Postdemokratisches

Die neue Regierung trägt zur Destabilisierung der Politik und Eingrenzung demokratischer Handlungsmöglichkeiten bei, daran ändern auch die liberalen Fingerübungen zum Abbau der Schäuble’schen Exzesse des Überwachungsstaates nichts. Die Diagnose der »Postdemokratie« (Colin Crouch) bietet sich an: die fortexistierenden parlamentarischen Fassaden und Verfahren ähneln potemkinschen Dörfern. Es fanden Wahlen statt, das Parlament hat seine Arbeit aufgenommen. Die breite Öffentlichkeit hat wenig Einfluss auf die Politik, ihre Entscheidungen und die Ausführung. Das Parlament wird weiter entfunktionalisiert. Hatte sich nicht der Haushaltsausschuss ohne jeden Erfolg dagegen verwahrt, dass die Gremien des Wirtschaftsfonds Deutschland oder des Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung ohne öffentliche Kontrolle in der Form eines Küchenkabinetts über Milliardenbeträge entscheiden könnten? Die Schuldenbremse und die Pläne zu Steuersenkungen nehmen den Ländern und Kommunen jede Handlungsfähigkeit und damit demokratische Gestaltungsfähigkeit. CDU, CSU und SPD wurden für diese Politik, die sich über die demokratischen Rechte und die materiellen Belange der Bevölkerung hinwegsetzt, von den Wählern sanktioniert: Der Anteil der Nichtwähler war höher als der der CDU. Die große Rezession verbreitet Angst, Lähmung, Resignation und politische Willfährigkeit. Über 60 Prozent der Nicht-Wähler stimmt dem Satz zu, dass Politiker nur ihre Interessen verfolgten. Personen sind nicht unwichtig: Personalpolitik ist Sachpolitik. Doch auch strategische Politik ist relevant – in den Ländern Thüringen und Saarland wurde gegen die weit reichende Option einer politikstrategischen Wende entschieden. Noch deutlicher war die Tendenz zu erkennen in der Art und Weise, wie das Projekt einer rot-grünen Landesregierung unter Andrea Ypsilanti, die sich auf die Partei Die Linke stützen wollte, von der SPD selbst zu Fall gebracht wurde.

Kämpfe um Souve ränität

In Demokratie und Sozialismus hat Artur Rosenberg in seiner Analyse der Auseinandersetzungen um Demokratie im 19. Jahrhundert gezeigt, dass aus einer materialistischen Perspektive der Volkssouverän kein abstrakter Begriff ist, keine einheitliche, staatsrechtlich bestimmte politische Körperschaft meint. Vielmehr ist der Volkssouverän in ständiger Veränderung, ein ständig sich veränderndes Gleichgewicht der Kräfte. Insofern ist Volkssouveränität ein historischer Begriff, sie ist bestimmt durch das Verhältnis der sozialen Klassen zueinander, die Kämpfe zwischenim Vorhinein in ihrer Identität und in ihrem Umfang keineswegs feststehenden sozialen Gruppen, die Regeln, nach denen Individuen diesem Volkssouverän zugerechnet oder ausgeschlossen werden, die Medien wie Presse oder Parteien, in denen der politische Willen gebildet oder nicht gebildet wird, die Verfahren, die es Interessen erlauben, sich zur Geltung zu bringen oder die Artikulation verhindern, die Institutionen und Apparate, in denen Entscheidungen beschlossen, und Apparate, von denen sie ausgeführt werden. All dies kann über Jahre und Jahrzehnte stabil bleiben, es kann aber auch plötzlich umstritten sein – und die Unruhe und die Kämpfe setzen sich fort. Die neoliberale Strategie trägt seit langer Zeit den Willen zur Veränderung in die gesellschaftlichen Kompromisslinien, erzeugt systematisch Unsicherheit, propagiert ›Klassenkampf von oben‹: drängt die Betroffenen aus dem gesellschaftlichen Leben und macht sie überflüssig, drückt auf die Löhne, erzwingt, dass Menschen mehr von ihrer Lebenszeit für die private Bereicherung opfern, verschlechtert die Gesundheitslage vieler, mindert die Bildungsmöglichkeiten. Wer denkt schon daran, dass jeder einzelne dieser Mechanismen auch die Möglichkeit zur Wahrnehmung demokratischer Rechte mindert. Diejenigen, die Arbeitslosengeld beziehen, müssen der Arbeitsvermittlung von Montagmorgen bis Samstagnachmittag zur Verfügung stehen. Wer sich politisch für eine Partei, eine NGO engagiert, auf eine Tagung, eine Versammlung fährt, eine Bildungsveranstaltung besucht, geht das Risiko ein, sich regelwidrig zu verhalten. Was jetzt schon als Zumutung betrachtet werden kann, wird durch das politische Klima weiter verschärft. Da werden Forderungen laut, »Nettosteuerprofiteuren« – also Arbeitslosen, Beamten, Rentnern – das Wahlrecht zu entziehen, und der »bedeutendste Philosoph« Deutschlands, Peter Sloterdijk, argumentiert mit seiner Polemik gegen den kleptokratischen Nehmerstaat ebenfalls in die rechtspopulistische Richtung, im Steuerstaat die Hauptursache der gesellschaftlichen Probleme zu sehen. Dem entspricht eine Haltung bei den Vertretern der Wirtschaft. Sie wollen Demokratie, aber Demokratie ist ihnen immer auch unheimlich. Lästigerweise ermächtigt sie das Volk, die Leute, die Vielen, sich und ihr Leben zur Geltung zu bringen. Legislaturperioden werden verlängert und die Legitimation ist an kein Quorum der Wahlbeteiligung geknüpft – die Oberbürgermeisterin von Frankfurt am Main etwa wurde von gerade 15 Prozent der Wählerschaft gewählt. Demokratische Öffentlichkeit, Diskussion oder Protest werden von Wirtschaft und Politik als Standortnachteile bewertet, weil sie dem Dezisionismus Fesseln anlegen. China oder die Theokratien im Nahen Osten oder in Südostasien gelten als Vorbild für effizientes politisches Handeln, so sei zu erklären, dass die Wirtschaft hohe Wachstumsraten aufweise. Entsprechende Politikinstrumente werden entwickelt: das Regieren durch und mit Kommissionen, an die der Gesetzgebungsprozess delegiert wird, tritt an die Stelle formeller Verfahren oder ergänzt diese. Verwaltungsroutinen, eingespielte Kontaktsysteme zwischen Verwaltung und Gesellschaft und die Kompetenzen von öffentlichen Bediensteten werden von Unternehmensberatungen systematisch zerstört. Küchenkabinette in und zwischen den politischen und Verwaltungseinheiten entstehen. Vieles wird als Partizipation bezeichnet und stellt doch nur eine Verlagerung der Entscheidungen in neue Arkana der Macht dar: nationale, regionale und transnationale Governance-Mechanismen, an denen formelle und informelle Machtträger beteiligt sind, eine Partizipation, die den Platz der Demokratie in den Spielen der Macht verschiebt und sie dadurch auszehrt. Vieles spricht dafür, dass die große Rezession diese Prozesse beschleunigt, und es ist offen, welche Machtkonstellation die von ihr geprägte neue Regierungsphase bringen wird. Aber es ist dringlich zu fragen – wie im vorliegenden Heft –, wie lange Kampfzyklen (»Seattle«) zu bilanzieren und aktuelle Oppositionen und Gegenwehr zu verstehen sind. Denn die Regierungsphase wird ja nicht ohne Einspruch bleiben. Eine neue, Ost- und Westlinke vereinigende Partei ist entstanden, ebenso Bewegungsorganisationen wie Attac. Die Gewerkschaften sind offensichtlich inmitten der Suche nach einem neuen Kurs, der nicht nur ihr historisches Verhältnis zur SPD betrifft, sondern sie auch zur Diskussion einer inhaltlichen Neuorientierung und zu neuen Formen transstaatlicher Solidarität drängt. Der Volkssouverän formiert sich neu – auch auf globalem Niveau: die Weltsozialforen, die Proteste gegen die G8-Treffen, gegen die G20-Treffen, die Mobilisierungen zu den großen internationalen Konferenzen, die Zeit nach Seattle. Aber die Schwierigkeiten sind immens: es gibt Ressourcenprobleme, sprachliche Probleme. Das Potenzial der kritischen Intellektuellen ist gering. An den Hochschulen und Bildungseinrichtungen überwiegt trotz zahlreicher Proteste eine reaktionäre und elitäre Mentalität. Es wird Jahre dauern, bis sich erneut ein Wissen und ein Personal heranbilden kann, das nicht den »stummen Zwang der ökonomischen und politischen Verhältnisse« nachbetet, sondern ein kritisches Wissen über die Dynamik der kapitalistischen Ökonomie, über Gemeinwirtschaft, über Beteiligungsformen von Beschäftigten und Konsumenten, über Parlament und Parteien, über Demokratie und ihren Zusammenhang mit der kapitalistischen Praxis erarbeitet und einen entsprechenden Kanon des Wissens bildet: Themen, Begriffe, Theorien, Traditionen. Gegenwärtig leidet die Gesellschaft an einer Amnesie, wesentliche Begriffe zum Verständnis der verhängnisvollen Zustände sind tabu. Es fehlt an vielen Stellen der Wille ebenso wie die Fähigkeit, die Zeit und die Muße, die Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und der Alternativen zu diskutieren. Eine Diskussion, die auf der Einsicht beruht, dass der Ernstfall, die Katastrophe schon eingetreten ist in einer Gesellschaft, die auf einem Wirtschaftssystem beruht, das jeden Tag viele Menschen in den Tod reißt und trotz aller hehren Verlautbarungen demokratische Ansprüche, Ansprüche auf Gleichheit, Freiheit und Solidarität, immerfort enttäuscht. Es bedarf des Denkens des Gesamtzusammenhangs, der politischen Urteilskraft und der Einübung in die Kunst der Strategie, die mit dem Blick auf das radikal Mögliche die erreichbaren konkreten Alternativen anstrebt.