämpfe um eine Pluralisierung von Lebensweisen, sei es von LGBTIs oder von Migrant*innen – sie haben sich auf das Feld von Anerkennungspolitiken drängen lassen und häufig versäumt, ihre Themen auch als Fragen sozialer Gerechtigkeit aufzuwerfen. Sie sind weithin zu Mittelschichtprojekten geworden, vom Alltag eines großen Teils der arbeitenden Klasse getrennt, als gäbe es nicht auch hier Schwule und Lesben, ökologisch angemessene Lebensformen, als seien nicht auch sie von Rassismus betroffen. Tatsächlich errungene Emanzipations- und Freiheitsgewinne ließen sich auch deshalb so unkompliziert ins neoliberale Projekt integrieren. Auch deshalb scheint es so plausibel, eine Rebellion gegen den Status quo als Kampf gegen die ›versifften 68er‹ und ihre vermeintliche politische Korrektheit zu führen.

Für den Feminismus heißt das, dass Arbeitsmarktintegration und Quote faktisch zu Forderungen für Hochqualifizierte wurden – während Frauen aus den geringer qualifizierten Teilen der Arbeiterklasse entweder immer schon gearbeitet haben oder durch Druck auf den Familienlohn dazu gezwungen wurden. Häufig in Zuarbeit, Teilzeit und schlecht bezahlt, sprangen dabei weder finanzielle Unabhängigkeit in patriarchalen Verhältnissen noch Selbstverwirklichung in guten Jobs heraus. Auf die Familienform haben diese Verschiebungen enormen Druck ausgeübt und bestehende Männlichkeitsbilder erschüttert, ohne neue Angebote machen zu können. Diese Krise der Familie- und Geschlechterarrangements und die Frustration, von den Gleichstellungspolitiken nicht profitiert zu haben, trägt dazu bei, dass die Rechte sie als Teil des Elitesystems diskreditieren kann.

Die Frauenbewegung ist zu einer Bewegung für Gutverdienende und Hochqualifizierte geworden. Ähnlich steht es um die ›Migrantisierung‹ der Gesellschaft. Die Globalisierung und Transnationalisierung von Kultur- und Lebensweisen wurde von den linksliberalen Milieus der Post-68er als Lebensform und arriviertes Selbstverständnis gepflegt. Während einige von Vielfalt, Transkulturalität und Bewegungsfreiheit profitieren konnten, stecken andere kulturell und ökonomisch in schrumpfenden Regionen und Peripherien fest. Da sich Linke insgesamt aus sozialen Kämpfen zurückgezogen haben, waren sie auch in Arbeitskämpfe migrantischer Lohnabhängiger kaum involviert, haben sich um Geflüchtete ›gekümmert‹, aber Migrant*innen selten als selbstverständliche Subjekte in linken Auseinandersetzungen wahrgenommen. Auch wenn es Ausnahmen gibt: Die Prominenz der Mietergemeinschaft Kotti & Co zeigt, wie ungewöhnlich solche Praxen in den letzten Jahrzehnten waren: etwa das gemeinsame Ringen um bezahlbare Mieten und Recht auf Stadt in sozial wie herkunftsmäßig heterogenen Gruppen. Die selektive Integration und Entpolitisierung von Kämpfen um Anerkennung und das Ignorieren von Klassenverhältnissen darin ging letztlich auf Kosten der allermeisten: der autochtonen Arbeiterklasse wie der Migrant*innen, die zum übergroßen Teil ebendieser Arbeiterklasse angehören.

Nach Jahren der Trennung besteht ein Mangel an theoretischen und praktischen Erfahrungen, Kämpfe um Emanzipation und Anerkennung als soziale Kämpfe zu führen. Das trägt dazu bei, dass auch in der Frage, warum die Rechte derzeit so erfolgreich ist, die Analyse häufig zu kurz springt und kulturelle Momente gegen ökonomische ausgespielt werden. Es stimmt, dass nicht die Ärmsten überwiegend rechts wählen, 45 Prozent der Einkommensarmen gehen gar nicht wählen. Aber die Erfolge der Rechten nicht in Verbindung zu bringen mit der systematischen Entsicherung von Arbeits- und Lebensverhältnissen, mit Überausbeutung, der wachsenden Kluft zwischen Superreichen und der Bevölkerungsmehrheit, mit systematischer politischer Marginalisierung, Demobilisierung und Aushöhlung der Demokratie – das wäre fahrlässig. Umgekehrt gilt: Die Prekarisierungserfahrung ernst zu nehmen, kann nicht bedeuten, die ›kulturellen‹ Momente des Rechtspopulismus zu ignorieren. Affekte wie Fremdenfeindlichkeit, Angst vor und Hass auf Differenz spielen eine Rolle. Étienne Balibar und andere haben argumentiert, dass die Kulturalisierung sozialer Differenz zum Standardrepertoire des gegenwärtigen Rassismus gehört und die Produktion von kultureller Fremdheit es erst ermöglicht, Teile der Subalternen in ein zunehmend autoritäres Staatsprojekt zu integrieren.

Marxistische Kulturtheorie weist auf diesen Zusammenhang nicht erst seit gestern hin: »Rassismus ist auch eines der Medien, durch die die weißen Fraktionen der Klasse ihre Beziehungen zu anderen Fraktionen und damit zum Kapital selbst ›leben‹«, schreibt Stuart Hall. »Der ideologische Klassenkampf ist gerade dort am wirkungsvollsten, wo er die internen Widersprüche der Klassenerfahrung [Spaltung und Konkurrenz] mit dem Rassismus artikuliert und so die beherrschten Klassen für das Kapital nutzbar macht« (Hall 1994, 133). Die wachsende Unzufriedenheit konformistisch zu organisieren und entlang von rassistischen, antifeministischen und Homogenitätsideen ein neues, autoritär-neoliberales Herrschaftsprojekt durchzusetzen – das ist es, was der Rechtspopulismus derzeit erfolgreich versucht.

Gegen diese Spaltungen der Subalternen muss die Linke antreten. Sie muss die Fragen nach Emanzipation ins Zentrum sozialer Kämpfe stellen und als Klassenfragen formulieren, und sie muss umgekehrt Fragen sozialer Gerechtigkeit zum Kernthema von Lebensweise-Kämpfen machen. Nur eine antirassistische Klassenpolitik und das Eintreten für eine solidarische Einwanderungsgesellschaft mit sozialen Leitplanken für alle kann eine attraktive Alternative zu den Versprechen der Rechten ausmachen.

Antirassistische Klassenpolitik

Wie aber kann solch ein inklusiver Antirassismus aussehen, wie eine intersektionale und internationalistische Klassenpolitik? LuXemburg 1/2017 lotet das Terrain aus und fragt nach Ansätzen für verbindende Perspektiven und solidarische Praxen in diesem Feld.

Eine glaubwürdige Linke kann ihre Politiken nicht auf einen nationalstaatlichen Rahmen beschränken. Angesichts von transnationaler Produktion, Handel und Kommunikation kann eine Perspektive nur darin bestehen, diese Globalität ›aufzuheben‹. Dazu müssen weltweite Ungleichheitsverhältnisse ins Visier genommen und als transnationale Klassenverhältnisse angegangen werden – jenseits von passivierender Moralökonomie und Verzichtsdiskursen (vgl. Adamczak in diesem Heft). Viele Kämpfe drehen sich derzeit um das Recht auf globale Bewegungsfreiheit. Hier gilt es anzuknüpfen und gleichzeitig den von rechts geschürten Ängsten vor «haltlosem Fluten« diskursiv und mit materiellen Politiken entgegenzuwirken. Eine offensive Debatte um ein sozialistisches Einwanderungsgesetz bietet einen Anknüpfungspunkt (vgl. Kreck/ Schindler in diesem Heft). Aber: Nicht alle Menschen wollen nach Europa – was für eine überspannte, ebenfalls von rechts genährte Vorstellung. Diejenigen, die ihre Zukunft selbst gestalten wollen, jenseits von ökonomischer und politischer Gewalt, die ihre Hoffnungen und Träume leben wollen – egal wo –, müssen Teil eines linken Projekts sein. Zu Recht rückt Trésor (in diesem Heft) die Notwendigkeit des Rechts zu gehen und zu bleiben ins Zentrum auch hiesiger Auseinandersetzungen. Hier könnte die Linke einfach ›mittun‹ – sich in bestehende Praxen einbringen.

Aber nicht nur mit Blick auf transnationale Fragen gilt es, die »Kämpfe der Migration« (vgl. Kron in diesem Heft) stärker ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. Gerade auf lokaler Ebene gibt es viel mehr an gelingender Konvivalität, an solidarischem Zusammenleben, als auch in linke Debatten aufgenommen wird. Kotti & Ko steht für eine Praxis sozialer Kämpfe, die nicht nur von und mit der lokalen Bevölkerung geführt wird, sondern auch im kooperativen Miteinander zwischen Bio-Deutschen und türkischer/kurdischer Community (vgl. Hamann auf LuX-Online). An Bedeutung gewonnen hat in den letzten Jahren auch die Bewegung der Sanctuary Cities und Fluchtstädte (vgl. Heuser in diesem Heft). Am erfolgreichsten ist sie in New York City: Dem Projekt einer New-York-ID ist es gelungen, über die Anliegen nicht dokumentierter Migrant*innen hinaus – denen sie zuvorderst dienen sollte –, ein klassenübergreifendes und intersektionales Bündnis zu schließen. Queers beantragen das Dokument, weil niemand gezwungen wird, ein Geschlecht anzugeben, Mittelschichtseltern, weil sie lokale Freizeit- und Kulturangebote günstig nutzen, Obdachlose mit oder ohne Staatsbürgerschaft, weil sie als Wohnsitz die Adresse einer NGO eintragen können und damit vor den Schikanen der Polizei geschützt sind (vgl. Lebuhn auf LuX-Online). Solche Politiken, die lokal verschiedene Interessengruppen zusammenbringen, Mitte-unten-Bündnisse, über die imaginäre Grenze von Einheimischen/Ausländer*innen hinweg, gilt es zu entwickeln. Kommunale Akteure versuchen nicht nur, die Bedingungen für neu Zuziehende zu verbessern, sondern schließen sich in transnationalen Netzen von Rebel Cities zusammen, um Geflüchtete aus den Hotspots in nordeuropäische Länder zu holen (vgl. Orlando in diesem Heft). Sie loten Spielräume aus, genau dort, wo das europäische Grenzregime einer emanzipatorischen Migrationspolitik entgegensteht, versuchen diese zu erweitern und mit Sozialpolitiken für alle zu verbinden. Sie rütteln am brüchig gewordenen Selbstverständnis der Festung Europa und ihrer politischen Elite, die durch Pakte mit Despoten versucht, den hiesigen Wohlstand zu wahren und gleichzeitig ihre Position gegen wachsende Rechtsbewegungen und Parteien abzusichern.

Wie solche Bündnisse aufzubauen und zu pflegen sind, ist eine zentrale Frage für die gesellschaftliche Linke – und auch, inwieweit es gelingen kann, solche Initiativen auszuweiten auf den Kampf um demokratisch organisierte und kostenfreie soziale Infrastrukturen. Millionen Menschen, die in den letzten Jahren in den Willkommensinitiativen aktiv waren, haben Erfahrungen mit maroden oder dysfunktionalen Infrastrukturen gemacht, mit repressiven und versagenden Behörden. Inwiefern führen diese Erfahrungen dazu, sich für den Ausbau und Erhalt – oder gegen die Privatisierung – von Krankenhäusern, Kitas und Verkehrsverbindungen einzusetzen (vgl. Mira Wallis auf LuX-Online)? Welche Rolle kann die Linke in solchen Zusammenhängen spielen, wie kann sie sich breiter in der Gesellschaft verankern?

Schließlich stellt sich die Frage: Wie können Kommunikationsstrategien gegen die oben genannte Spaltung aussehen?

Entscheidend ist es, überhaupt ins Gespräch zu kommen, mit den Menschen zu sprechen statt über sie. Jenseits von Rechthaberei gilt es, Redebereitschaft mit Kompromißlosigkeit in der eigenen, beispielsweise antirassistischen Haltung zu verbinden und dabei Milieugrenzen zu überschreiten, die heute viele Linke von den Subalternen und ihren Alltagserfahrungen trennen. Schritte zu wagen in Lebenswelten und Gesprächskonstellationen, für die wir kaum ausgerüstet sind, die es aber zu ergründen gilt, will man potenziell gemeinsame Interessen ausloten (vgl. Steckner in diesem Heft). In marginalisierten Stadtvierteln leben ganz unterschiedliche Menschen – wie können gemeinsame Anliegen im Stadtteil formuliert, Erfahrungen mit dem Jobcenter oder Behörden geteilt werden? Wie lassen sich in Organisierungsprojekten vor Ort Erfahrungen mit Globalität machen, die nicht als Erasmus-Student*in oder transnationaler Jetsetter daherkommen?

Hier fehlen uns nicht nur die Praxen. Auch konzeptionell gilt es Probeschritte zu gehen. In den USA ist die Debatte, wie sich Rassismus und soziale Ungleichheit gemeinsam angehen lassen, weiter (vgl. Taylor in diesem Heft). Aber wir beginnen nicht bei Null. Wie wir die emanzipatorischen Kämpfe der Linken bewahren können, ohne neue Formen selektiver Integration zuzulassen – das ist für die nächsten Jahre die Herausforderung der Linken im Einwanderungsschland.