Für den Philosophen Jacques Rancière haben bestimmte »republikanische« Intellektuelle seit einigen Jahren den Weg für den Front National geebnet. Er zeigt, dass die universalistischen Werte von einem fremdenfeindlichen Diskurs vereinnahmt wurden. 



Vor drei Monaten ging Frankreich auf die Straße im Namen der Meinungsfreiheit und des friedlichen Zusammenlebens. Die letzten Wahlen zu den Bezirksparlamenten waren geprägt von einem neuen Vormarsch des Front National. Wie erklären Sie sich das rasche Aufeinanderfolgen dieser zwei Entwicklungen, die doch offenbar widersprüchlich sind? 

Ich bin mir nicht sicher, dass es da einen Widerspruch gab. Natürlich sind sich alle einig, wenn es darum geht, die Anschläge vom Januar zu verurteilen und die breite Reaktion darauf zu begrüßen. Der geforderte Konsens in Bezug auf die "Meinungsfreiheit" hat aber für Verwirrung gesorgt. Meinungsfreiheit ist ein Prinzip, das das Verhältnis von Individuum und Staat regelt. Es verbietet dem Staat, den Ausdruck abweichender Meinungen zu verhindern. Was am 7. Januar bei Charlie Hebdo verletzt wurde, war ein ganz anderes Prinzip - das Prinzip dass wir nicht jemanden erschießen dürfen, weil uns seine Meinung nicht passt, das Prinzip, mit dem geregelt wird, wie Individuen und Gruppen zusammenleben und lernen, einander zu respektieren. Man hat sich aber nicht für diese Dimension interessiert und statt dessen einseitig auf das Prinzip der Meinungsfreiheit fixiert. Damit hat man ein weiteres Kapitel in der Kampagne aufgeschlagen, die seit Jahren die universellen Werte dazu benutzt, einen Teil der Bevölkerung abzuqualifizieren, indem man die »guten Franzosen«, die Anhänger der Republik, des Laizismus und der Meinungsfreiheit, mit den MigrantInnen konfrontiert, die dann kommunitaristisch, islamistisch, intolerant oder rückschrittlich sind. Wir berufen uns oft auf den Universalismus als Prinzip des Zusammenlebens. Gerade der Universalismus wurde aber vereinnahmt und umfunktioniert. Er wurde zum Unterscheidungsmerkmal einer Gruppe gemacht, das dazu dient, eine bestimmte Gemeinschaft an den Pranger zu stellen, vor allem durch die frenetischen Kopftuchkampagnen. Von diesem Abgleiten konnte sich der 11. Januar [der »Marsch der Republik«] nicht distanzieren. Die Demonstrationen haben unterschiedslos all diejenigen, die die Prinzipien des Zusammenlebens verteidigten, mit denen zusammengebracht, die ihre fremdenfeindlichen Gefühle zum Ausdruck brachten. 

Wollen Sie damit sagen, dass die VerfechterInnen des laizistisch-republikanischen Modells unfreiwillige Wegbereiter des Front National sind? 

Man sagt, dass sich der Front National »entteufelt« habe. Was soll das heißen? Dass er die offen rassistischen Stimmen beiseite gedrängt hat? Ja. Vor allem aber, dass sich der Unterschied verflüchtigt hat zwischen den Ideen des FN und den Ideen, die als respektabel gelten, als ein Bestandteil des republikanischen Erbes. Seit zwanzig Jahren sind es bestimmte Intellektuelle der »republikanischen« Linken gewesen, von denen die Argumente kamen, derer sich Fremdenfeindlichkeit und Rassismus bedienten. Der Front National muss nicht mehr sagen, dass die MigrantInnen uns die Arbeitsplätze wegnehmen oder kleine Gauner sind. Er braucht nur zu erklären, dass sie keine Laizisten sind, dass sie nicht unsere Werte teilen, dass sie Kommunitaristen sind. Die großen universalistischen Werte – Laizismus, gleiche Rechte für alle, Gleichheit von Mann und Frau – wurden zum Instrument einer Unterscheidung zwischen »uns«, die wir diese Werte vertreten, und »denen«, die sie nicht vertreten. Der FN kann sich seine fremdenfeindlichen Argumente sparen. Sie werden ihm in den seriösesten Gewändern von den »Republikanern« geliefert. 

Demzufolge wäre es der Sinn des Laizismus selbst, der pervertiert worden ist. Was bedeutet für Sie Laizismus? 

Im 19. Jahrhundert war Laizismus für die französischen Republikaner das Instrument, um die Schule vom Einfluss der katholischen Kirche zu befreien, vor allem nach dem Falloux-Gesetz von 1850. Der Begriff bezeichnet also die besonderen Maßnahmen, mit denen dieser Einfluss beseitigt wurde. Seit den 1980er Jahren hat man daraus ein universalistisches Prinzip gemacht. Die Laizismus war ursprünglich dazu gedacht gewesen, das Verhältnis von katholischer Kirche und Staat zu regeln. Die große Manipulation bestand darin, daraus ein Gesetz zu machen, dem alle gehorchen müssen. Nicht mehr der Staat soll laizistisch sein, sondern die BürgerInnen. Und wie kann man erkennen, dass eine Person gegen das Prinzip des Laizismus verstößt? Durch das, was sie auf dem Kopf trägt ... Als Kinder sind wir am Kommunionstag in die Schule gegangen mit unseren Kommunionsschleifen, trafen dort unsere KlassenkameradInnen, die keine KatholikInnen waren, und gaben ihnen Andachtsbildchen. KeineR ist auf die Idee gekommen, dass dadurch der Laizismus bedroht wird. Der Laizismus war damals eine Frage der Finanzierung: Die staatliche Schule trägt sich aus öffentlichen Mitteln, die katholische aus privaten. Dieser Laizismus, der sich auf das Verhältnis von öffentlichen und privaten Schulen bezieht, wurde begraben zugunsten eines Laizismus, der das individuelle Verhalten reglementiert und der dazu benutzt wird, einen Teil der Bevölkerung aufgrund seines Aussehens zu stigmatisieren. Manche wollten in ihrem Wahn sogar das Tragen eines Kopftuchs in Anwesenheit eines Kindes verbieten. 

Woher kam dieser Stigmatisierungsdrang? 

Das hat verschiedene Ursachen, die teilweise mit dem Nahostkonflikt und den dadurch geschürten Formen wechselseitiger Intoleranz zusammenhängen. Es gibt aber auch das »große linke Ressentiment«, das aus den großen Hoffnungen der 1960er und 1970er Jahre und ihrer Zerstörung durch die sogenannte sozialistische Partei, als diese an die Macht kam, entstanden ist. Alle republikanischen, revolutionären oder fortschrittlichen Ideale wurden umfunktioniert. Sie wurden zum Gegenteil von dem, was sie ursprünglich sein sollten – nicht mehr zu Waffen im Kampf für die Gleichheit, sondern zu Waffen der Diskriminierung, des Misstrauens und der Verachtung gegenüber einem Volk, das als verblödet oder rückständig hingestellt wird. Da wir die zunehmenden Ungleichheiten nicht bekämpfen können, legitimieren wir sie, indem wir die Menschen verurteilen, die unter ihnen leiden. Denken wir nur daran, wie die marxistische Kritik umfunktioniert wurde zu einer Verurteilung des demokratischen Individuums und des allmächtigen Konsumenten – einer Verurteilung, die sich gerade gegen diejenigen richtet, die am wenigsten zu konsumieren haben. Die Umfunktionierung des republikanischen Universalismus zu einem reaktionären Denken, das die Ärmsten stigmatisiert, entspricht der gleichen Logik. 

Ist es denn nicht legitim, das Tragen des Kopftuchs zu bekämpfen, das nicht gerade ein sichtbares Zeichen weiblicher Emanzipation ist? 

Die Frage ist, ob es Aufgabe der staatlichen Schule ist, die Frauen zu emanzipieren. Müsste sie dann nicht auch die ArbeiterInnen emanzipieren und alle anderen beherrschten Gruppen der französischen Gesellschaft? Es gibt alle möglichen Formen der Unterwerfung – gesellschaftliche, sexuelle oder rassische. Das Prinzip einer reaktiven Ideologie ist es, sich gegen eine bestimmte Form der Unterwerfung zu wenden, um dadurch die anderen zu festigen. Dieselben, die den Feminismus als »kommunitär« verurteilt hatten, entdeckten plötzlich ihre feministische Ader, um die Kopftuchgesetze zu rechtfertigen. Die Stellung der Frau in der muslimischen Welt ist gewiss problematisch. Es ist aber zunächst Sache der Betroffenen, zu entscheiden, was für sie repressiv ist. Überhaupt ist es Sache derer, die unter der Repression leiden, gegen ihre Unterdrückung zu kämpfen. Wir können die Menschen nicht stellvertretend befreien. 

Kommen wir zurück zum Front National. Sie haben oft die Vorstellung kritisiert, dass das »Volk« seiner Natur nach rassistisch ist. Die MigrantInnen sind für Sie weniger Opfer eines Rassismus »von unten« als vielmehr eines Rassismus »von oben« - durch polizeiliche Gesichtskontrollen (Racial Profiling), durch die Abschiebung in Stadtrandbezirke oder durch das Problem, eine Wohnung oder eine Arbeit zu finden, wenn man einen Namen ausländischer Herkunft trägt. Wenn aber 25 Prozent der WählerInnen für eine Partei stimmen, die den Bau von Moscheen stoppen will, ist das dann nicht ein Zeichen dafür, dass fremdenfeindliche Motive auch in der französischen Bevölkerung am Werk sind? 

Zunächst einmal gehen diese fremdenfeindlichen Impulse weit über die WählerInnenschaft der extremen Rechten hinaus. Worin unterscheidet sich ein FN-Bürgermeister, der die »Rue du 19 Mars 1962«[1] umbenennt, von UMP-PolitikerInnen, die im Unterricht die positiven Aspekte der Kolonialisierung behandelt haben wollen, von Nicolas Sarkozy, der sich gegen schweinefleischlose Menüs in den Schulkantinen ausspricht, oder von »republikanischen« Intellektuellen, die kopftuchtragende Mädchen vom Studium ausschließen wollen? Außerdem ist es zu einfach, die Wahl des FN nur mit dem Ausdruck von rassistischem oder fremdenfeindlichem Gedankengut gleichzusetzen. Der FN ist nicht nur eine Stimme des Volkes, er ist vor allem ein struktureller Effekt des politischen Lebens, das in Frankreich nach der Konstitution der 5. Republik entstand. Dadurch, dass dieses System im Namen der Bevölkerung eine kleine Minderheit regieren ließ, hat es automatisch einen Raum eröffnet für diejenige politische Gruppe, die erklären kann: »Wir bleiben bei diesem Spiel außen vor.« Der Front National hat diesen Platz nach dem Zerfall des Kommunismus und des Gauchismus besetzt. Die »dumpfen Gefühle« der Massen – wer kann die beziffern? Ich stelle nur fest, dass es in Frankreich kein Gegenstück zu Pegida, der fremdenfeindlichen Bewegung in Deutschland gibt. Ich glaube auch nicht an den oft angestellten Vergleich mit den 1930er Jahren. Ich sehe im heutigen Frankreich nichts, was mit den großen rechtsextremen Milizen der Zwischenkriegszeit vergleichbar ist. 

Das hört sich so an, als müsse man den Front National gar nicht bekämpfen. 

Wir müssen das System bekämpfen, das ihn hervorbringt, also auch die Strategie, die sich der Verurteilung des Front National bedient, um den galoppierenden Rechtsruck der Regierungseliten und der Intellektuellenklasse zu verschleiern. 

Die Möglichkeit, dass der FN an die Macht kommt, beunruhigt Sie nicht? 

Da ich den Front National als das Resultat des Ungleichgewichts in unseren politischen Institutionen betrachte, gehe ich eher von der Möglichkeit seiner Einbindung in das System aus. Es gibt bereits viele Ähnlichkeiten zwischen dem FN und den etablierten Kräften innerhalb des Systems. 

Wenn der FN an die Macht käme, hätte dies ganz konkrete Auswirkungen für die Schwächsten der französischen Gesellschaft, nämlich für die MigrantInnen ... 

Ja, wahrscheinlich. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass der FN im großen Stil Abschiebungen organisiert und Hunderttausende oder Millionen von Menschen "nach Hause" schickt. Der Front National ist nicht der Aufmarsch des weißen Kleinbürgertums gegen die EinwanderInnen. Seine WählerInnenschaft erstreckt sich über alle Bereiche der Gesellschaft, unter Einschluss auch der MigrantInnen. Ja, natürlich, es könnte symbolische Aktionen geben. Ich glaube aber nicht, dass sich eine UMP-FN-Regierung von einer UMP-Regierung sehr unterscheiden würde. 

Vor dem ersten Wahlgang hat Manuel Valls den französischen Intellektuellen ihren »Schlaf« vorgeworfen: »Wo sind die Intellektuellen«, rief er aus, »wo ist das Gewissen dieses Landes, die Männer und Frauen der Kultur, die auch ihre Stimme erheben müssen, wo ist die Linke?« Fühlten Sie sich angesprochen? 

»Wo ist die Linke?«, fragen die Sozialisten. Ganz einfach: Da, wo sie sie hingeführt haben, nämlich ins Nichts. Die historische Mission der sozialistischen Partei war es, die Linke zu töten. Auftrag erfüllt. Manuel Valls stellt die Frage, was die Intellektuellen eigentlich tun. Ehrlich gesagt, ich kann nicht recht erkennen, was Leute wie er ihnen vorzuwerfen haben. Man kritisiert ihr Schweigen, aber die Wahrheit ist, dass bestimmte Intellektuelle schon seit Jahrzehnten ganz große Reden schwingen. Sie wurden zu Stars und Kultfiguren gemacht. Sie trugen in hohem Maße zu den Hasskampagnen in Sachen Kopftuch und Laizismus bei. Sie waren nur allzu gesprächig. Ich möchte hinzufügen, dass ein Appell an die Intellektuellen ein Appell ist an Leute, die sich nicht entblöden, die Rolle des Sprachrohrs der Intelligenz spielen zu wollen. Man kann natürlich diese Rolle nur übernehmen gegenüber einem Volk, das als dumm und rückständig hingestellt wird. Das schreibt den Gegensatz von »Wissenden« und »Unwissenden« fest, und gerade den müssten wir aufbrechen, wenn wir die Gesellschaft der Missachtung bekämpfen wollen, für die der Front National nur eine bestimmte Ausdrucksform ist. 

Es gibt aber doch Intellektuelle – wie Sie selbst -, die diesen Rechtsruck des französischen Denkens bekämpfen. Sie glauben nicht an die Macht des Wortes? 

Man kann nicht von ein paar Einzelnen erwarten, dass sie die Blockade aufbrechen. Das kann nur geschehen durch demokratische Massenbewegungen, die nicht durch eine geistige Überlegenheit legitimiert sind. 

Sie zeigen in Ihrer philosophischen Arbeit, dass das westliche politische Denken seit Platon dazu tendiert, die »Wissenden« von den »Unwissenden« zu unterscheiden. Auf der einen Seite stünde die Klasse der Gebildeten, Vernünftigen und Kompetenten, die zum Regieren berufen sind, auf der anderen die des Volkes, der Unwissenden, der Opfer ihrer Triebhaftigkeit, die dazu bestimmt sind, regiert zu werden. Lässt sich dieses Interpretationsraster anwenden auf die jetzige Situation? 

Die Regierenden haben lange ihre Macht damit gerechtfertigt, dass sie sich mit vermeintlichen Tugenden der aufgeklärten Klassen wie Klugheit, Mäßigung oder Weisheit schmückten. Die heutigen Regierungen bedienen sich einer Wissenschaft, der Ökonomie, indem sie so tun, als wendeten sie nur deren objektive und unausweichliche Gesetze an – Gesetze, die auf wundersame Weise in Einklang mit den Interessen der herrschenden Klassen stehen. Wir haben die wirtschaftlichen Katastrophen erlebt, das geopolitische Chaos, das in den letzten vierzig Jahren von der alten Weisheit der Regierenden und von der neuen ökonomischen Wissenschaft hervorgebracht wurde. Die Demonstration der Inkompetenz durch die vermeintlich Kompetenten ruft nur Verachtung für die Regierenden bei den Regierten hervor, die von ihnen verachtet werden. Die Demonstration einer demokratischen Kompetenz der vermeintlich Inkompetenten ist etwas ganz anderes.  

Das Interview erschien am 4.April im ©L’Obs vom unter dem Titel »Les idéaux républicains sont devenus des armes de discrimination et de mépris«. Aus dem Französischen von Thomas Laugstien