Am 6. Juni wird in Sachsen-Anhalt ein neuer Landtag gewählt. Es ist die letzte Landtagswahl vor der Bundestagswahl. Zugleich ist es die erste Wahl, nachdem alle Parteien ihre Personalfragen geklärt haben. Wer als Kandidat bzw. Kandidatin für’s Kanzleramt antritt, wer seine und ihre Partei vor allen anderen im Wahlkampf führt und vertritt. Deshalb wird der Wahlausgang von vielen Seiten – Wahlkampfstrategien, mediale Berichterstatter, Parteimitglieder, Bürgerinnen und Bürger – als wichtiges Stimmungsbarometer wahrgenommen, interpretiert und gedeutet werden. Mit dem Wahlergebnis und seinen Deutungen entscheidet sich ein stückweit auch, mit welcher politischen Grundstimmung dann die (parlamentarische) Sommerpause beginnt, wer im Aufwind und wer im Abwind ist. Wahlberechtigt sind 1,8 Millionen Bürgerinnen und Bürger. Seit Ende April werden Briefwahlunterlagen verschickt, etliche Kreuze sind bereits gemacht und abgeschickt worden.

Bundespolitische Deutungen 

 1. CDU-Ministerpräsident Rainer Haseloff regiert seit 2016 mit einer Koalition aus CDU, SPD und Grünen. Diese bundesweit erste »Kenia«-Koalition entstand, weil die AfD mit einem Stimmenanteil von über 23 Prozent in den Landtag einzog. In der Landes-CDU gibt es starke Strömungen, die für eine direkte oder indirekte Zusammenarbeit mit der AfD werben. Eine politische Wahlverwandtschaft blitzte Ende des vergangenen Jahres auf, als die CDU-Fraktion im Gleichklang mit der AfD den Beschluss zur Erhöhung der Rundfunkgebühren blockierte, den ihr Ministerpräsident zuvor mitgetragen hatte. In den letzten Umfragen lag die CDU zwar vor der AfD, ausgeschlossen ist aber noch nicht, dass die AfD am Ende nochmals erstarkt und vielleicht sogar vor der CDU liegt. Je nach Wahlausgang könnte die CDU erneut in eine politische Kraftprobe zwischen Bundespartei und Landespartei entlang der Frage, wie es mit der AfD zu halten ist, geraten. Und angesichts der geringen Unterstützung aus dem Landesverband für Armin Laschet bei seiner Wahl zum Parteivorsitzenden und seiner Ausrufung zum Kanzlerkandidaten der Union wären Stimmenverluste, gar ein zweiter Platz hinter der AfD ein weiterer Anlass für heftige innerparteiliche Verwerfungen. 

2. Für die Grünen wird sich erweisen, wie stark ihr Hoch im Osten tatsächlich ist. Angesichts der rückläufige Umfrage-Werte für ihre Kanzlerinnen-Kandidation Annalena Baerbock könnte bereits ein nur schwaches Plus in Sachsen-Anhalt der Beginn eines anhaltenden Negativ-Trends in den Umfragen sein. Für die Sozialdemokraten kommt es bundespolitisch darauf an, dass der Balken am Wahlabend nach oben zeigt, wenn die Wahlkampagne von Olaf Scholz noch an Schwung gewinnen soll. Bundespolitisch brächte für die FDP bereits der Wiedereinzug in den Landtag wahlkämpferischen Rückenwind. 

3. Ähnliches gilt für die Linkspartei. Eine Verschlechterung gegenüber 2016, etwa auf das Niveau der jüngsten Wahlergebnisse in Sachsen und Brandenburg, würde die Existenzfrage bei der Bundestagswahl verschärfen. Deutlich über diesem Niveau der beiden Nachbarländer zu bleiben, darum geht es für die Spitzenkandidatin Eva von Angern. Der Co-Spitzenkandidat Dietmar Bartsch erwartet für den Bundestagswahlkampf, »dass die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt für uns die Wende bringen wird« (taz, 10.5.2021). Das Wahlziel von »20 Prozent plus X«, welches einst vom Landesvorsitzenden Rico Gebhardt ausgerufen wurde, dürfte deutlich verfehlt werden. 

4. Die AfD will stärkste Partei werden. Ein Wahlerfolg des am rechten Flügel der Partei angesiedelten Landesverbandes, und sei es auch nur ein relativer, würde die innerparteilichen Kräfteverhältnisse noch weiter nach rechts verschieben. Bereits durch das aktuelle Mitglieder-Votum für das Spitzenkandidatenpaar Weidel-Chrupalla muss als grandiose Schwächung des Meuthen-Flügels gelten. Weitere innerparteiliche Auseinandersetzungen bereits vor der Bundestagswahl sind zu erwarten, der weitere Weg der AfD als faschistoide Bewegungspartei wäre vorgezeichnet. Auf jeden Fall wird sich erweisen, dass die AfD im Parteiensystem des Landes fest verankert ist und ihre Wählerschaft eine jüngere Altersstruktur besitzt als diejenige von CDU, LINKE und SPD, dass also auch zukünftig mit ihr zu rechnen sein wird. Trotz der Wahlerfolge im Westen hat es sich eingeschliffen, die Wahlerfolge der AfD im Ostteil des Landes als ein besonderes Ereignis zu begreifen. Anlass dafür ist regelmäßig, dass ihr Stimmenanteil im Osten doppelt so hoch ist, was wiederum gerne mit der Diktatur-Sozialisation in der DDR begründet wird. Zwar kann man unterstellen, dass die AfD-Wählerinnen und Wähler der Wunsch eint, die Bilder und Illusionen, die sie sich 1989/90 noch über den westdeutschen Sozialstaat gemacht haben, mögen doch noch wahr werden. Doch auch dann hat der Blick dem zu gelten, was nach 1990 (nicht) geschah.

Einige Facetten prägender Alltagserfahrungen

5. Sachsen-Anhalt ist ein schrumpfendes Land, gezeichnet durch die Folgen von Abwanderung, Rückbau und Alterung für die Sozial- und Infrastruktur. Aktuell zählt das Land noch 2,18 Mio. Einwohner, seit 1990 haben fast 800.000 Männer und Frauen das Land verlassen. Die Bevölkerungsprognosen, die zugleich Grundlage der Infrastrukturplanungen sind, sagen für die kommenden beiden Jahrzehnte einen weiteren Bevölkerungsrückgang voraus. Die durchschnittliche Einwohnerdichte der elf Landkreise, also ohne die drei kreisfreien Städte Magdeburg, Halle und Dessau-Roßlau, liegt bei 82 Personen je Quadratkilometer. Der Altmarkkreis Salzwedel ist mit unter 40 Einwohnern je km2 der am dünnsten besiedelte Landkreis der Republik, drei weitere zählen unter die zehn am dünnsten besiedelten. Ausgenommen vom Bevölkerungsrückgang waren zuletzt allein die Landeshauptstadt Magdeburg und die Stadt Halle (Saale) mit jeweils rund 240 000 Bewohnerinnen. 

Weggegangen aus dem Land sind überwiegend die Jüngeren, diejenigen, die sich einen Neubeginn »in der Fremde« zugetraut haben, die über nachgefragte Qualifikationen verfügten. Entsprechend veränderte sich die Altersstruktur: Nur noch 14 Prozent der deutschen Staatsbürgerinnen im Land sind unter 18 Jahre alt, aber über 36 Prozent sind 60 Jahre und älter, jeder fünfte ist sogar schon 70 Jahre und älter. Eine solche Altersstruktur hat unmittelbar Auswirkungen auf die Standortplanung von Schulen, wenn eine bestimmte Mindestschülerzahl vorgeschrieben ist, von Supermärkten und Konsummöglichkeiten, wenn die lokale Kaufkraft herangezogen wird usw. 

Eine Grunderfahrung schrumpfender und alternder Regionen ist die des sozialen Verlustes: Menschen ziehen weg, Häuser stehen leer, Läden machen zu, kulturelle und Freizeiteinrichtungen schließen, Wege werden weiter – daran ändern weder sanierte Straßen, neue Autobahnen, modernisierte Bahnhöfe oder Neubauten etwas. Es bleibt vielfach ein defensives Lebensgefühl. Wachsende Regionen und Städte setzen eher auf die Möglichkeiten des Neuen, in über Jahrzehnte schrumpfenden Regionen überwiegen eher Skepsis und Abwehr gegenüber Veränderungen. 

Damit muss rechnen, wer in Sachsen-Anhalt Wahlen erfolgreich bestreiten will: weniger als 6 Prozent der Wahlberechtigten sind jünger als 25 Jahre, ein knappes Viertel ist zwischen 25 und 45 Jahren, etwas mehr sind zwischen 45 und 60 Jahren alt, knapp jede fünfte ist zwischen 60 und 70 und wiederum ein knappes Viertel ist 70 Jahre und älter. 

6. Schrumpfung in Sachsen-Anhalt heißt vor allem: Deindustrialisierung in kürzester Zeit in einem ehemaligen Zentrum der Industrie des Deutschen Reiches und der DDR. Symbol für den Bruch der wirtschaftlichen Pfade ist der Chemiekomplex Bitterfeld-Wolfen, wo noch 1989 Zehntausende beschäftigt waren, der für wissenschaftlich-technischen Fortschritt stand, der den relativen Wohlstand der Region sicherte. Die heute auf dem Gelände befindlichen Betriebe füllen diese Lücken bei weitem nicht aus, Steuern werden oftmals auch andernorts fällig. Geblieben – auch als Symbol – aus besseren früheren Zeiten war der Braunkohle-Tagebau, dessen Ende nun aber auch verkündet wird. Das Misstrauen gegen den versprochenen Strukturwandel ist groß: Da ist die Erfahrung mit der Solarindustrie, die in die 2000er Jahren zu einem blühenden Industriezweig aufwuchs, anschließend aber mangels fehlender Industriepolitik der chinesischen Konkurrenz zum Opfer fiel. Und da ist »Gotsche«, ein mit Wasser gefülltes Braunkohle-Abbaubecken. Mit einen dreistelligen Millionenbetrag sollte hier ein Zentrum der Freizeitindustrie entstehen. Mitte der 2010er Jahre wurde ein besonders attraktives Ufergebiet für einen läppischen einstelligen Millionenbetrag der öffentlichen Nutzung entzogen. 2016 gewann hier der AfD-Mann ein Direktmandat. 

7. Die nackten Zahlen des Strukturbruchs lauten: Statt 40 Prozent wie noch 1991 arbeiten nur 26 Prozent der Erwerbstätigen im produzierenden Gewerbe, aber 72 Prozent im Dienstleistungsbereich. Mehr als ein Drittel der Erwerbstätigen arbeitet im Sektor der öffentlichen und privaten Dienstleistungen, der Erziehung und Gesundheit. Gleichzeitig ist Sachsen-Anhalt das Land der Pendler. Mit einer Pendlerquote von 16,5 Prozent liegt es an der Spitze aller Bundesländer. 140 000 Sachsen-Anhalter pendeln täglich oder wöchentlich in andere Bundesländer, insbesondere ins benachbarte Niedersachsen (Region Braunschweig-Wolfsburg) oder Sachsen (Region Leipzig). Auch die Zahl der »Binnenpendler« im Land selbst ist hoch. Wer pendelt, verbringt viel Lebenszeit auf der Straße oder Schiene, hat weniger Zeit und Energie für Familie, Freunde, Nachbarn und lokale soziale Netzwerke. 

Soziale Deklassierung, der absolute oder relative Verlust von materiellen oder immateriellen Status-Positionen hat viele Gesichter. Wer zu Wendezeiten unter 30 Jahre alte war und einen Fachberuf erlernt hatte, findet sich heute besonders häufig als Fahrzeugführer, in Sicherheits- und Überwachsungsberufen oder als Reinigungskraft wieder. Das monatliche Entgelt für Tätigkeiten auf dem Anforderungsniveau eines Helfers lag in Sachsen-Anhalt zuletzt bei 78 Prozent des Niveaus von Baden-Württemberg und 86 Prozent des Bundesdurchschnitts, beim Anforderungsniveau für »Fachkräfte« lauten die entsprechenden Werte sogar nur 74 Prozent und 81 Prozent. Im Maschinenbau liegt der Verdienst sogar nur bei 66 Prozent des Niveaus in Baden-Württemberg. Seit 2010 verändern sich bei den durchschnittlichen Einkommen die Abstände zum Bundesdurchschnitt nicht mehr, er verharrt bei 70 Prozent des bundesdurchschnittlichen Markteinkommens der Pro-Kopf-Einkommen. Dass das Niveau der verfügbaren Einkommen bei 85 Prozent liegt, verdankt sich allein den direkten und indirekten sozialstaatlichen Umverteilungen. In Alltagserfahrung übersetzt: statt immer weiter auf die »eigenen Füße« zu kommen, bleibt Transferabhängigkeit.

Thesen zu langen Linien im Wahlverhalten (nicht nur) in Sachsen-Anhalt

8. Für das in den Augen vieler Westdeutscher absonderliche Wahlverhalten »der« Sachsen-Anhalter bzw. »der« Ostdeutschen wurde und wird – so gerade wieder von Marco Wanderwitz, dem Ostbeauftragten der Bundesregierung – der Autoritarismus verantwortlich gemacht, der den Menschen in der »DDR-Diktatur« ansozialisiert worden sei, mit dem man sich jetzt noch herumschlagen müsse. Ein merkwürdiges Argument, wird doch gleichzeitig jährlich gefeiert, wie dieses angeblich autoritätsgläubige Völkchen 1989 ihre Diktatoren davon jagte… Nehmen wir einmal an, an diesem Argument aus der politischen Mitte des Landes sei etwas dran, es sei also die mangelnde Demokratie-Sozialisation, die ehemalige DDR-Bürgerinnen und -Bürger erst in Scharen zur Wahl der PDS und nun der AfD getrieben habe. Dahinter steckte dann die Erkenntnis: Leben und Handeln in einer Demokratie sind keine Selbstverständlichkeit, sondern sind eine Fähigkeit, die erlernt werden muss. Demokraten fallen nicht vom Himmel, sondern werden »erzogen«. Es fragt sich also: Was wurde in den vergangenen 30 Jahren dafür getan? So verweist das Argument der DDR-Sozialisation 30 Jahre nach der Wende auf die Urheber zurück: als unterlassene Investition in demokratische Bildung, vor allem aber: als unterbliebene Erfahrung der Selbstwirksamkeit in einem demokratischen Staat. Tatsächlich verhält es sich aber so, dass der Verweis auf die Diktatur-Sozialisation den eigenen Irrglauben kaschieren soll, nämlich das Markt und Kapitalismus eineiige Zwillinge der Demokratie seien, der Markt quasi naturwüchsig schon demokratische Verhältnisse hervorbringen würde. Die alltäglichen Erfahrungen sehen indes anders aus: im Arbeitsleben geringe Tarifbindung, weniger Betriebsräte als im Westen, hohe Abhängigkeit vom Arbeitgeber und von »den Märkten«, von der ehemaligen formellen wie informellen Produktions- und Organisationsmacht der »Werktätigen« in der DDR ist nur wenig geblieben. Ohnmachtserfahrungen im betrieblichen Bereich korrespondieren mit solchen im politischen, wo Wahlentscheidungen kaum Auswirkungen auf die eigenen Lebensverhältnisse zu haben scheinen – oder auch keine haben sollen, weil »die Politik« sich ja nach herrschender Auffassung aus »der Wirtschaft« heraushalten soll. 

9. Wem als gelernten Westdeutschen das zu weit hergeholt erscheint, der sei an die eigene Vergangenheit erinnert. Das im westlichen deutschen Staat vereinte Tätervolk war, so zeigen es alle zeitgenössischen Erhebungen, keineswegs ein Volk begeisterter Demokraten. CDU, CSU und SPD erlangten ihren Status als demokratische Volksparteien Schritt für Schritt über die Arbeit von Betriebsräten, Gemeinde- und Stadträten, Leiter von Stadtwerken, kommunalen Unternehmen, die auf der lokalen und regionalen Ebene bemerk- und fühlbar an der Verbesserung der Lebensverhältnisse wirkten, die den Einfluss von Arbeitern und Angestellten in Betrieb und Berufswelt stärkten und individuellen sozialen Aufstieg – auch in ihren eigenen Reihen – ermöglichten. In Nordrhein-Westfalen eroberte die SPD so bis Mitte der 1960er Jahre eine Mehrheit. Die Wahlbeteiligung bei Kommunalwahlen lag höher als bei Landtagswahlen – heute ist es regelmäßig umgekehrt. Die Erfahrung, direkt oder indirekt an der Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse mitwirken zu können, das vermittelten die Volksparteien, das machte sie zum lokal verankerten Rückgrat der jungen Demokratie, davon zehrten sie noch, als die kommunalen Verhältnisse längst auf höherer Ebene entschieden wurden. Aber genau diese Erfahrung demokratischer Selbst-Wirksamkeit fand nach 1990 in den ostdeutschen Ländern nicht statt, Volksparteien und Parteibindungen im westdeutschen Sinn entstanden nicht. Stimmte also die These von der anhaltend undemokratisch wirkenden DDR-Sozialisation, so fehlte nach 1990 das wirksame Gegengift der demokratischen Selbstwirksamkeit. 

10. Wer die Entmachtungen und Entwertungen der eigenen Biografie nicht hinnehmen wollte, konnte in den 1990er Jahren die Wahl der PDS als Werkzeug seines Protestes nutzen. Seit einigen Jahren bietet sich die AfD zu diesem Zweck an. Damit soll hier nicht bestritten werden, dass unter den Wählerinnen der PDS auch viele überzeugte demokratische Sozialistinnen waren und unter den Wählern der AfD nicht auch überzeugte Nationalisten und Faschisten. Aber zweifellos erfüllen Parteien in bestimmten historischen Konstellationen eine Funktion jenseits ihrer programmatischen und politischen Ziele. Es geht darum, die soziale und politische Situation zu begreifen, aus der heraus Wahlentscheidungen fallen; es kann nicht darum gehen, diese Entscheidungen schön zu schreiben. 

Während die PDS ihre Aufgabe als Partei weit überwiegend so verstand, möglichst viele SED-Anhänger und DDR-Bürgerinnen in das Regelwerk der Demokratie bzw. des Grundgesetzes mitzunehmen, also in den neuen Bedingungen des Handelns »anzukommen«, richtet sich der Grundton der AfD gegen dieses Regelwerk und seine Vertreterinnen selbst. Hier schließt sich der Kreis auf fatale Weise: Weil man glaubte, Demokraten fielen vom Markt- und Wohlstandshimmel, nahm man frühere rechte Wahlerfolge nicht erst. Der aus dem Westen importierte sächsische Ministerpräsident Biedenkopf erklärte seine sächsischen Untertanen sogar als »immun« gegen Rechtsextreme. Auch in Sachsen-Anhalt wurde der Wahlerfolg der DVU 1998 – 13,5 Prozent der Zweitstimmen – als Betriebsunfall verbucht. Tatsächlich entfielen bereits damals etwa ein Viertel der Stimmen der unter 35jährigen, der zwischen 1964 und 1980 Geborenen, auf die völkisch-nationale Partei. 

11. Diese Alterskohorte bildet heute mit ihrer Präsenz und Verwurzelung im sozialen Alltag das Rückgrat der AfD-Wahlerfolge. Sie wandten sich lebensgeschichtlich rechten, nationalistischen Parteien zu, weil ihnen die PDS als Nachfolge-Partei der DDR-Dienstklasse suspekt und SPD und CDU als verlängerter Arm der West-Parteien bzw. der Treuhand, die für die »soziale Ausmusterung« (W. Engler) im Osten verantwortlich zeichneten, fremd blieben. Die Quasi-Ethnisierung als West-Ost-Konflikt sprach sie auch nicht an, dafür war ihre DDR-Ost-Identifikation nicht hinreichend. Konnte die Wahlentscheidung für die DVU noch als »Protest« gegen die sozialen Verwerfungen der Wende und durchkreuzte Lebensplanungen begriffen, so stellt die Wahl der AfD eher eine Abrechnung dar. Sie ist die Quittung dafür, dass nicht alle verfügbaren Ressourcen eingesetzt wurden, um dem Notstand des (Ost-)deutschen Volkes abzuhelfen, sondern hinter »Schuldenbremse« und »Sparpolitik« versteckt wurden – bis Banken gerettet und Millionen Flüchtlinge aufgenommen wurden, während der Staat, die Eliten gedrückten und bedrückenden Lebensverhältnissen des eigenen Volkes scheinbar tatenlos zusah. Die CDU steht dem Angriff auf die Regeln demokratisch ausgefochtener Interessenkämpfe hilflos gegenüber, eine offene Konfrontation scheut sie zumindest in den ostdeutschen Landesverbänden weitgehend. Stattdessen beschwört sie die gleichen Gespenster wie die AfD: »Diese Landtagswahl ist eine Richtungswahl: Sie entscheiden, ob wir mit Erfahrung und Sicherheit Sachsen-Anhalt auf seinem guten Kurs halten oder ob unsere Heimat mit rot-rot-grünen Experimenten in die Zukunft schwankt. Nutzen Sie dafür die Briefwahl.« (Reiner Haseloff auf einer CDU-Werbe-Seite für Briefwahl, https://briefwahl-2021.de/

12. Die Schwäche der PDS/LINKE wuchs aus ihrem Erfolg. Sie verteidigte vor allem die »Lebensleistung«, die »Identität« der ersten Generation der DDR, der bis Anfang der 1960er Jahre geborenen Männer und Frauen. Unter ihnen hatte und hat sie den größten absoluten und relativen Rückhalt und die geringsten Einbrüche in der Wählerschaft. Ihre Unterstützung bei den ab Mitte der 1970er Jahre Geborenen nimmt seit 2002 kontinuierlich ab und ging bei den Mitte der 1960er bis Mitte 1970er Geborenen 2016 schlagartig zurück. Ein leicht steigender Rückhalt bei urbanen jüngeren Menschen vermag diese Verluste nicht auszugleichen. Die Deutung der sozialen Verteilungs- und Anerkennungskonflikte als ein Konflikt zwischen »Wessis« und »Ossis« verlängerte den alten Systemkonflikt in die Gegenwart und Zukunft und mag geeignet sein, ältere Stammwähler und -wählerinnen zu halten. Die Deutung war und ist aber für alle, die ihren Platz in der neuen gesellschaftlichen Arbeitsteilung finden oder behaupten wollen, letztlich nicht mehr handlungsrelevant. Was würde sich ändern, wenn eine Handvoll Ostdeutscher mehr die geltenden Regeln exekutieren würde, unter denen man unzufrieden lebte? Der Erfolg der 1990er und 2000er Jahre verbaute der Partei den Zugang zu einer alternativen Deutung der Verteilungskämpfe, etwa als moderne soziale Klassenkonflikte. In diese ideologische Leerstelle rückten die Rechten mit ihrer Ausdeutung von Oben und Unten als Konflikt, als Kampf der Elite gegen das Volk. Mit anderen Worten: Der Erfolg der AfD im Osten bei gleichzeitiger Schwäche der Linkspartei hat auch (!) etwas damit zu tun, dass die Deutungen der AfD die Ostdeutschen nicht mehr mit ihrer ostdeutschen Herkunft konfrontieren, die wiederum im gesamten Deutschland immer noch irgendwie als Makel gilt. 

Diese Thesen beruhen auf einer ausführlicheren Analyse und Datensammlung zur sozioökonomischen Entwicklung und zum Wahlverhalten in Sachsen-Anhalt. Sie ist zusammen mit dem Wahlnachtbericht zur Landtagswahl am 6. Juni ab dem 7. Juni auf der Seite der RLS abrufbar.