»Ich bin mit dem Verein groß geworden, habe all meine Zeit dort verbracht, er war mein Zuhause.« So erklärt ein Kollege seine persönliche Verbindung zum Fußball und wie verloren er sich fühle, seit ihm sein Fußballklub abhandengekommen ist. Ein Investor hatte Geld für den Fünftligisten bereitgestellt, woraufhin sich die Fanszene angesichts unterschiedlicher Vorstellungen spaltete. Ein miserables Gefühl, ein Zuhause zu verlieren.

Am 26. Juni 2021 ziehen anlässlich eines Testspiels im tschechischen Most Anhänger*innen des Chemnitzer FC durch die Straßen und singen ein Lied der Gruppe Landser. Sie enden mit der Zeile »Und dann kehrt Deutschlands Osten endlich wieder heim, Sieg Heil!« Ein miserables Gefühl, wenn dieser Verein lange Zeit dein Zuhause war oder noch immer ist.

Schon mit 17 Jahren waren ein Kumpel und ich uns einig: »Es gibt kein geileres Gefühl, als auswärts in Führung zu gehen.« Wir waren gerade aus Bielefeld zurückgekommen, morgens um vier. Acht Stunden Rückfahrt, zwei Stunden Vollsperrung auf der Autobahn inklusive. Unser Club hatte 3:1 verloren. »Scheiß drauf«, sagte er, »wenigstens das 1:0 gemacht. Was gibt es bitte Geileres, als in irgendeiner Scheißstadt im Westen das 1:0 zu machen?«

Mit Gramsci durch Fußballdeutschland

Diese Anekdoten haben alle auf die eine oder andere Weise mit Politik zu tun, obwohl es um Fußball geht. Im Falle des geschilderten Ereignisses in Most mag das sofort einleuchten. Aber auch, dass jemand seinen Fußballverein verliert, kann nicht nur eine persönliche, sondern eine politische Tragödie sein. Alle aktiven Fankurven und die meisten Sportvereine sind geprägt von politischen Auseinandersetzungen. Warum ist das so?

Ein großer Teil von Politik, also des Verhandelns darüber, wie wir Menschen zusammenleben, unsere Bedürfnisbefriedigung organisieren und wie wir dabei mit den natürlichen Ressourcen umgehen, findet weit weg von Parlamenten und Talkshows und außerhalb von Parteien statt. Fußballvereine, ihre Stadien und Kurven sind Orte, an denen sich Gewohnheiten, Emotionen und Überzeugungen herausbilden, die kollektiv verhandelt und gelebt werden. Die Welt, in die Stadien und Sportplätze eingebettet sind, wird bei den dort bestehenden Konflikten immer mitverhandelt. Das Stadion kann deshalb kein politikfreier Raum sein – egal, wie sehr sich Vereins- und Verbandsfunktionäre das wünschen. Im Gegenteil: Trainer und Spieler sind Vorbilder, in Konflikten wird um den richtigen Umgang gerungen. Wer darf eigentlich was und wem gehört der Verein? Den Mitgliedern oder den Sponsoren? Wer ist unter welchen Bedingungen in der Kurve willkommen? Wie teuer dürfen Ticketpreise sein und in welchem Verhältnis stehen sie zum sportlichen Erfolg? Will und kann man sich ökonomischen Zwängen im Fußball entziehen? Oder: Gibt es ein richtiges Leben im falschen Profifußball?

Bei Vereinen und Stadien handelt es sich um sogenannte vorpolitische Räume. Es sind Räume, die die Masse der Menschen niemals als »politisch« verstehen würde und die es doch hochgradig sind. Der Marxist Antonio Gramsci hat versucht, die Bedeutung vorpolitischer Räume theoretisch zu fassen. Heute gilt er vielen als einer der herausragenden Denker der Arbeiter*innenbewegung des 20. Jahrhunderts. Eine seiner zentralen Thesen lautet, dass sich die Änderung gesellschaftlicher Machtverhältnisse nicht einfach in einem großen Knall vollziehe, sondern jeder noch so abrupten Veränderung ein langer Kampf konkurrierender Ideen vorausgehe. Ob ein politisches System fortbestehen kann, ob eine Idee oder eine gemeinsame Praxis politisch durchgesetzt werden kann, hängt auch davon ab, wer mit welchen Werten und Vorstellungen die vorpolitischen Räume prägt. Um es mit einem Begriff Gramscis auszudrücken: Nur wer es schafft, in der Masse der Bevölkerung hegemonial zu werden, wird sich auch politisch durchsetzen können. Nur was als Praxis in den vorpolitischen Räumen bereits akzeptiert und gelebt wird, kann in Politik im engen Sinne gegossen werden.

Der Schriftsteller Édouard Louis greift diesen Gedanken auf, wenn er schreibt: »Eine Stimme lässt sich nur dann erheben, wenn es bereits einen Raum gibt, wo das möglich ist. Solche Räume können sehr verschieden sein, ein Film, eine Gewerkschaft, ein Verein.« Es ist sicherlich kein Zufall, dass besonders Fußballvereine nicht nur Orte der Politisierung, sondern teils Motor für soziale Auseinandersetzungen sind. Fußballfans sind an vorderster Front dabei, wenn Polizeigesetze verschärft werden sollen, weil sie deren Anwendung am eigenen Leibe erfahren. Wenn Fans Banner zur Unterstützung von Pflegevolksbegehren in der Kurve zeigen, hat das eine höhere Reichweite als vieles, was politische Gruppen versuchen, um Aufmerksamkeit zu erlangen. Warum aber liest man in der Münchener Kurve Spruchbänder wie »One Solution – Feminist Revolution! Jin, Jiyan, Azadi«, während man bei einem Dresdner Gastspiel in St. Pauli lesen konnte: »Ihr müsst heute Abend hungern, weil eure Fotzen mit euch im Block rumlungern«? In Vereinen und Kurven sind verschiedene Gruppen mit ihren jeweiligen politischen Einstellungen und Idealen hegemonial. Es heißt aber nicht, dass in der Kurve alle damit konform gehen.

Hegemonie ist, wenn dein Feind deine Worte auf den Lippen tragen muss

In den Statuten sämtlicher großer Ostvereine wird irgendwo ein Passus zu finden sein, der Diskriminierung und Rassismus verurteilt und den Kampf gegen diese Phänomene zum Vereinszweck erklärt. Mit Hegemonie hat das meist nichts zu tun, bei vielen Vereinen von der Kurve bis in die Vereinsführung hinein gibt es bestenfalls ein instrumentelles Verhältnis zu derlei Erklärungen. Es gehört heutzutage einfach dazu, die Sponsor*innen und Bürgermeister*innen wollen das sehen, es tut ja auch nicht weh, so etwas in der Satzung stehen zu haben. Diese Einstellung ist wenig verwunderlich, wird sie doch von den (meist westdeutschen) politischen Eliten genau so vorgelebt: »Wir dürfen Rassismus, Antisemitismus und das Infragestellen unserer Demokratie nicht zulassen«, lässt Markus Söder auf Twitter ausrichten und führt gemeinsam mit Friedrich Merz konzertierte Kampagnen durch, um Menschen mit Migrationsgeschichte die Schuld für Silvesterkrawalle und mangelnde Sicherheit zuzuschieben.

Auch in der Satzung des Chemnitzer FC heißt es, der Club trete »verfassungsfeindlichen, extremistischen, rassistischen, fremdenfeindlichen und jeden anderen diskriminierenden Bestrebungen entschieden entgegen«. Sie wurde im Mai 2022 verabschiedet, mit Romy Polster als Präsidentin. Auf eine neue, von bekannten Rechtsradikalen organisierte Ultragruppierung angesprochen, sagt sie ein halbes Jahr später: »Wir haben uns sogar mit den rechtsextremen Personen in Kontakt gesetzt und gesagt, was wir erwarten und von ihnen verlangen – nämlich, dass sie das Stadion frei von Rechtsextremismus machen und halten.« Rechtsextreme Personen gegen Rechtsextremismus im Stadion also. Es ist anzunehmen, dass die Präsidentin weder persönlich am politischen Erfolg solcher Kräfte interessiert noch eine Feindin der vereinseigenen Satzung ist. Die Hegemonie rechter Akteure zeigt sich auch darin, dass eine Präsidentin glaubt, sie müsse sich auf diese Kräfte einlassen und sie aktiv teilhaben lassen, um für Ruhe im Verein zu sorgen. Obwohl sie große Sponsoren gewinnen und sich mit dem SPD-Bürgermeister gutstellen muss, trägt sie die Agenda der Rechten auf den Lippen, ohne selbst erkennbar rechts zu sein.

Was tun gegen rechte Hegemonien?

Die beiden Autor*innen stammen aus dem Osten und sind auf unterschiedliche Art mit Fußballvereinen groß geworden. Der eine wurde als Fan des Chemnitzer FC geboren, wo rechte Gruppierungen aktiv versuchen, die Kurve zu dominieren und Nachwuchs zu gewinnen. Der Club erregte etwa Aufsehen damit, dass einem ehemaligen Organisator der rechten Szene nach dessen Tod offiziell im Stadion gedacht wurde. Aus der Sicht von Linken in solchen Vereinen stellt sich die Frage: Wie ist mit der rechten Dominanz auf den Tribünen umzugehen?

Die andere Autorin stammt aus Potsdam, der Heimat des SV Babelsberg 03. Seit 1998 Anhängerin des Clubs, wurde sie 2021 Vorstandsvorsitzende. Der Verein ist über die Stadt- und Landesgrenzen hinaus bekannt – weniger wegen der sportlichen Erfolge als wegen seines politischen Engagements etwa für Klimaschutz und Nachhaltigkeit im Sport. Eine bundesweite Petition für die Abschaltung von Rasenheizungen zeichneten circa 40 000 Menschen und riefen damit den Deutschen Fußball-Bund (DFB) auf den Plan. Noch eindrücklicher war die Nazis-raus-aus-den-Stadien-Kampagne: Nach einem entsprechenden Fanausruf wurde der Verein vom regionalen Fußballverband zu einer Geldstrafe verurteilt. Daraufhin schlossen sich sogar Bundesligisten wie Werder Bremen und Borussia Dortmund der Kampagne an. Der Verein gilt manchen als das St. Pauli des Ostens, weil er eine mehrheitlich linke Fanszene hat und sich auch die Vereinsgremien zu politischen Themen positionieren. Alles andere als der Normallfall im Osten.

Kämpfen mit Welcome United 03

Am Beispiel des SV Babelsberg 03 zeigt sich, dass Fußballvereine auch auf gesamtgesellschaftlicher Ebene um das Politische ringen. Im Zuge der erhöhten Einwanderung um 2015 gründete der Verein auf Initiative und mit Unterstützung der Fans das Team »Welcome United 03«. Die Mannschaft bestand nur aus Geflüchteten, für die es zunächst vor allem darum gehen sollte, regelmäßig trainieren und Fußball spielen zu können. Der Verein stellte die Infrastruktur für etwa 60 Spieler zur Verfügung. Dabei sollte es aber nicht bleiben. Das Ziel: Teilhabe auf Augenhöhe. Nach einiger Zeit wurde das Team als dritte Mannschaft des Vereins für den regulären Spielbetrieb gemeldet und bestritt nach anfänglichen Freundschafts- und Testspielen tatsächlich auch Punktspiele.

Das bedeutete auch: Spiele im Potsdamer Umland, in der tiefsten Brandenburger Provinz, bei berüchtigten Gegnern. Für die oftmals traumatisierten Geflüchteten keine einfache Situation. Hass und Hetze auf der einen Seite stand aber eine riesige Willkommensbewegung gegenüber. Die Unterstützung im eigenen Verein war enorm: Fans sammelten Geld, wurden Trikotsponsoren und auswärts waren sie zugleich eine Art Sicherheitsdienst. Für den Verein war klar: Wir kommen nicht nur zum 90-minütigen Kick vorbei, jedes Spiel war zugleich ein Statement und ein Angebot. Im Anschluss gab es die Möglichkeit, Menschen mit Namen und Geschichten zu treffen, was auch fast immer angenommen wurde.

Für die Spieler war das Team eine wichtige Unterstützung dabei, in einer neuen Heimat anzukommen. Sie fanden Freunde, kamen mit ihren Kindern zu Heimspielen und bekamen teils sogar Angebote für Jobs und Weiterbildungsmöglichkeiten. Manche schafften gar den Sprung in höherklassig spielende Mannschaften. Für den Verein und seine Fans war diese intensive Zeit identitätsbildend. Die Werte, für die der SV Babelsberg 03 auch vorher schon stand, wurden konkret gelebt.

Vom Fernbleiben und Gegengewichten 

Hegemonie in einem gesellschaftlichen Raum zeichnet sich auch dadurch aus, dass der Zugang anders eingestellter Personen und Gruppen eingeschränkt ist. Das geschieht implizit über Kleidungscodes, Kommunikationsweisen und -inhalte sowie explizit über Drohung und Gewalt. Genau deshalb bleiben Fans aus linken Milieus der Kurve vieler ostdeutscher Stadien fern.

Dennoch gibt es in nahezu allen Vereinen, denen ein braunes Image anhaftet, auch Gegenbewegung wie zum Beispiel »Cottbus-Fans gegen rechts« oder »CFC-Fans gegen Rassismus«. Die Motivation hinter diesen Zusammenschlüssen: Als Einzelner gegen eine mit Gewalt abgesicherte Hegemonie vorzugehen ist schwer. Mit einer Gruppe, der es gelingt, verschiedene Interessen und Teile des politischen Spektrums gegen diese Hegemonie in Stellung zu bringen, wird es einfacher oder überhaupt erst möglich. Solche organisierten Gegengewichte führen in der Regel kein leichtes Leben. Sie bewegen sich in einem Spannungsfeld aus Vereinnahmung, Bedrohung und Argwohn. Der Argwohn kommt dabei auch von vielen, die sich gern als unpolitisch oder mittig bezeichnen. Hier zeigt sich ein weiteres Merkmal von Hegemonie: Der Hegemon setzt die Normalität, was ihr zuwiderläuft, wird als Politik, als Ideologie wahrgenommen. In Ostdeutschland konnte bereits in vielen gesellschaftlichen Räumen eine genuin rechte Erzählung durchgesetzt werden, nämlich dass wir in einer von links-grünen Eliten beherrschten Republik leben würden, die für den nationalen Niedergang und soziale Verwerfungen verantwortlich seien. Wer Elemente dieser Ideologie bereits verinnerlicht hat, wird Einsprüche dagegen weniger als Aufbegehren denn als Dienstleistung im Sinne der Herrschenden interpretieren.

Gerade dort, wo Image und Berichterstattung das Bild eines »braunen« Clubs zeichnen, besteht oft ein ausgeprägtes Bedürfnis, zu zeigen, dass »hier nicht alle so sind«. Klar ist, nicht alle Fans verfügen über ein geschlossen rechtes Weltbild. Klar ist aber auch, dass die rechte bis rechtsradikale Hegemonie in mancher Kurve kein Hirngespinst einer westdeutschen Journalistenkaste ist. Angesichts über Jahrzehnte hinweg erlebter Ungerechtigkeiten der bundesdeutschen Politik und beim medialen sowie allgemeinen Umgang mit Ostdeutschland fällt es rechten Kräften jedoch leicht, diesen Vorwurf als Hirngespinst und ahnungsloses Gerede darzustellen. Selbst Menschen, die sich für unpolitisch oder explizit nicht rechts halten, lassen Abwehrreflexe erkennen.

Wem gehört der Sonnenberg?

Denkt man Hegemonie nicht nur im Vereinsrahmen, sondern bezogen auf ganze Stadtviertel oder gar Städte, ergeben sich weitere Handlungsoptionen. So gibt es überall in Deutschland Vereinsneugründungen von antirassistisch und antifaschistisch eingestellten Menschen, die sich im Ringen um die Hegemonie im Fußball dadurch größere Handlungsoptionen erhoffen. Der 2020 gegründete Verein Athletic Sonnenberg etwa ist im selben Stadtteil beheimatet, in dem auch der Chemnitzer FC seine Heimspiele austrägt, Sonnenberg. Diejenigen, die den Verein 2020 aus der Taufe hoben, sagen, es geht in erster Linie um Sport. Mittlerweile spielen dort zwei Fußball-Männermannschaften, eine Volleyballer*innen-Mannschaft und zwei Fußball-Jugendmannschaften. Der Verein wächst schnell. Zu den Spielen der ersten Fußball-Männermannschaft kommen regelmäßig Zuschauer*innen im niedrigen dreistelligen Bereich. Das ist viel für eine Kreisligamannschaft, auch wenn man aktuell die Tabelle anführt und den zweiten Aufstieg in Folge anpeilt. »Das liegt daran, dass wir etwas Neues machen, frisch und modern«, sagt Ferenc, einer der Mitgründer. »Die Leute kommen und haben das Gefühl, dass da etwas entsteht, wo man dabei sein will. Die anderen Vereine machen ja keine schlechte Arbeit, aber es macht etwas aus, ob der Vorstand aus drei Leuten zwischen 27 und 32 Jahren besteht, die die Lebensrealität der jungen Leute hier kennen und teilen.«

Auf die Frage, ob das Interesse auch etwas mit dem politischen Fundament des Vereins zu tun habe, antwortet Ferenc: »Klar, wir machen keinen Hehl aus unseren Werten. Bei uns ist erstmal jede*r willkommen, wenn er bereit ist, sich auf den Verein einzulassen. Zu unserem Fundament gehören Diversität, die Verankerung in migrantischen Milieus und Inklusion einfach dazu.« Damit mache man sich in der Stadt nicht nur Freunde, die Skepsis gegenüber Neugründungen sei groß, ständig kursierten Gerüchte. »Die Wahrheit liegt auf dem Platz, und wir wollen beweisen, dass wir einen langen Atem haben. Wir sind nicht einfach irgendein Gegenprojekt, sondern organischer Teil des Viertels.« So gebe es auf dem Sonnenberg eben nicht nur Nazis, sondern auch viel migrantische Kultur, viele Läden, viele junge Menschen, die der Verein mitnehme. Die Hauptsponsoren sind ein vietnamesisches Restaurant, eine Chemnitzer Anwaltskanzlei und ein Schmuckversand. Nach fast jedem Sieg singen Fans und Mannschaft gemeinsam »Athletic Sonnenberg wird deutscher Meister und wir holen den Pokal« – auf die Melodie des italienischen Partisanenliedes »Bella Ciao«.

Wir erzählen die zu Anfang geschilderte Anekdote und fragen, ob es auch für ihn das Geilste wäre, auswärts das 1:0 zu machen. Er grinst: »Zu Hause ist schon auch geil.«