Dieser Beitrag von Helmuth Hildebrandt und Sabrina Apicella ist aus Diskussionen und Veranstaltungen des »Linken Forum Oldenburg« entstanden. Es ist ein Vorabdruck aus dem Sammelband von Otto Lüdemann und Ulrich Schachtschneider (Hrsg.): „Basic income needs Europe, Europe needs basic income”, der 2019 erscheinen soll. An mehreren Stellen wird auf weitere Beiträge aus diesem Band verwiesen.
Der Sommer der Migration 2015 stellt für Deutschland und Europa eine Zäsur dar. In Folge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 (lesenswert dargestellt bei Georgi 2016), den Anschlägen in Paris und den Ereignissen der Kölner Silvesternacht im selben Jahr erstarkten nationalkonservative Kräfte – nahezu europaweit. Zentrale Themen der neuen und alten Rechten sind dabei nationaler Protektionismus und eben eine Politik der Abschottung gegen Migration.
Auffällig ist, dass sich die öffentliche Debatte stark auf Bewegungen außereuropäischer Geflüchteter bezieht. Inzwischen tritt aber auch die innereuropäische Binnenmigration in den Vordergrund. Tatsächlich übersteigen die innereuropäischen Migrationen die außereuropäischen seit Jahrzehnten erheblich. Mit dem Freizügigkeitsgesetz für EU-BürgerInnen (ab 2004) hat die Migration aus den südosteuropäischen in die westlichen und nordeuropäischen Länder noch einmal deutlich zugenommen. Diese Tendenz hält weiterhin an. Gleichzeitig kommt es damit in den südosteuropäischen Ländern zu massiven Bevölkerungsverlusten (VID 2018, Gall et al 2018). So hat z.B. Ungarn trotz hoher Geburtenraten zwischen 1990 und 2017 sechs Prozent seiner Bevölkerung verloren, Serbien acht Prozent, Kroatien 13 Prozent, Lettland sogar 27 Prozent. Nach einer Schätzung der UN liegen 16 der 22 Länder mit den höchsten Bevölkerungsverlusten bis 2050 in Südosteuropa. Diese Entwicklung ist im gewissen Maße paradox, denn die Abwanderung findet statt, obwohl viele dieser Länder zugleich ökonomische Wachstumsraten deutlich oberhalb des europäischen Durchschnitts aufweisen und fest in die Wertschöpfungsketten deutscher Kapitale integriert sind. In Ländern wie Deutschland wird auf diese Migration oft mit rassistischen und pseudowissenschaftlichen Darstellungen der Menschen als Kriminelle, Ausnutzer*innen der Sozialsysteme oder als Verschmutzer*innen der Städte reagiert. Gleichzeitig nehmen gewaltförmige, rassistische und gegen Minderheiten gerichtete Übergriffe zu, werden aber schlecht dokumentiert.
Das Thema Migration hat den politischen Diskurs nach rechts verschoben. Wir wollen im Folgenden versuchen, eine linke Perspektive auf es zu eröffnen, die in die Tradition kritischer Theorie steht und auf das Datum 1968 Bezug nimmt. Dieser Versuch ist darüber hinaus internationalistisch orientiert und realistisch, insofern Aussagen über politische Einheiten getroffen werden, die durch unmittelbare politische Praxis erreichbar sind. Deswegen konzentrieren wir uns auf Europa und die EU als größtes politisches Gebilde, in der ein politischer Machtwechsel für uns als dort Lebende möglich erscheint. Im Zentrum unseres Versuchs steht die Überlegung, dass die Unfreiheit der Migration, die sich durch ihre extreme Gerichtetheit dokumentiert, nur durch eine Kombination von sozialen und technologischen Commons aufgehoben werden kann. Wie auch immer man zu unseren Vorschlägen stehen mag: das Thema der Migration wird im Mittelpunkt linker Perspektivfindung stehen müssen, denn die prognostizierten Bevölkerungsverluste für Südosteuropa sind ausgeprägt, die Migration nach Nordwesten ist hoch, die Expansion der Wertschöpfungsketten des deutschen Kapitals ist dynamisch und die Ausbeutungsverhältnisse migrantischer ArbeiterInnen sind brutal, Fakten die nicht nur nicht ignoriert werden können, sondern einer Antwort bedürfen.
1968 und 2018: eine offene Situation?
Politisch wollen wir unseren Vorschlag mit einem analogisierenden Exkurs zu Marcuses „Versuch über die Befreiung“ (1969) beginnen. Dort finden sich drei Gemeinsamkeiten zwischen der damaligen und heutigen Situation, die wir kurz benennen wollen.
Erstens die Wahrnehmung eines weit verbreiteten Unbehagens mit der gesellschaftlichen Situation, welches dem von Marcuse angesprochenen Gefühl von Obszönität ähnelt. Der gesellschaftliche Lebensstil hat seither wenig an Obszönität verloren, er hat sich mit dem Anwachsen der Mittelschichten auf der Welt nur weiter ausgebreitet: Der Klimawandel und ihm folgende Katastrophen zerstören Menschenleben und ihre Lebensräume, während Klimaverträge gefeiert werden, die den steigenden Ausstoß von CO2 nicht aufhalten. Der Soja-Anbau wird für die Fleischproduktion gesteigert und Subsistenzwirtschaft dafür zerstört und gleichzeitig wird Hunger und Unterernährung konstatiert. Elektromobilität wird propagiert und zugleich die Produktion von SUV gefördert, obwohl bekannterweise alle ökologischen Vorteile der Elektromobilität sich an der Autogröße messen lassen müssen. Und es bleibt weiterhin obszön, wenn im Jahr 2017 die Rüstungsausgaben weltweit auf 1,67 Billionen US-Dollar steigen, während das UN Flüchtlingswerk mit einem Budget von 7,7 Mrd. US-Dollar nicht genügend Mittel für die Versorgung von Bürgerkriegsflüchtlingen besitzt.
Zweitens die ausgeprägte, neue Sensibilität gegenüber jeglicher Verletzung von Rechten. Nach Marcuse entwickelte sich diese neue Sensibilität im Prozess gemeinschaftlich oppositionell politischen Handelns, in Räumen, die sich dem Status Quo verweigern. In diesem Handeln drücke sich eine menschlich-feminine* Umgangsweise aus, eine gegenseitige Fürsorge, eine Zähmung zwischenmenschlicher Konkurrenz und eine Form zärtlicher Schönheit. Dieser Umgang unter den Menschen und zur Natur sei durch die Notwendigkeit zur Naturbeherrschung und durch das Privateigentum an Produktionsmitteln aus der männlich dominierten Sphäre der Lohnarbeit verstellt, quasi abgespalten. Weil die Armut durch die Produktivkraftentwicklung objektiv überwunden sei, könne sie erstmals in den Vordergrund treten.
Heute ist festzuhalten, dass die von Marcuse diagnostizierte neue Sensibilität in den letzten 50 Jahren wenigstens formal zu einer weitgehenden Befreiung geführt hat. So gehören offener Rassismus, Frauen*unterdrückung und Diskriminierung wegen Sexualität und Geschlecht nicht mehr zum offiziellen Jargon vieler Regierungen. Dagegen zeigten die erfolgreichen Kämpfe wenig Erfolg (oder eher Misserfolg) auf der Ebene der sozialen Umgestaltung der allgemeinen Lebensbedingungen (Nachtwey 2017).
Nichtsdestotrotz existiert die überschüssige Form von Sensibilität weiter. 2015 war nicht nur das Jahr mit der größten Migrationsbewegung – es war auch das Jahr einer erheblichen Sensibilität gegenüber deren Schicksal. Und die Arbeitsbedingungen der Migrant*innen in den Fleischfabriken Südoldenburgs werden von einer großen Bevölkerungsgruppe genauso abgelehnt, wie der dort praktizierte zerstörerische Umgang mit der Natur in Form industrieller Fleischproduktion und Überdüngung der Ackerflächen. Diese Sensibilität führt noch heute dazu, sich in sozialen Zentren und selbstverwalteten Wohnprojekten, bei Greenpeace, Attac oder in politischen Parteien zu organisieren und sich gegen Großprojekte (wie die erfolgreiche Verhinderung des Flughafens in Notre-Dame-des-Landes in Frankreich) oder mit Frauen*streiks zu wehren.
Drittens die ökonomische Ausgrenzung einer großen Gruppe von Surplus-Bevölkerung. Diese Surplus-Bevölkerung lokalisierte Marcuse in der US-amerikanischen Getto-Bevölkerung, die durch ein massives Bedürfnis nach gesellschaftlicher Änderung ausgezeichnet sei, dieses jedoch wegen ihrer Marginalisierung und mangelnde Ausbildung nicht gesellschaftlich relevant durchsetzen könne. Zwar gibt es in Deutschland und wohl auch in Europa kaum den der USA im Jahr 1968 vergleichbare Gettostrukturen. Wohl aber existiert eine massive Surplus-Bevölkerung, die größtenteils als Arbeitsmigrant*innen in die Länder der nordwestlichen EU wandert.
Es zeigt sich also, dass die drei zentralen Themenkreise von Marcuses Aufsatz, das Erleben von Obszönität der Gesellschaft, Sensibilität gegenüber individueller Unterdrückung und Naturzerstörung und ein objektiv vitales Bedürfnis nach Veränderung noch heute gegeben sind. Alle drei mobilisieren Menschen regelmäßig zum politischen und sozialen Handeln. Allerdings – und hier beginnt ein deutlicher Unterschied – bildeten vor 40 bis 50 Jahren die Bürgerrechtsbewegung, die neue Ästhetik der Hippies, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und Aufstände in den Gettos eine Klammer für die politisch radikale Opposition. Wie sähe eine Klammer für eine politisch radikale Opposition heute aus? Aus unserer Sicht wird uns diese Klammer paradoxerweise genau durch die Thematik möglich, die aktuell die linke Bewegung so schwächt: Migration.
Besondere Bedeutung der Migration
Versuchen wir Marcuse in diesen drei Punkten für die Analyse der heutigen Verhältnisse zu folgen, so ergibt sich daraus eine besondere Bedeutung der Migration. Denn die Surplus-Bevölkerung mit dem „vitalsten Bedürfnis nach Veränderung“ sind heute die Migrant*innen, das zeigt schon ihr offensichtliches Verhalten. Denn Migration ist gelebtes, positives Grundrecht: dort hingehen zu können, wo man sein möchte. Insofern ist sie befreiend, kontingent und turbulent. Migration ist aber auch doppelt gerahmt, erstens als individueller Ausweg: sich den sozialen und ökonomischen Unterdrückungen zu entziehen, indem man weggeht, sich der Obszönität nicht unterwirft. Mit der Migration werden Ansprüche und Rechte auf Freiheit gelten gemacht, die Möglichkeit der Verweigerung gegenüber den erlebten Zumutungen gewählt. Zweitens ist Migration heute deutlichstes Kennzeichen der Form und der Krise der Kapitalakkumulation – und quasi logistisch kontrolliert (Altenried et al 2017). Dieser zweite Rahmen gibt ihr eine einseitige Richtung: weg von den Regionen, wo Krise, Katastrophe und Krieg heute schon direkt erfahrbar sind, und hin in Richtung der vom Kapital etablierten Wertschöpfungsketten. Das Phänomen der Migration scheint im Herzen Europas einen objektiven Kulminationspunkt der weltweiten Entwicklung darzustellen: durch Migration wird die Ungleichheit der Lebensverhältnisse, die zunehmenden Folgen der Klimaveränderung,1 aber auch die Möglichkeit einer individuellen Befreiung aus den erlebten Ketten sozialer Zwangsverbände als gesellschaftliches Problem in die Zentren der Kapitalakkumulation getragen.