Die Revolution, die eine gute Zukunft realisieren will, entstammt einer schlechten Gegenwart, die sie überwinden will. Ohne die gefrorene Gewalt dieser vorrevolutionären Strukturen lässt sich die entfesselte der revolutionären Bewegung nicht verstehen. Wer das stille Leid der Unterdrückten nicht sehen will, wird in ihrem schließlichen Schrei nichts anderes hören können als das Brüllen einer Barbarei, gegen die dieser eigentlich gerichtet ist. Denn zunächst ist die Aufgabe der Revolution negativ bestimmt, sie hat einen unerträglichen Zustand zu beenden. »Der Zweck der Revolution«, schrieb Theodor W. Adorno in einem Brief an Walter Benjamin bündig, »ist die Abschaffung der Angst« (Adorno 1994, 173). Insofern aber die Angst, die sich auf eine ungewisse Zukunft richtet, der Vergangenheit entstammt, ist das kommunistische Morgen nicht ohne kapitalistisches Gestern verstehbar. Die Revolution lässt sich nicht ohne Kenntnis der Welt erschließen, aus deren Zusammenbruch sie hervorgeht und aus deren Trümmern sie eine neue zu erschaffen hat.

Auch gegen das, was nun mal »so ist, wie es ist«, lässt sich aufbegehren. Auch der Schmerz, der von einem Sachzwang herrührt, lässt sich lindern. Genau hierin besteht die zentrale Funktion, die die Revolution (als Möglichkeit) für kritische Theorien einnimmt, deren Radikalität nicht am Horizont des Gegebenen, des im Gegebenen machbar Erscheinenden, endet. Als theoretische Figur garantiert sie die Möglichkeit einer radikalen Gesellschaftskritik, die sich nicht von Sachzwängen einhegen lässt (vgl. Demirović 2003, 266). Unter Bedingungen der Abwesenheit realer Revolutionen kann die Theorie deren Idee konservieren. So betrachtete es Marcuse bereits 1919 als Aufgabe der Philosophie, die Frage zu beantworten: »Was geschieht nach dem Scheitern der Revolution?« (zit. n. Voigts 2010, 95). Und 1966, noch bevor eine neue Revolutionswelle Westeuropa erreichte, ließ Adorno diesen Gedanken programmatisch werden: »Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward« (Adorno 1966, 15). Unter der Bedingung der Entwirklichung einer praktischen Alternative wird die kontrafaktische Anrufung der Revolution zur theoretischen Möglichkeit, nicht vor der Macht des Faktischen zu kapitulieren. Die Revolution wird zum Garanten einer historisch aufgeschobenen kulturellen Intelligibilität, die eine in ihrer Radikalität von gegenwärtiger Praxis ungedeckte Kritik der Gesellschaft davor bewahrt, das zu werden, was ihr der reaktionäre Realismus (oder der realpolitische Revolutionarismus Lenins) vorwirft: kindliche Träumerei, Utopismus, Irrsinn. Es lohnt, danach zu fragen, welche historischen Erfahrungen in einer Sprache zugleich reflektiert und konserviert werden, die Kommunismus zur ›Heimat‹ oder dem ›ganz Anderen‹, zur ›Erlösung‹ oder ›Versöhnung‹ macht. Während die Leere des Kommunismus als Utopie aber in seiner Funktion als indeterminierter Signifikant oder als negatives Ideal einen gewissen Halt findet, wird die Revolution, als Mittlerin zwischen dem Reich der Notwendigkeit und dem Reich der Freiheit, immer von den schmutzigen Bedingungen der Wirklichkeit heimgesucht, die sie verändern soll. In dem intellektuellen Bemühen kritischer Theoretiker*innen, den Begriff der Revolution durch nichtrevolutionäre Zeiten zu retten, ohne seine im tatsächlichen Verlauf der historischen Revolutionen zutage getretenen antiemanzipatorischen Momente zu reproduzieren, wird eine innere Zerrissenheit des Revolutionsbegriffs deutlich. Die zeitliche Unschärfe der Revolution, ihr Übergangscharakter, erscheint nun als ihr innerer Widerspruch: Die Revolution macht Geschichte und ist zugleich Teil von ihr. Sie hat eine utopische Welt zu realisieren, der sie nicht angehört.

Eine theoretische Strategie, auf diesen Widerspruch der Revolution zu reagieren, besteht in ihrer Abstraktifizierung. Diese Bewegung ist derjenigen ihrer Fetischisierung direkt entgegengesetzt. Während der Revolutionsfetisch die Revolution vom Mittel zum Zweck macht, reduziert die Abstraktifizierung die Revolution soweit auf ein Mittel, dass sie ihre eigenständige historische Realität verliert. Sie wird zum Übergangspunkt, zum ›Ereignis‹ (der Ankunft des ›Messias‹), zum bloßen ›Bruch‹ (mit dem Alten), zum ›Riss‹ (in der Geschichte). Hierin fungiert die Revolution als das Moment, das die herrschende Logik wie Zeit unterbricht, als radikale Kontingenz, als Entscheidung, als Sprung. Es ist ein Moment, das der Geschichte von außen zustößt, sie aus der Zukunft selbst ereilt. Diese theoretische Rettung der Revolution nach ihrem praktischen Scheitern tendiert jedoch zugleich dazu, den Begriff der Revolution mit den Bedingungen ihrer Niederlage zu affizieren. Die Abwesenheit der Revolution in der Praxis kehrt in der Theorie als deren Entleerung wieder.

Es ist dieser wiederkehrende historische Hintergrund, vor dem sich Wendy Brown im Jahr 2005 der Revolution zuwendete. Gegen eine »linke Melancholie«, die in Verleugnung der Realität an einem überkommenen Begriff wie der Revolution festhalte (Brown 1999, 21 f), forderte sie eine intellektuelle Trauerarbeit ein, die es erlauben sollte, nichtaktualisierbare Momente des linken Erbes aufzugeben. Dabei löste Brown den inneren Widerspruch des Revolutionsbegriffs zu einer Seite hin auf. Sie forderte, »ein utopisches Imaginäres auch in Abwesenheit eines revolutionären Mechanismus für dessen Realisierung zu rekuperieren« (Brown 2005, 114). Einerseits, argumentierte Brown, sei es nicht möglich, »eine Form substanzieller politischer Freiheit, Selbstverwaltung und radikaler Demokratie vorzustellen« ohne »Abschaffung oder Bezwingung oder Ersetzung von Kapital und Kapitalismus«, ohne soziale und politische Revolution also. Andererseits müsse die Linke genau eine solche Vorstellung von nichtrevolutionärer Transformation entwickeln, denn in »naher Zukunft« ließe sich »weder der Sturz des Kapitals noch sein Zusammenbruch von innen heraus erwarten« (ebd., 29). Tatsächlich war es die nahe Zukunft des Jahres 2007, in der das Kapital in eine Krise historischen Ausmaßes geriet. Weitere vier Jahre später betraten Revolutionen wieder die Bühne der globalen Geschichte. Die zweiseitige Antwort aber, die Brown gibt, illustriert präzise das Dilemma, in dem sich kritische Theorien gegenüber der Revolution – nach deren historischem Scheitern – befinden. Die Revolution gilt nun als theoretisch notwendig, aber praktisch unmöglich. Diese Unmöglichkeit ist jedoch in der Regel nicht Ausdruck der Erfahrungen historischer Revolutionen selbst, sondern ihrer abstrakten Interpretation vor dem Hintergrund eines moral- und geschichtsphilosophischen Schemas, das gegenüber der Diversität der revolutionären Missverständnisse zu grob und gegenüber der realen Möglichkeit anderer Entwicklungswege in der Revolution blind bleibt. Die hier unterbreiteten Überlegungen sollen dabei helfen, diese Lücke zu schließen. Gegen die Abstraktifizierung setzen sie auf Konkretisierung. Diese zeigt, dass die Vorstellung eines ›Ereignisses der Revolution‹ – als singulärer Moment des Sturzes der alten Herrschaft – den fetischisierten Effekt einer nachträglichen Mythologisierung bildet. Weder vollzieht sich der Sturz der alten Ordnung an einem Tag, noch ist dieser Sturz überhaupt das entscheidende Moment einer Revolution. Die bebildernde Übersetzung von Revolution in ›Stillstellung‹, ›Bruch‹, ›Notbremse‹ klingt nach Radikalität, Kompromisslosigkeit, Unbedingtheit, erschwert aber zugleich, den Moment zu erkennen, in dem sich die praktische Revolution anschickt, ihren theoretischen Statthalter abzulösen. Wirkliche Revolutionen entziehen sich als ungleichzeitige, auseinanderdriftende, mikropolitische, missverständliche den großen Bildern, zu deren Anfertigung nicht zuletzt sie selbst animiert haben. Tatsächlich besteht ihre von Erwartungen aufgeladene chaotische Praxis in einem heilvollen Durcheinander.

Der ›Umsturz‹ nur ein Moment

Dem allgemeinen Verständnis nach ist der Maßstab, an dem sich die Opposition Revolution/Evolution orientiert, die Dauer des transformativen Prozesses: Vollzieht sich der Prozess eruptiv-plötzlich oder langsam? Tatsächlich brechen Revolutionen auf einen Schlag aus. Das zeigt sich sowohl daran, dass selbst erfahrene Revolutionäre Revolutionen noch nach deren Eintreten nicht erkannten, als auch daran, dass sie wiederholt Revolutionen vorhersagten, die nie eintraten. Die Revolution, schlussfolgerte Hannah Arendt, lässt sich nicht machen, sie lässt sich nur erwarten (Arendt 1968, 333). Dass sie unvorhergesehen ist, heißt jedoch nicht, dass sie auch unvorbereitet wäre. Es gibt keine Revolution ohne Vorbereitung – aber es gibt viele Vorbereitungen ohne Revolution. Erst der Ausbruch der Revolution macht die Tätigkeit der Revolutionär*innen rückwirkend zu deren Vorbereitung. Ohne ihn bleibt ihre Tätigkeit wahlweise utopistisch oder kriminell. Die Revolution lässt sich so nicht bewirken, auf sie lässt sich nur hinwirken. Sie lässt sich kaum erfinden, aber sie lässt sich gestalten. Auch wenn das Auftreten der Revolution immer wieder überraschend und plötzlich ist, erledigt sie sich andersherum nicht so schnell, wie sie auftaucht, sie braucht Jahre, Jahrzehnte, mehrfache Rückschläge, gewaltsame Umgestaltungen, bis sie einigermaßen stabile Formen hervorbringt.

In der klassischen Perspektive sind die Pole (von Determinismus und Voluntarismus) miteinander vermittelt, insofern eine bewusste Revolution erst stattfinden kann, wenn sich in der alten Gesellschaft – in »ihrem Schoß« – die neue entwickelt hat (Marx 1890, 9). Dies lässt sich im Sinne von Produktivkräften verstehen, welche »die Fesseln« (Marx/Engels 1848, 467) der überkommenen Produktionsverhältnisse sprengen, oder im Sinne einer Klasse, die »zum Totengräber« (ebd., 474) der bisher herrschenden wird, oder im Sinne von Produktionsverhältnissen und Verkehrsformen, die sich parallel zu den dominanten entwickeln, um sie schließlich zu ersetzen. Nur diese dritte Möglichkeit kann den verschiedenen Einwänden standhalten, die in der Geschichte des Marxismus gegen sie erhoben wurden. Doch die begriffliche Form, in welcher der Widerspruch zwischen Evolution und Insurrektion in der marxistischen Tradition gestellt wird, erschwert seine Lösung. Während die Vorstellung eines bewussten Umsturzes einem Geschichtsbild von Avantgarden und ›großen Männern‹ Vorschub leistet, codiert die Figur naturhafter Gesetzmäßigkeit den eigentlichen sozialen Konstruktionsprozess. Die hegemoniale marxistische Tradition verstand den revolutionären Prozess als eine lange Phase, in der naturwüchsig Strukturen (»materielle Existenzbedingungen«) der neuen Gesellschaft heranreifen, und eine kurze Phase, des im eigentlichen Sinne revolutionären Umsturzes, der diesen Kräften durch eine bewusste Aktion zum Durchbruch verhilft. Der dialektische Verlauf von Sieg und Scheitern der marxistisch inspirierten Revolution lässt jedoch vermuten, dass das Gegenteil der angestrebten Wirklichkeit emanzipatorischer Revolutionen näherkommt: Der Umsturz selbst geschieht fast automatisch – das in der alten Gesellschaft aufgestaute Leid führt im Moment einer ökonomischen oder militärischen Krise zur politischen Krise der Legitimation, die sich in ungeplanten Massenprotesten entlädt. Das ›Heranreifen‹ der neuen Gesellschaft aber erfordert die Gesamtheit an subjektiver Aufmerksamkeit. Es steht deswegen im Zentrum eines relationalen Revolutionsbegriffs, der auf soziale Konstruktionsprozesse fokussiert.

Diese Kritik am hegemonialen marxistischen Revolutionsbegriff wurde bereits aus der libertären Tradition heraus formuliert. Gustav Landauer etwa forderte, das Bild umzukehren: »Wir warten nicht auf die Revolution, damit dann Sozialismus beginne, sondern wir fangen an, den Sozialismus zur Wirklichkeit zu machen, damit dadurch der große Umschwung komme!« (Landauer 1924, 92) Sprachlich verbleibt Landauer hier innerhalb jenes marxistischen Rahmens, den er zu verlassen sucht. Nur das politische Ereignis des großen Umschwungs nennt er Revolution, nicht den diesem vorangehenden Transformationsprozess, in welchem der Sozialismus gemacht wird. Inhaltlich aber deckt sich die libertäre Kritik des dominanten marxistischen Revolutionsmodells mit der hier entwickelten. Die bloße Verkehrung von Insurrektion und Konstruktion jedoch schriebe die Beschränkung des revolutionären Transformationsprozesses fort: Die Konstruktion des Sozialismus ist weder Folge noch Voraussetzung des Aufstands, sondern umschließt ihn von beiden Seiten. Die Revolution ist ein komplexer Prozess längerer Dauer, innerhalb dessen der ›Umsturz‹ nur ein Moment bildet, das nicht selten einige Male wiederholt wird (etwa im Februar und im Oktober 1917). Ein Moment, das eher in dessen Mitte steht, aber nicht an dessen Ende oder Anfang.

Der traditionelle Marxismus hatte die revolutionäre Konstruktion entweder als technologische Determination verschlüsselt und verborgen oder als Planung einer kommenden Staatsregierung ausgelagert und aufgeschoben. Der Umsturz erhielt so ein großes Gewicht gegenüber der Umwälzung, die Insurrektion gegenüber der Transformation. Damit korrespondierte bei den revolutionären Fraktionen des Marxismus eine Privilegierung des Militärischen und Taktischen gegenüber dem Sozialen und Politischen, während bei den reformistischen Fraktionen die Kritik am autoritären Putschismus einherging mit dem Verzicht auf Revolution.

Die unbevölkerte Leere möglicher Zukünfte

Diese Schwäche der marxistischen Revolutionskonzeption dürfte Lenin gespürt haben, als er im April 1918 bemerkte, Kennzeichen der bürgerlichen Revolutionen sei es, dass die arbeitenden Massen in ihnen die Hauptaufgabe der Negation und Zerstörung übernähmen. Im Gegensatz dazu bestünde ihre Hauptaufgabe in der sozialistischen Revolution in der positiven oder aufbauenden Arbeit. Solch eine Revolution, fuhr Lenin fort, »kann nur unter selbstständigem historischen Schaffen der Mehrheit der Bevölkerung, vor allem der Mehrheit der Arbeitenden, erfolgreich verwirklicht werden« (Lenin 1919, 5). In der historischen Wirklichkeit reduzierte sich das »selbstständige historische Schaffen der Mehrheit der Bevölkerung« auf das disziplinierte und gehorsame Ausführen zentral zugewiesener Aufgaben. Damit ließ sich der Widerspruch zwischen dem polarisierten und also partikularen Kampf der Negation – Zerstörung der bürgerlichen Macht – und der harmonisierenden und universellen Konstruktion – Aufbau des Sozialismus – scheinbar lösen. Das angestrebte Organisationsmodell bestand folglich in dem der »Verwaltung« (ebd., 6), der Bürokratie. So ließ sich aus der Eroberung direkt in den Aufbau übergehen – mittels des diktatorischen Plans und unter Aussparung der kommunistischen Demokratie. Die beschworene Mehrheit war somit doppelt ausgeschlossen, in der Ausführung des Plans wie in dessen Anfertigung – dem Entwerfen der Utopie. Rosa Luxemburg kritisierte diese Subtraktion der Demokratie von der Konstruktion scharf. Die Abwesenheit des Utopischen aber pries sie gerade als Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus. »Die stillschweigende Voraussetzung« der »Lenin-Trotzkischen Diktaturtheorie« sei, dass für die sozialistische Umwälzung »ein fertiges Rezept in der Tasche der Revolutionspartei liege, die dann nur mit Energie verwirklicht zu werden brauche. Dem ist leider – oder je nachdem: zum Glück – nicht so.« (Luxemburg 1918, 359) Gerade die Unbestimmtheit der Zukunft mache laut Luxemburg ein Experimentieren nötig, das die Partizipation der Massen erfordere. Gegen Luxemburg ließe sich jedoch fragen, ob es nicht gerade die von Utopien unbevölkerte Leere möglicher Zukünfte war, die eine Voraussetzung für die bolschewistische Politik des Misstrauens darstellte. Hatten sie sich wie Lenin für das Modell Deutsche Post und gegen die Selbstverwaltung entschieden? Oder fehlte es ihnen an Orientierung, weil sie es versäumt hatten, ausreichend die utopischen Praxen ihrer Gegenwart zu reflektieren, die Selbstverwaltung der russischen Dorfgemeinschaft (russ: Mir) oder die in der Revolution von 1905 entstandenen Räte (vgl. Adamczak 2017)? Waren sie also gerade deswegen bemüht, den Eindruck eines fertigen Plans zu erwecken, weil sie als antiutopische Marxist*innen über keinen verfügten?

Ein halbes Jahrhundert an Erfahrungen mit dem sowjetischen Marxismus reicher spitzte ausgerechnet Theodor W. Adorno, der als philosophischer Vertreter des Bilderverbots gilt, die Kritik an der Utopiefeindlichkeit des wissenschaftlichen Sozialismus zu. Das Verschwinden des Utopischen aus der Konzeption des Sozialismus habe dazu geführt, dass »die Mittel einer sozialistischen Gesellschaft gegenüber jedem möglichen Inhalt den Vorrang« gewonnen hätten. Dadurch tendiere die »konsequent utopiefeindliche Theorie des Sozialismus […] zu einer neuen Ideologie für die Beherrschung der Menschen zu werden« (Adorno 1978, 362). Weitere dreißig Jahre später, 1994, auf die Gesamtspanne des sowjetischen Sozialismus rückblickend, wiederholte Michael Brie diese Kritik am marxistischen Bilderverbot. Wer wie Marx »eine Radikalnegation der gegenwärtigen Gesellschaft« denke, ohne »institutionelle Vorstellungen über die zukünftige Gesellschaft« zu entwickeln, sei, urteilte Brie, nicht frei von einer Form »intellektueller Verantwortungslosigkeit« (Brie/Neumann 1994, 36).

Vielleicht ist die Linke zu einem großen Teil immer schon in einem bestimmten Modus gefangen, in einer spezifischen Fixierung auf das übermächtige Gegenüber, das nur aus der Perspektive der Unterworfenen adressiert wird: Kritik, Widerstand, Subversion, Melancholie, Dekonstruktion. Nie ist diese Linke jedoch darauf vorbereitet, zu gewinnen. Sie existenzialisiert den Schrei (Holloway), feiert die Entunterwerfung (Butler), honoriert die Entscheidung (Sartre), überhöht die Flucht (Deleuze/Derrida), lobt die Schwäche (Adorno). Selbst wo sie siegt, imaginiert sie sich noch als Unterlegene: In all seinem Autoritarismus agierte Lenin immer aus der moralischen Position des Schwächeren, nie aus der gesättigten Position der Autorität. Die Fragen aber, die über diese Negation hinausweisen, hat die Linke zu wenig gestellt: Wie wollen wir leben? Was täten wir, wären wir frei? Welche Bedürfnisse wollen wir durch welche Arbeiten befriedigen? Welche Welt wollen wir kombinierend erschaffen?

In der Geschichte des Marxismus wurde die Neuverfugung der kommunistischen Gesellschaft zu oft als ökonomischer Automatismus imaginiert oder als Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft konzipiert. Der hier unterbreitete Vorschlag, Revolution primär als Transformation, mehr noch als Konstruktion aufzufassen, versteht sich als emanzipatorische Konsequenz dieser historischen Erfahrung. Die Revolution als Konstruktion zu fassen, schwächt nicht deren Kraft. Gegenüber der Herrschaft bleibt sie eine gewaltige Aggression. Der Angriff ist dann aber ein positiver – ein Kampf nicht gegen den Kapitalismus, sondern für den Kommunismus. Die Revolution ist dann die Verwirklichung einer Möglichkeit, der sich eine spezifische Wirklichkeit als Hindernis in den Weg stellt. Deswegen muss es abgetragen werden. Aber dieses Abtragen selbst ist noch nicht die Revolution.

Auszug aus dem Buch »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende«, von Bini Adamczak, Frankfurt a. M. 2017, mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlages