Chinesischer Eigensinn
Der Diskurs „aufstrebende gegen dominante Macht“ und die daraus abgeleitete Politik der Eindämmung Chinas sind zudem von der Enttäuschung darüber geprägt, dass dieses Land auf seinen eigenen Pfad der Entwicklung beharrt. Noch in den 1990er Jahren war die vorherrschende Meinung von der Vorstellung getragen, dass Chinas Einbettung in eine liberale Weltordnung das Land unweigerlich in Richtung Marktkapitalismus und bürgerlicher Parlamentarismus führen werde. Wirtschaftsreformen würden China mehr und mehr wie die USA werden lassen und somit auch empfänglich für US-amerikanische Positionen von Global Governance und dem geopolitischen Status quo. In den letzten Jahren setzte sich jedoch die Einsicht durch, dass China weit widerstandsfähiger ist, als viele geglaubt oder auch gehofft hatten. In der Wirtschaft beharrt China weiterhin auf einer zentralisierten politischen Steuerung und einer gemischten Wirtschaftsordnung. Auch wenn Marktmechanismen im Zuge der Reformpolitik kontinuierlich ausgebaut wurden, sind die Kommandohöhen der Wirtschaft wie etwa das Banken- und Finanzwesen oder der Energie- und Infrastrukturbereich weiterhin von Staatsbetrieben besetzt. Chinas Regierung macht keine Anstalten, an diesem Grundsatz etwas zu ändern. In den letzten 40 Jahren sind ungefähr 600 Millionen Chinesen zu relativem Wohlstand gelangt. Ganz im Gegensatz zu landläufigen Meinungen gerade im Westen bilden diese neuen Mittelschichten das legitimatorische Rückgrat der KP Chinas und stärken deren Führungsanspruch. Die Annahme, dass neue Vorstellungswelten, Ambitionen und Hoffnungen der Mittelschichten das chinesische Systems zwangsläufig delegitimieren würden, war eine westliche Verlängerung eigener Agenden, eigener Prioritäten und Problemanalysen in eine chinesische Realität, die jedoch von ganz anderen Hoffnungen, Erwartung und Problemen geprägt ist. Und schließlich: Chinas Reformpolitik und letztlich auch ökonomischer Aufstieg der letzten Jahrzehnte sind von einer pragmatisch-realistischen Selbsteinbettung in das gegebene internationale System politischer und ökonomischer Beziehungen geprägt. Chinas „network strategy of embedded rise“ (vgl. Pang u.a. 2017) passt sich proaktiv der Globalisierung an und versucht, daraus größtmöglichen Vorteil für die eigene Entwicklung zu ziehen.
Chinas Führung hat zwar seine Bereitschaft demonstriert, die gegenwärtige ökonomische Weltordnung zu akzeptieren, diese pragmatische Akzeptanz bedeutet jedoch nicht, dass es von dieser Ordnung auch überzeugt ist. Denn obwohl sich Chinas Position im globalem ökonomischen System zunehmend auf die der entwickelten Industrienationen zubewegt, erklärt es unbeirrt, seine Außenpolitik im Bündnis mit anderen sogenannten Entwicklungsländern abzustimmen. In der globalen Arena hält China vorsichtige Distanz zu der von den USA geführten liberalen Weltordnung und betont, dass Länder des globalen Südens eine zunehmend wichtige Rolle spielen und sich deshalb die gegenwärtige Ordnung verändern müsse (ebenda). Angesichts des Erfolgs des Modells China stellt der chinesische Eigensinn tatsächlich eine ernsthafte Herausforderung für das gegenwärtige liberale Handelsregime und die vom Westen bevorzugten Global-Governance-Normen dar. China will sich (und anderen) besser Bedingungen schaffen, wodurch sich in den USA die Sorgen vergrößert haben, dass die von China initiierten Institutionen mit den westlich geführten in Konkurrenz treten oder diese sogar ersetzen könnten. Zugleich präsentiert sich die chinesische zusammen mit der deutschen Regierung als Hüterin des freien Welthandels gegen protektionistische Gefahren, etwa anlässlich des G20-Treffens in Hamburg im Juli 2017. Doch vor allem bietet der Eigensinn einen idealen Nährboden für Trumps rechtspopulistischen China-Diskurs. Denn erstens lässt sich ein klarer Gegner identifizieren: das Andere, das Unbekannte, welches – antikommunistisch, mitunter rassistisch unterfüttert – als konstante Bedrohung beschrieben werden kann. Zweitens bietet sich Chinas Aufstieg als Begründung für den sozialen und ökonomischen Niedergang der USA an. Chinesischer Eigensinn beutet in Trumps Diskurs vor allem, nicht nach den Regeln zu spielen. Und schließlich steht drittens der Aufstieg China auf globaler Ebene symbolisch für eine viel weiterreichende sozialökonomische Veränderungsdynamik, der völlig unhistorisch eine romantisierte und idealisierte Welt alter „US-amerikanischer Größe“ gegenübergestellt werden kann.
Das Dilemma von Trumps China-Diskurs ist jedoch, dass unklar bleibt, wie Stimmungen, Ressentiments und aktionistische Symbolpolitik in eine kohärente Politik übersetzt werden können. Dem weiteren ökonomischen Aufstieg Chinas in der Asien-Pazifik-Region haben die USA relativ wenig entgegenzusetzen. Ein Handelskrieg mit China würde ihnen wohl ebenso schaden wie dem Konkurrenten. Und nach Trumps Rückzug aus dem TPP-Abkommen, ursprünglich gedacht, um China im Zaum zu halten, scharrt Peking bereits mit den Hufen und will die entstandene Lücke füllen. Es schickt nicht mehr nur Waren und Kapital in die Welt hinaus, sondern auch Ideen. In Afrika und Südamerika gibt es viele Bewunderer des chinesischen Entwicklungspfades eines staatlichen Dirigismus in der Marktwirtschaft. Doch noch für lange Zeit wird Peking militärisch und politisch nicht wirklich mit den USA mithalten können. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass China im Juli 2017 erstmalig eine überseeische Militärbasis aufgebaut hat – in Dschibuti, also auf dem afrikanischen Kontinent, wo China besonders engagiert ist, weil es seinen wirtschaftlichen Aufschwung ohne den Ressourcenimport gerade aus den afrikanischen Ländern nicht bewerkstelligen könnte.
Hegemonieanspruch?
Die USA stellen eine globale Hegemonialmacht dar und übten entsprechend diese Hegemonie auch im Asien-Pazifik-Raum aus. Jede Großmacht strebt eine hegemoniale Position an – sicherlich auch China –, doch im Bereich internationaler Beziehungen stellt sich stets die Frage, ob ein alleiniger Hegemonieanspruch sinnvoll ist und für einen Staat mehr Sicherheit bringt oder nicht. Um sich gegen eine herrschende Hegemonialmacht durchzusetzen, bedarf es enormen Aufwands und erheblicher Ressourcen. Zudem sind solche Ablösungsversuche meist zum Scheitern verurteilt. Die USA waren in dieser Hinsicht vor allem deshalb erfolgreich, weil sie zum einen ihre Vormachtstellung von einer schwachen und demokratischen Macht, mit der sie zudem eine gewisse politisch-kulturelle Affinität verbindet – Großbritannien – geerbt haben, und weil sie zum anderen ihren Hegemonieanspruch langfristig in einer befriedeten Umwelt entwickeln konnten, in der es in der unmittelbaren Nachbarschaft keine Bedrohung gab. Die Zustimmung der untergeordneten Staaten wurde mit Schutz, Wirtschaftshilfen, dem Zugang zu Märkten etc. belohnt. Das US-Modell war ökonomisch erfolgreich und hochattraktiv. China ist ebenfalls für viele Staaten des globalen Südens ein attraktives Modell, zumindest in Teilen.
Dennoch stellt sich die Situation für China grundlegend anders dar. Mit Japan, Südkorea, Thailand und Vietnam in der unmittelbaren Nachbarschaft, aber auch mit in der Region aktiven Akteuren wie den USA, Russland und Indien wäre der Versuch, eine chinesische Hegemonie in Asien zu etablieren, ein überaus komplexes und herausforderndes Unterfangen, das zusätzliche Spannung erzeugen und China erst einmal nicht mehr Sicherheit bringen würde. Deshalb hat China zumindest auf absehbare Zeit keinen Ehrgeiz, die Region zu dominieren. Hegemonie im internationalen Kontext basiert auf einem transnationalen geschichtlichen Block, dessen Macht- und Herrschaftsstrukturen auf der Grundlage eines relativ beständigen Arrangements von produktiven und politischen Organisationsformen mehrere nationale Gesellschaften miteinander verbinden. Diese Strukturen umfassen zwar mehr als nur Staaten, etwa auch transnationalen Konzerne und Kapitaleliten; es sind aber staatliche Ressourcen – vor allem militärische Absicherung, Regulationsmechanismen, Rechtssysteme und Institutionen –, die den Block zusammenhalten. Diese Ressourcen wurden in den letzten Jahrzehnten vor allem von den USA bereitgestellt und kontrolliert, auch wenn die Stärke der Supermacht des 20. Jahrhunderts seit Längerem erodiert. Die Tatsache, dass Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewinnen konnte, lässt sich unter anderem mit einer Hegemoniekrise erklären, die aus der Erosion der materiellen Basis resultiert, die es der kapitalistischen Klasse bisher erlaubte, die Befriedigung ihrer Bedürfnisse als essentielle Voraussetzung für das Wohlergehen des ganzen Landes zu präsentieren. Seit dem Beginn des 21. Jahrhunderts, vor allem nach 2008 scheint die Behauptung mehr als zweifelhaft, dass Profite der Kapitalklasse zum Wohle aller Klassen seien. In den USA äußert sich diese Hegemoniekrise ferner darin, dass sich die politischen Vehikel – die Demokratische und Republikanische Partei – aufzulösen scheinen. In diesem Kontext mag sich die Bevölkerung um einen charismatischen Führer scharen, doch die Artikulation eines kohärenten Projekts, in dem Zustimmung zudem eine materielle Basis hat, ist fast unmöglich.
Die zentrale Frage ist nun, wie sich die Hegemoniekrise im globalen Zentrum auf das Verhältnis zu China, zu der Asien-Pazifik-Region und zur globalen Peripherie auswirken wird. Die US-amerikanische Dominanz gründet auf dem konstitutiven Ineinandergreifen von Macht, Ideologie und Institutionen. Durch Trumps „Neo-Isolationismus“ werden sich die USA wahrscheinlich immer weiter aus internationalen Institutionen, Abkommen und Verpflichtungen zurückziehen, was bedeutet, dass die institutionellen Mechanismen dieser speziellen Struktur internationaler Hegemonie geschwächt werden; ob sie sich wirklich auflösen werden, bleibt abzuwarten. Es stellt sich die Frage, welche internationalen Institutionen, Staatsformen und sozialen Kräfte sie ersetzen könnten. China wird diese Lücke nicht füllen können. Auch wenn es seit einigen Jahren den Aufbau alternativer internationaler Institutionen vorantreibt und sich in die bestehenden verstärkt einbringt, fehlt es China vor allem an globaler zivilgesellschaftlicher Vernetzung, um einen internationalen geschichtlichen Block anzuführen, der eine Transformation der bestehenden Struktur herbeiführen könnte. Globale Hegemonie setzt ferner voraus, dass sich führende Politiker einer Weltmacht auch in ideologischer Hinsicht als Garanten der bestehenden Weltordnung präsentieren. Der Führungsanspruch der USA beruhte in den letzten sieben Jahrzehnten darauf, dass sie vorgaben, weltweit Hüter von Demokratie, Menschenrechten und der Freizügigkeit von Kapital und Personen zu sein. Die Vereinigten Staaten offerierten damit der Welt eine universalistische Ideologie, in der unterschiedliche Interessen harmonisch zusammengeführt werden konnten. Dass mit dieser Rhetorik oftmals handfeste US-amerikanische Interessen verschleiert wurden, muss hier nicht weiter vertieft werden. Dennoch: Hegemonie basiert notwendigerweise auf Formen des Ausgleichs, muss reale Entfaltungsmöglichkeiten bieten und allgemein das Gefühl vermitteln, dass die bestehende Ordnung im besten Interesse aller ist. Trumps „America-first-Politik", die nur noch auf eigene Interessen und unbedingte Überlegenheit setzt, allgemeine Normen und Prinzipien über Bord wirft und US-amerikanische Außenbeziehungen nur noch aktionistisch von Fall zu Fall betrachtet, zerstört diese ideologische Basis westlicher Hegemonie. Dies wird zweifellos die Asien-Pazifik-Region in Bewegung bringen und einige Räume gegenüber einem chinesischen Führungsanspruch öffnen. Doch insgesamt wird China – zumindest vorerst – das ideologische Vakuum nicht füllen können, da es schlicht keine universalistische Ideologie anzubieten hat. Im Gegenteil: In den letzten Jahren hat die chinesische Regierung selbst immer wieder betont, dass ihr Entwicklungsmodell einzigartig und auf die chinesische Situation, Geschichte und Kultur zugeschnitten sei und nicht in andere Weltregionen exportiert werden könne. Sollte Trumps Präsidentschaft das "Ende des Westens“ einläuten, dann ist dies noch nicht der Beginn eines „chinesischen Zeitalters“.