Nach 100 Tagen, die Trump nun US-Präsident ist, fällt mir die Beurteilung nicht schwer. Ich möchte es so deutlich wie möglich sagen: An diesem Mann und seiner Regierung ist kein bisschen Positives zu entdecken. Wer etwas anderes behauptet, irrt sich. Und wer meint, es handle sich lediglich um eine Variante „normaler“ Republikaner-Politik, sitzt einer Täuschung auf. In den ersten hundert Tagen der Trump-Präsidentschaft wurde in den USA das gesamte politische System aus den Angeln gehoben. Was früher als rechtsaußen, konservativ, moderat, liberal und weit links galt, bedarf jetzt einer Neuinterpretation. Das Land ist in Panikstimmung.
Denn unsere Regierung ist nicht in der Lage, die Folgeerscheinungen des Neoliberalismus abzuwehren – unabhängig davon, welche Partei gerade an der Macht ist. Gleichzeitig fürchten Demokraten und Republikaner eine lauter werdende Öffentlichkeit. Die ungleiche Verteilung des Reichtums und der Abbau des Sozialstaats erschüttern das Vertrauen in die Eigentumsverhältnisse und in die damit einher gehenden sozialen Beziehungen. In beiden Parteien sind Teile der jeweiligen Basis bereit, der anderen Seite an die Gurgel zu gehen. Keine von beiden hat auch nur einen Ansatz zur Problemlösung zu bieten. In den Vereinigten Staaten befinden wir uns in einer schweren politischen Krise. Beide führenden Parteien sind in tückischer Weise nur noch auf Sand gebaut. Sie stehen vor den Scherben eines Wahlkampfmodells, das ihnen seit 1948 ihre Erfolge beschert hat. Zwar klang Trumps Wahlsieg schon in Nixons „schweigender Mehrheit“ und später in der Reagan-Revolution an. Aber die gegenwärtige Situation ist alles andere als „normal“. Eine parteiinterne Revolte mit der Wucht, wie sie Trumps Wahlkampf entfaltete, hatte die Parteiführung der Republikaner nicht erwartet. Donald Trump wurde von der Tea Party angetrieben und von demselben rassistischen und fremdenfeindlichen Populismus befeuert, der auch in Europa an den Grundfesten des politischen Establishments rüttelt. Die ersten hundert Tage waren geprägt von einer verwirrten und gestörten Figur an der Regierungsspitze sowie von Dauermachtkämpfen, die nicht entschieden sind. Gleichzeitig wurden und werden lang geltende ungeschriebene Gesetze gebrochen und Leben ruiniert oder gar ausgelöscht. Bislang geltende Standards für einen politischen Führungsstil, die sich schon seit Nixon in Auflösung befanden, existieren inzwischen nicht mehr.
Warum Trump gewann und Clinton verlor
Trumps Wahlerfolg war die Folge einer Reihe von Ereignissen in seinem Wahlkampf. In dessen heißer Phase entfremdete er sich von fast allen mächtigen und populären Parteigrößen. Er war und ist bis heute von der Mehrheit der Wählerinnen und Wähler entfremdet – er erhielt weit weniger Stimmen als seine Gegnerin. Die meisten Beobachter dachten, er würde jämmerlich scheitern. Und selbst er schien schockiert zu sein, als er merkte, dass er gewonnen hatte. Über die Gründe für seinen Wahlsieg wird viel debattiert. Ich beschränke mich auf drei Faktoren. Zum einen führte Hillary Clinton einen Wahlkampf, in dem sie, statt auf die Wähler direkt zuzugehen, im Fernsehen Werbung für sich machte – und das vor allem in wirtschaftlich heruntergekommenen Staaten, die früher Industrieregionen waren. Eine Stimmenmehrheit in diesen Staaten wäre entscheidend für eine Stimmenmehrheit im Electoral College, dem Wahlmännergremium, gewesen. Denn Mehrheiten in bestimmten, bevölkerungsreichen Bundesstaaten zu gewinnen ist, wenn es knapp wird, wichtiger als die erzielte Stimmengesamtheit auf Bundesebene. Dann erklärte wenige Tage vor der Wahl der Chef der Bundespolizei FBI, James Comey, aus heiterem Himmel, dass gegen Clinton wegen des Verdachts ermittelt werde, sie habe als Außenministerin Geheiminformationen in privaten E-Mails verschickt. Comey erklärte dies ausgerechnet kurz nachdem in groß angelegten Anhörungen Beweise für eine Schuld Clintons ausgeblieben waren. Zuvor hatte außerdem Comeys Vorgesetzte, die Justizministerin Loretta Lynch, dem FBI-Chef die Anweisung erteilt, dem Protokoll zu folgen und mit der Ankündigung bis nach der Wahl zu warten. Da Clintons „Glaubwürdigkeit“ von vielen Wählern bereits angezweifelt wurde, versetzte die Ankündigung ihrem Wahlkampf zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt einen schweren Schlag. Schließlich nutzten die Republikaner in den wenigen verbliebenen Tagen zwischen Comeys Ankündigung und dem Urnengang die Gunst der Stunde. Sie stellten ihre Vorbehalte gegenüber Trump zurück und mobilisierten ihre Rechtsaußenbasis sowie ihre finanziellen Mittel in wahlentscheidenden Bundesstaaten im Nordosten und oberen Mittleren Westen – was sich letztendlich als taktisches Meisterstück herausstellte. Schon davor hatten Republikaner in den von ihnen dominierten Staaten Maßnahmen ergriffen, die nicht-weißen Minderheiten und Studierenden das Wählen schwer machten. Trump konnte sich deshalb in den überwiegend von Weißen bewohnten Bezirken dieser Staaten genug Stimmen verschaffen, um den US-weiten Vorsprung von drei Millionen Stimmen, den Clinton erzielte, mit Blick auf das Wahlmännergremium wieder wettzumachen.
Trumps Agenda
Trumps wichtigster Erfolg seit seiner Amtsübernahme ist die Besetzung der höchsten Regierungsämter mit Multimillionären, Militärs und rechten Ideologen. Dahinter steckt letztendlich die Absicht, die staatlichen Sozialleistungen zurückzuschrauben. Die Mitglieder in Trumps Kabinett stehen ausnahmslos für das rückständigste antidemokratische Denken, das das Land in Bezug auf Menschen-, Bürger- und Frauenrechte, Klimawandel, Steuer-, Außen-, Bildungspolitik etc. zu bieten hat. Der konservative Traum, die Uhr auf das Jahr 1929 zurückzustellen, ist näher gerückt als je zuvor – es sei denn, es würde sich eine Kraft entwickeln, die stark genug ist, die politische Rechte wieder zurückzudrängen. Anders als ihre republikanischen Vorgänger verfügt die neue Regierung über einen großen Spielraum für die Abschaffung des Abtreibungsrechts. Zugang zu Kliniken und Ärzten, die Abtreibungen vornehmen, ist in den meisten Teilen des Landes erschwert worden oder gar nicht mehr möglich. Der neue von Trump ernannte Richter am Obersten Gericht, der die Nachfolge des verstorbenen Richters Scalia antritt, ist ein bekannter Gegner der richtungsweisenden Entscheidung im Fall Roe vs. Wade, die die Abtreibung legalisiert hatte. Präsidenten wollten an ihr in der Vergangenheit aus politischen Opportunitätsgründen nicht rütteln. Der Zugang zu Klinken und Ärzten ist nach wie vor ein Grundrecht. Aber seine Gegner gehen heute bei seiner Einschränkung nicht mehr lautlos vor. Trumps Wahlkampf war zeitweise von Versprechen geprägt, keine Militärinterventionen im Ausland zu unternehmen und in der Handelspolitik scharf protektionistisch vorzugehen. Aber schon im zweiten Amtsmonat vollzog er eine Kehrtwende. Das bedeutet nicht, dass er seine Meinung geändert hätte, denn das erlaubt sein Geisteszustand nicht. Die Kehrtwende erfolgte vielmehr, weil die Emporkömmlinge in seinem Beraterkreis, die auf den finanziellen Druck durchgeknallter rechter Milliardäre dorthin gelangt waren, zur Seite gedrängt wurden.
Die wirklich dominierenden politischen Entscheidungsträger im Weißen Haus spiegeln dagegen die alten Interessen wieder: das Militär, die Wall Street und den Sektor, in dem Trump aufwuchs: die Reichen der Ostküste. Jenseits der Wünsche, die diese Interessen ausdrücken, sind die Mitglieder der Administration ausschließlich damit beschäftigt, sich und ihre Klientel zu bereichern und die Öffentlichkeit wechselweise zu terrorisieren oder zu verwirren, und das ohne jegliche gesetzlichen oder moralischen Bedenken. Dahinter steckt der unbedingte Wunsch nach der grenzenlosen Herrschaft der weißen Männer. So offen und frei von der Leber weg haben sie ihre Ambitionen seit den Erfolgen der Bürgerrechtsbewegung nicht mehr formuliert. Die radikale Rechte im Kongress befindet sich seit Monaten auf Kriegsfuß mit dem Fraktionsvorsitzenden der Republikaner im Repräsentantenhaus Paul Ryan, dem Republikaner-Parteichef Reince Priebus und dem Rest der alten Parteigarde. Die ideologisch puristischen Rechtsaußen-Politiker und ihre Wähler sind der festen Überzeugung, dass es im Trump-Wahlkampf um nichts weniger als die Entmachtung der alten Garde gehen musste. Der Transfer öffentlicher Gelder in private Schatullen geht ihnen nicht weit genug, ebenso wenig wie die verheerenden Angriffe auf das staatliche Bildungssystem, die Obamacare-Krankenversicherung, die Wissenschaft, demokratische Rechte usw. Sie erwarteten weitaus mehr. Nun schlug Trump nicht so autoritär zu, wie er es mit seiner Wahlkampfrhetorik angedeutet hatte – immer noch kein Mauerbau, und Obamacare ist immer noch „geltendes Recht im Land“, wie Ryan zugab. Letztendlich will Trumps radikal rechte Wählerbasis dafür entschädigt werden, dass sie acht Jahre lang unter einem schwarzen Präsidenten leben musste. Ihr wird erst allmählich klar, was die Wende hin zum Militarismus bedeutet; dass Trump jetzt auf die Generäle und nicht mehr auf sie hört. Besonders auffällig ist die Polarisierung des Landes durch Trump. Sie ist so ausgeprägt, dass er von keinem einzigen Massenmedium außerhalb des Murdoch-Konzerns Unterstützung erfährt. „New York Times“, „Washington Post“ und „Los Angeles Times“ geben keine Objektivität und Äquidistanz vor und nehmen stattdessen die Regierung unter Dauerbeschuss. So etwas kam seit Nixons Karriereende nur sehr selten vor, und so früh in der ersten Amtszeit eines Präsidenten noch nie.
Demokraten: Zentrismus oder Populismus?
Öffentlicher Unmut über jede Bewegung, die Trump macht oder zu machen droht, findet seinen Ausdruck in Großdemonstrationen und Auseinandersetzungen mit gewählten Politikern bei Town-Hall-Veranstaltungen. Als Vorgriff auf die Kongresswahlen im kommenden Jahr konzentrieren sich die Energien, die Bernie Sanders’ Vorwahlkampf freilegte, inzwischen auf die Wahl progressiver Kandidaten auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene. Es existiert zwar keinerlei bundesweite Struktur, die diese politischen Aktivitäten kompetent anleiten, begleiten oder finanzieren könnte. Aber links von der zentristischen Führung der Demokratischen Partei geht eine ernst zu nehmende Neuorganisation alter und neuer politischer Akteure vonstatten. Nach Umfragen ist eine wachsende Mehrheit gegen Trump – und das, obwohl sich die Regierung von Bomben und Raketen höhere Sympathiewerte erhofft. An dieser Stelle möchte ich genauer darauf eingehen, wie sich diese neue Unordnung auf die politische Szenerie, insbesondere die amerikanische Linke, auswirkt. Dabei ist zu unterscheiden zwischen der zentristischen Führung der Demokratischen Partei, wie sie die Clintons und Barack Obama repräsentieren, und der Parteibasis, in der zahlreiche fortschrittliche soziale Bewegungen aktiv sind. Viele Mitglieder älterer Organisationen, die diese Bewegungen repräsentieren – etwa Gewerkschaften, NGOs und weitere gemeinnützige Organisationen, – hatten sich auf die Unterstützung Hillary Clintons eingestellt, der Wunschkandidatin der Parteiführung. Inzwischen zog aber die Teilnahme des linken Populisten Bernie Sanders am Vorwahlkampf Millionen von Wählerinnen und Wählern an; viele von ihnen waren der Mainstreampolitik gegenüber skeptisch. Während sich diese beiden Lager im Vorwahlkampf scharfe Auseinandersetzungen lieferten und bis heute zwischen beiden starkes Misstrauen herrscht, halten sie andererseits doch meist entschlossen am Widerstand gegen Trumps rechte Ausfälle fest. Das deutete sich in der Rekordteilnehmerzahl an den Frauendemonstrationen als Reaktion auf Trumps Amtsantritt und in zahlreichen kleineren und weit verbreiteten Protesten an. Nach wie vor ist allerdings nicht ausgemacht, ob sich die Spitzen der Demokratischen Partei und die gewählten Politiker dem Widerstand anschließen oder nur die Rolle der „vernünftigen“ Opposition spielen werden. In den USA existiert eine Reihe kleiner sozialistischer und linker populistischer Gruppierungen, aber die Demokratische Partei, die für eine vorsichtig neoliberale Wirtschaftspolitik steht, dominiert die Hochburgen progressiver Politik. Die Spannung zwischen den Bedürfnissen der Parteibasis und der Parteiführung, die sich auf reiche Spender stützte, trat offen zum Vorschein, als die Sanders-Demokraten von sich reden machten. Kleinere Parteien und Gruppierungen mussten sich für oder gegen Sanders entscheiden. Diejenigen, die sich seinem Wahlkampf anschlossen, stießen an Hochschulen und in vielen Städten und kleineren Gemeinden auf verstärktes Interesse an Politik, besonders an sozialistischer Politik.
Neue Kräftekonstellationen
In den vergangenen hundert Tagen deuten drei Ereignisse die Richtungen an, die rechte und linke Kräfte eingeschlagen haben. Denn politische Tendenzen, die bisher nebeneinander agierten, konvergieren teilweise und machen ihre Politik öffentlich. Diese neue Entwicklung ist eine Reaktion auf die vielleicht rechteste Regierung in der US-Geschichte. Dass es seit Langem Razzien gegen Immigranten gibt, die festgenommen und dann in Gefängnissen festgehalten oder meist nach Lateinamerika abgeschoben werden, ist bekannt. Vor Kurzem behauptete Juan Manuel Montez, er sei am 17. Februar abgeschoben worden, ohne vorher mit einem Anwalt sprechen zu dürfen oder einem Einwanderungsrichter vorgeführt worden zu sein. Montez hatte sich gegenüber einem Grenzbeamten nicht ausweisen können. Er wurde nach Mexiko abgeschoben, obwohl er in dem sogenannten DACA-Programm (Deferred Action for Childhood Arrivals) aus der Zeit der Obama-Regierung registriert ist. Es schützt Menschen wie Montez, sogenannte Dreamers, vor der Abschiebung und räumt ihnen Grundrechte ein, die den meisten „papierlosen“ Immigranten vorenthalten werden. Als Dreamers gelten Menschen, die die Grenze im Kindesalter überquerten und in den USA aufwuchsen. Das DREAM-Gesetz, auf das sich DACA stützt, war das Ergebnis jahrelanger Proteste und das Resultat von politischem Druck von Einwandererorganisationen und -familien. Immigranten liegen der amerikanischen Linken seit jeher am Herzen. Sie sind aber auch Zielscheiben für rassistisch gefärbte politische Repression durch Polizei, Gerichte, Armee und Bürgerwehren. Während unter Obama und Trump viele Einwanderer, die ihre Wiederregistrierung am DACA-Programm verpassten, abgeschoben wurden, handelt es sich bei Juan Manuel Montez um den ersten Abschiebungsfall eines registrierten DACA-Teilnehmers. Tatsächlich ist es die Politik der gegenwärtigen Regierung, in vollem Umfang staatliche Mittel zum Einsatz zu bringen, selbst wenn Vorgängerregierungen den Gebrauch dieser Mittel gesetzlich eingeschränkt haben. In diesem Fall handelt es sich um die Einwanderungspolizei, die Menschen einer bestimmten Hautfarbe und Nationalität festnehmen und abschieben soll. Ein weiteres wichtiges Ereignis trug sich am 15. April zu. Eine Horde von Faschisten, bewaffnet und zu Auseinandersetzungen bereit, hatte sich im kalifornischen Berkeley zu einer Demonstration versammelt. Seit den Novemberwahlen nimmt die Zahl solcher Demonstrationen weißer Rassisten zu. Früher waren die Rechten den Gegendemonstranten in Zahlen gemessen fast immer unterlegen. Außerdem kam es selten zu direkten körperlichen Auseinandersetzungen. Dieses Mal aber gelang es den Faschisten, die von der gesamten Westküste zu einer ansehnlichen Menge zusammengekommen waren, gewalttätige Auseinandersetzungen zu provozieren. In dem Universitätsstädtchen dominiert eigentlich eine pluralistische linke politische Kultur, inklusive des Schwarzen Blocks, aus dessen Reihen heraus gerne die Polizei provoziert wird und Macho-Prahlereien erfolgen. Den Faschisten gelang es dieses Mal nicht nur, auf feindlichem Gebiet ihre Stellung zu halten, sondern darüber hinaus auch noch, die Antifaschisten zu überwältigen. Erst dann schritt die Polizei ein.
Die Dreistigkeit der Faschisten ist eine direkte Folgeerscheinung des politischen Klimas, das Trump erzeugte und das nach den Wahlen als normal empfunden wird. So etwas gab es in den USA schon lange nicht mehr. Zusätzlich zur Regierung, dem Parlament und der Justiz, die von der radikalen Rechten dominiert werden, sind die Gegner der Regierung, die deren Unterstützern wohl nummerisch überlegen sind, nun auch noch mit einer offen faschistischen Bewegung konfrontiert, die auf Gewaltausübung in aller Öffentlichkeit aus ist. Dabei gibt es im ganzen Land deutliche Überschneidungen zwischen weißen Rassisten und Angehörigen der Polizei. Dass brutale Polizeigewalt große Ausmaße angenommen hat und Tausende das Leben kostet, während sie ungebrochen anhält, ist eine Tatsache, die von der Politik nicht angesprochen wird. Trumps Justizminister verspricht, die Polizei vor Klagen wegen Übergriffen zu schützen. Seine feindselige Einstellung Nicht-Weißen gegenüber ist seit Langem bekannt. Um nicht fatalistisch zu klingen und das Bild doch noch mit einem positiven Eindruck abzurunden, sei ein Ereignis an jenem bereits angesprochenen Wochenende in Berkeley erwähnt. Die dortige East-Bay-Ortsgruppe der Democratic Socialists of America (DSA), die sich für Bernie Sanders eingesetzt hatte, berief kurzfristig eine große Gruppe von Mitgliedern zusammen, um „Phonebanking“ zu betreiben: Telefonisch baten sie Tausende um Unterstützung für einen Gesetzesentwurf, der den Kaliforniern eine kostenlose staatliche Krankenversicherung verschaffen würde. Die breit angelegte Initiative ist über Kalifornien hinaus recht populär, seit Bernie Sanders sie im Vorwahlkampf, unterstützt von der DSA, als landesweite Forderung aufgestellt hatte. Das Phonebanking wäre auf den ersten Blick nicht der Rede wert. Aber ein Jahr davor hätte die DSA-Ortsgruppe dazu vermutlich nur eine Handvoll Leute mobilisieren können.
Tatsächlich hat sich die DSA-Mitgliedschaft im vergangenen Jahr verdreifacht, auf über 20 000. Wellen von jungen, politisierten Menschen treten der Gruppierung mit dem Ziel bei, sich gegen Trump zu organisieren. Sie sorgen in den gesamten Vereinigten Staaten für neue Ortsgruppen und bieten örtlichen politischen Reforminitiativen und -kandidaten ihre Unterstützung an. Und das in einem Land, in dem Sozialisten bis vor Kurzem noch als politische Aussätzige galten. Am Tag danach trat die mächtige kalifornische Senatorin Diane Feinstein, die sich wie Hillary Clinton statt „moderat“ neuerdings als „progressiv“ bezeichnet, bei einer Town-Hall-Veranstaltung in San Francisco auf. Sie tauchte dort auf Druck der linkspopulistischen Gruppe Indivisible auf, die ebenfalls schnell angewachsen ist. Feinstein sah sich, als sie sich weigerte, den Gesetzesentwurf zu unterstützen, auf einmal mit einer großen, unerwartet wütenden Menge an Menschen konfrontiert. Es handelte sich allesamt um demokratische Wähler, die genau wussten, was sie wollten und was nicht, und die dorthin gekommen waren, um ihre Forderungen zu stellen. Kurz gesagt: Während die Wahl den radikalen Rechten einen unverdienten Sieg bescherte, verbirgt sich in der Krise der Clinton-Demokraten, in Verbindung mit dem Anwachsen des Sanders-Flügels, eine goldene Gelegenheit. Denn der Gravitationsschwerpunkt des Populismus könnte sich durchaus von rechts nach links verlagern. Nichts von all dem war vorhergesagt oder erwartet worden, und nichts wird zwangsläufig eintreten. Trumps Sieg war der traurige Hinweis darauf, dass kein Kandidat von Haus aus gewinnen wird, und dass Politik bisweilen einen radikalen Wandel durchmacht. Jetzt geht es darum, mit allen nur denkbaren Mitteln für eine bessere Politik und insgesamt für das Überleben der US-Demokratie zu kämpfen.