Prolog

Wer, wie ich, in Wien unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen Augarten und Wallensteinstraße aufgewachsen ist, weiß, dass in dieser Gegend viel Tschechisch und Slowakisch gesprochen wurde. Die alten Frauen im Beserlpark am Gaußplatz unterhielten sich in ihren Muttersprachen. Wenn sie Deutsch sprachen, merkte man vor allem an der Phonetik, dass dies höchstens ihre zweite Muttersprache sein konnte. Liebevoll nannte man dieses Idiom »Behmageln«, was eben auf den böhmischen bzw. slowakischen (für die deutschsprachigen Wienerinnen und Wiener gab es da keinen Unterschied) Grundton Bezug nahm. Die Mehrheit der Familiennamen der 14 Mietsparteien in unserem Haus reflektierte diese Situation: Pany, Schebella, Cerny, Godai, Skolnik, Schrom, Korinek, Schimek; Wasitzky war polnischen Ursprungs. In der Volksschule wurde erhoben, wer zu Hause Deutsch sprach und wer eine andere Sprache. Das Ganze war so normal, wie etwas nur normal sein konnte. Es war der alten k.u.k. Monarchie geschuldet – ihrer ethnischen Vielfalt und ihrer weitgehenden inneren Freizügigkeit. Relikte urwiener Überheblichkeit gegenüber »Zugereisten« gab es wohl. Bei Rangkonflikten z.B. den Spruch »Zuerst der Weaner, dann der Behm« – fast immer scherzhaft gemeint. Von einer Freundin meiner Großmutter, einer Heurigensängerin namens Matzke (eine tschechische Ableitung aus Matthias), hörte ich öfter ein Lied über die Fronleichnamsprozession, die eine große Hetz (ein großer Spaß) in Wien war, und darüber, wer dort immer hin kam: »der Pany, der Wosselack, der Zwickidack, der Pschisty und der Haderlack, der Jiritschek, der Gebranek und auch der Wenzel Zschiptschaptschek, der Woprehal, der Zapledal …«.

Vorgeschichte

Arigona Zogaj ist ein Mädchen, dessen Vater 2001 aus dem Kosovo illegal nach Österreich eingereist ist und trotz eines abgelehnten Asylantrags 2002 seine Frau und seine Kinder nachkommen ließ. Der Vater arbeitet, die Kinder besuchen Schule bzw. Kindergarten. Sie sind im Heimatort beliebt, sprechen gut Deutsch und gelten als integriert. 2007 wird dennoch die Ausweisung vollzogen. Die Familie kommt in den Kososvo, nur Arigona entzieht sich der Ausweisung durch Verstecken. Eine tragische Geschichte beginnt: Arigona droht mit Selbstmord, ein Pfarrer outet sich als Verstecker und quasi Anwalt Arigonas vor der Öffentlichkeit. Arigona darf die Schule weiter besuchen. Geschwister kehren zeitweilig über Ungarn nach Österreich zurück usw. Von einem Magazin wird Arigona, die weiter um ihren Aufenthalt kämpft, 2010 zum »Mensch des Jahres« gewählt. Ihr Schicksal wird Gegenstand eines Theaterstückes von Franzobel: A Hetz oder Die letzten Tage der Menschlichkeit. Im Januar 2009 wurde eine weitere Dramatisierung der Geschichte durch Holger Schober unter dem Titel Heimat.com in Heilbronn uraufgeführt.

Eine Meldung und die Kommentare

Eine an sich neutral gehaltene Meldung auf der Internetseite » krone.at« informiert am 6.1.2010 über die Uraufführung, verweist auf die bereits vorhandene Dramatisierung und erinnert in zwei Sätzen an die realen Begebenheiten rund um Arigona. Außerdem wird darüber informiert, dass auch in Deutschland 14000 Kosovaren von der Abschiebung bedroht wären, Europarat und Vereinte Nationen allerdings der Meinung seien, dass eine Rückkehr dieser Menschen in Sicherheit und Würde nicht möglich sei.

Stellt man für diese Meldung die Intertextualität her, die Beeinflussung des Verständnisses durch bereits bekannte Texte, stößt man auf einen sehr emotional ausgetragenen Streit um das Schicksal der Familie, um die Rechtmäßigkeit der Abschiebung und deren Angemessenheit. Verquickt ist dieser Streit mit den Konflikten konträrer Einschätzungen der Situation und Motive der Asylbewerber: »Menschen in Not« versus »Schmarotzer am österreichischen Wohlstand«. Die KronenZeitung ist hauptsächliche Plattform der Vertreterinnen und Vertreter der zweiten Wertung, davon zeugen die Kommentare zur Meldung – quantitativ und qualitativ. Sie zeigen die Einstellungen der Kommentierenden zu Asylbewerberinnen und -bewerbern generell, zur Familie Zogaj, zu Arigona und ihren Unterstützerinnen und Unterstützern im Besonderen und zur Dramatisierung in Deutschland im aktuellen Fall.

Untersucht habe ich 59 Kommentare, die am 6.1.2010 zwischen 16:51 Uhr und 18:33 Uhr abgegeben wurden. Bei den Kommentaren wird immer die Zahl der Zustimmungen durch Leserinnen und Leser genannt. Ich füge diese ebenfalls hinzu. Man kann aber nicht erkennen, wie viele verschiedene Leserinnen und Leser hinter den jeweiligen Kommentaren stehen. Wenn ich zitiere, behalte ich die Originalorthographie bei.

Die gesamte Asylproblematik, die in Österreich wesentlich von der negativen Haltung der rechtspopulistischen Parteien FPÖ und BZÖ zu illegal eingereisten Ausländerinnen und Ausländern sowie Asylantinnen und Asylanten geprägt ist, wird z.B. als »Wahnsinn« bezeichnet (einmal 17, einmal 46 Zustimmungen), mit dem »Schluss« gemacht werden müsse. »Diese Ausländer führen sich auf, als ob sie bei uns zu Hause wären!!!!!« wird in einem Kommentar gesagt (21 Zustimmungen). Das Theaterstück könnte in Deutschland die Ansicht stützen, in Österreich wäre es einfach, illegal zu leben und die Behörden lächerlich zu machen. Das könne dazu führen »dass wir demnächst wort-wörtlich überrannt werden. den dise stück wird beispielgebend sein« (16 Zustimmungen). Andererseits wird die Premiere des Stücks in Heilbronn zum Anlass und Argument genommen, Arigona mit ihrer Familie nach Deutschland abzuschieben oder auf Welttournee zu schicken. In sieben Kommentaren kommt dies zum Ausdruck (281 Zustimmungen). »Bitte die Arigona nach Deutschland schicken und lasst sie und ihre Familie an dem Theaterstück mitverdienen – dann sind wir sie los und die Diskussion hätte endlich ein Ende!!!« (104 Zustimmungen). Das Theaterstück wird auch als Provokation des Volkes verstanden (einmal 22 Zustimmungen, einmal 4). »Solche ›Theaterstücke‹ werden von Nestbeschmutzern gemacht« (14 Zustimmungen). Es wird empfohlen, Österreich solle bei falscher Darstellung der Sachverhalte im Stück klagen: »wegen unwahrheit, verhöhnung österreichs usw. alles was man da klagen kann« (26 Zustimmungen). Der Darstellung der Welt im Theater wird der »Fall Arigona« als Theater oder auch »Kasperletheater« (79 Zustimmungen) gegenübergestellt. »›Unsere neuen Super Stars‹ – Arigona u. Natascha! Applaus« (82 Zustimmungen). In einer Nebenlinie wird fünfmal (durchgängig negativ wertend) auf das Schicksal von Natascha Kampusch Bezug genommen, die, als Kind entführt, acht Jahre in Gefangenschaft gehalten wurde – immer mit verächtlich machender Wertung (z.B. »hauts eich auf a packal«, »gemeinsam im keller einsperren«, insgesamt 157 Zustimmungen).

In einem Kommentar wird gefragt, »Kommt nach Hollywood und Bollywood jetzt Kosowood ??????« (42 Zustimmungen). Die Vorgänge um Arigona seien eine »schmierenkomödie« und »wohl ein geschmackloser witz« (46 Zustimmungen). Die Akteure der realen Vorgänge seien »besser als jeder gelernte Schauspieler, sonst könntens uns ja nicht so ein Theater vorspielen und das über Jahre hinweg« (21 Zustimmungen). »Theaterstück« sei sehr treffend, denn »die show die da abgezogen wurde entsprach einem theater. allerdings einem schlechten« (12 Zustimmungen).

Theater […] (ugs. abwertend) Unruhe, Verwirrung, Aufregung, als unecht oder übertrieben empfundenes Tun … (Duden)

Als »Mensch des Jahres« wird Arigona in einem Kommentar als »schmarotzerin« ironisch den »einheimischen frauen« gegenübergestellt, die – wiederum ironisch – nichts leisten. Es sei aber Arigonas Generation, die »gar nicht ans arbeiten denkt oder noch weniger daran gewöhnt ist? aber andersrum. warum soll man etwas leisten, wenn man alles geschenkt bekommt« (9 Zustimmungen).

Die Beispiele zeigen die ablehnende Distanz zu differenziertem Umgang mit Asylbewerberinnen und -bewerbern. »Abschieben«, »heimschleichen«, »abstrafen«, »Schluss machen mit dem Wahnsinn«, »nach Deutschland holen« sind die Empfehlungen. »… im Wohnhaus sind mehr Immigranten als Einheimische…«, wird festgestellt. Langwierige Prozeduren werden als »Theater« auf Kosten der Steuerzahler empfunden. Könnte man dies alles noch als wenig sachliche, gefährlich verkürzende, schablonenhafte, sprachlich deftige, aber legitime Meinungsäußerung verstehen, so entlarven die direkten Bezeichnungen für Arigona und ihre Familie bzw. Asylbewerberinnen und -bewerber überhaupt den inhumanen, z.T. faschistoiden Meinungssumpf, aus dem unerträgliche Sprachblasen aufsteigen: Immerhin 31 Leserinnen und Leser stimmen zu, man könne von »Arigona und ihre Muschpoke« sprechen, von »dem Kaliber«, von dem man hier genug hätte. Mit der Benennung »Schmarotzerin« stimmen 14 Personen überein, »kosovarisches Gsiachtl« (20 Zustimmungen), »grinsende Kosovoabzockergesindel« (20 Zustimmungen). »Illegal eingereiste arbeitsscheugesindel« (24 Zustimmungen), »Pack« (22 Zustimmungen), »illegal eingereiste Gesetzesbrecher« (21 Zustimmungen), »Gesocks« (12 Zustimmungen). Der Arigona schützende Pfarrer ist der »pfarrer, der ihr am hintern gafft« (36 Zustimmungen).

Mischpoke […] üble Gesellschaft, Gruppe von unangenehmen Leuten […]

Kaliber […] (ugs. häufig abwertend) Art, Sorte: ein Verbrecher tollstens […]

schmarotzen […](abwertend): faul auf Kosten anderer leben […]

Gesindel […] (abwertend) Gruppe von Menschen, die als asozial, verbrecherisch o.ä. verachtet, abgelehnt wird […]

Pack […] (salopp abwertend) Gruppe von Menschen, die als asozial, verkommen o.ä. verachtet, abgelehnt wird […] (Duden)

Gegenpositionen oder abmildernde Äußerungen formulieren kaum vier Kommentare, sie finden 28 Zustimmungen. Sie werden von anderen als »gutmenschen« bezeichnet, die sich »wirklich bis zum rand der erschöpfung papierln« lassen (12 Zustimmungen).

Epilog I

Am 17.1.2010 schreibt die Kronen-Zeitung eine zweiseitige Titelgeschichte zu Thomas Vanek. Er ist ein erfolgreicher österreichischer Eishockeyspieler in der nordamerikanischen NHL und entscheidender Leistungsträger in der österreichischen Eishockey-Nationalmannschaft. Geboren wurde er 1984 in Baden bei Wien als Sohn eines zwei Jahre zuvor emigrierten tschechisch-slowakischen Ehepaares. »Da hat das Schicksal seine Weichen gestellt: Als seine Eltern auf der Flucht nach Österreich nicht aufgaben. Als sich die Mutter auf die Kühlerhaube setzte, mit den Händen an die Scheibenwischer geklammert, weil das armselige Auto die Passhöhe sonst nicht erschnauft hätte. Als ein Grenzmann die kleine Familie im UrlauberStau durchließ. Sie waren aus dem Osten geflohen, um über Österreich das Glück in Amerika zu suchen. Sie landeten in Traiskirchen … Der Vater ein willkommener Eishockey-Spieler und Trainer. … Sportler des Jahres war Thomas Vanek eh schon. Als Mensch des Jahres könnte seine Vorbildwirkung noch vertieft werden.« (Kronen-Zeitung, 17.1.2010, 12f)

Epilog II

In dem burgenländischen Ort Eberau wurde am 21.2.2010 darüber abgestimmt, ob dort ein geplantes Erstaufnahmezentrum für Asylbewerber gebaut werden solle. Der Abstimmung war in ganz Österreich eine mehrere Monate dauernde, sehr emotional geführte Diskussion vorausgegangen, in der sich burgenländischer Wahlkampf und Sachfrage stark vermischten. Die Kronen-Zeitung ermutigte dazu, den verantwortlichen Politikerinnen und Politikern, insbesondere der Innenministerin (ÖVP), durch eine Ablehnung des Baus mittels direkter Demokratie einen Denkzettel zu erteilen. Die Einwohnerinnen und Einwohner von Eberau lehnten das Erstaufnahmezentrum schließlich mit mehr als 90 Prozent der Stimmen ab. Dazu schrieb am 23.2.2010 »Jeanneé«, ein Kolumnist der Kronen-Zeitung, der sich täglich in Brief-Form äußert (»Post von Jeanneé«): »nur isses nicht so, dass die Österreicherinnen und Österreicher Asylanten und Politflüchtlinge pauschal nicht wollen – das haben sie 1956 (Ungarn-Krise) und 1968 (Prager Frühling) zur Genüge bewiesen. Was sie aber in der Tat nicht wollen, ist jenes als Asylwerber getarnte Gesindel, das über die offenen Schengen-Grenzen wie ein krimineller Zsunami in unser Land schwappt.« (12)

Die Kronen-Zeitung legitimiert ihre oft direkte, feindselige Sprache im Zusammenhang mit Ausländerinnen und Ausländern durch die Sprache ihrer Leserinnen und Leser. Die Leserinnen und Leser legitimieren ihre SprachGewalt aus Kommentaren und Berichterstattung der Kronen-Zeitung selbst, die sprachlich zwar oft sanfter formuliert, der Sprach-Gewalt der Leserinnen und Leser aber öffentlichen Raum und freien Lauf gibt. Es gibt Unterschiede zwischen illegaler Einreise und illegaler Einreise. Sie wurde immer begrüßt, solange sie aus den alten Ostblockstaaten heraus führte. Sie wird begrüßt, wenn sie sportliche Erfolge bringt. Elend und Gefahr für Leib und Leben im Herkunftsland allein und einfache Arbeit und Schulerfolg gelten nicht als Legitimation. Es gibt also Menschen verschiedenen Werts. Dieser Wert misst sich am Nutzen für Österreich und nicht an allgemeiner Menschlichkeit und Menschenrechten. Wer keinen Nutzen bringt, bringt Schaden, wird als asozial und kriminell denunziert.