Im Frühjahr 2022 begann unter dem Motto „Notruf NRW“ der Kampf um einen Tarifvertrag Entlastung (TVE) an sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. Das Ziel: Mehr Personal in allen Bereichen des Krankenhauses. Nachdem ein hunderttägiges Ultimatum an Klinikleitungen und Politik verstrichen war, traten die Beschäftigten und ver.di in einen unbefristeten Streik, der 77 Tage andauerte und schließlich erfolgreich war. Wir haben Katharina Wesenick, die Landesfachbereichsleiterin von ver.di in Nordrhein-Westfalen gefragt, wie die Kolleg*innen ihre Forderungen durchsetzen konnten und was die Gewerkschaftsbewegung aus dem Kampf lernen kann. 
 

Elf Wochen dauern Arbeitskämpfe selten. Wie konnten die Kolleg*innen so lange durchhalten?

Der erste Grund ist, dass die Streikenden zehn Monate lang systematisch ihre Stärke im Betrieb ausgebaut haben. Ihre Stationen und Bereiche waren mehrheitlich in ver.di organisiert. Das war möglich mit der Unterstützung von Expert*innen für Selbstermächtigung, sogenannten Organizer*innen. Denn viel zu oft rennt eine ver.di-Minderheit durch den Betrieb, ohne die Mehrheiten der Kolleg*innen anzusprechen oder zu organisieren. Viel zu oft verhandeln ver.di Hauptamtliche ohne Beteiligung und Mandat der Mehrheit der Beschäftigten. Das war in NRW anders. Erst wurde das Laufen gelernt, dann das Rennen. Daraus ergibt sich der zweite Grund: Weil die gemeinsame Stärke schrittweise aufgebaut wurde, war der Streik das ureigenste Anliegen der ver.di-Mitglieder. Es waren die Kolleg*innen selbst, die von Anfang an den Verlauf der Auseinandersetzung bestimmt haben. Das hat eine besondere Verbundenheit, Unbeirrbarkeit und Stärke erzeugt. Mich hat das sehr beeindruckt. 

Viele Arbeitskämpfe fordern im Kern mehr Gehalt. Bei „Notruf NRW“ ging es um mehr Personal. Hätte ein Streik für mehr Gehalt genauso viel Kraft entfalten können?

In der aktuellen Inflation ist diese Frage nicht mehr so leicht zu beantworten. Aber grundsätzlich würde ich sagen, dass die Probleme und die Unzufriedenheit im Gesundheitswesen zentral daher rühren, dass es zu wenig Personal gibt. Selbst wenn das Gehalt verdoppelt würde, käme es weiterhin zur personellen Ausblutung und die eigentlichen Probleme wären nicht behoben.

Mein Eindruck ist, dass es den Kolleg*innen vor allem um eine grundsätzliche Verbesserung ihrer Arbeits- und Lebensqualität geht

Auf jeden Fall. Dafür spricht auch der Altersdurchschnitt der Bewegung. Es waren zwar Menschen aller Altersgruppen engagiert, aber der Großteil der Aktiven ist zwischen 20 und 40 Jahren alt. Ich glaube, viele aus dieser Generation sehen die Bewegung für Entlastung als ihre letzte Chance, um im Beruf bleiben zu können. In den letzten Jahren haben Hunderttausende ihren Job im Gesundheitswesen aufgegeben wegen der desaströsen Arbeitsverdichtung. Die Streikenden haben deutlich gemacht, dass es nicht nur individuelle „Lösungen“ gibt, wie die Kündigung oder leidendes Erdulden, sondern ein konstruktiver kollektiver Umgang mit der Situation möglich ist.

Was haben die Kolleg*innen konkret erkämpfen können?

Sie haben den bundesweit ersten Flächentarifvertrag zur Personalbemessung mit Belastungsausgleich erkämpft. Dabei haben sie auf über 20 Tarifrunden zu Entlastung aufgebaut, die in den letzten zehn Jahren bestritten wurden, zuletzt in Berlin an der Charité und bei Vivantes, sowie an den Unikliniken in Jena und in Mainz.

Kannst du genauer erklären, was ein Tarifvertrag zur Personalbemessung mit Belastungsausgleich ist? 

In einem Tarifvertrag kannst du gemeinsam mit den Arbeitgebern einen guten Personalschlüssel auf dem Papier vereinbaren. Den Kolleg*innen (und Patient*innen) hilft das nur, wenn sie auch die Mittel haben, ihre Arbeitgeber zur Einhaltung der Ziele zu zwingen. Darum wollen wir für möglichst alle Kolleg*innen und Stationen im Krankenhaus einen sogenannten schichtgenauen Belastungsausgleich in Form eines entsprechenden Personal-Patienten-Schlüssels durchsetzen. Wenn er in einem Dienst nicht eingehalten wird oder etwa Leiharbeiter*innen zum Einsatz kommen, sprechen wir von einer „Belastungssituation“. Für die Pflegekräfte an den Unikliniken in Nordrhein-Westfalen bedeutet das jetzt, dass sie nach sieben Belastungssituationen einen Entlastungstag bekommen. Das setzt die Arbeitgeber ökonomisch unter Druck, für ausreichend Personal zu sorgen.  

Dieses Modell gilt aber nicht für alle Bereiche, richtig? 

Das stimmt. Leider trifft es nicht auf alle Krankenhausbeschäftigten zu. Aber dass jetzt fast alle in der Pflege bei außerordentlicher Belastung etwas in der Hand haben und dieser Sanktionsmechanismus greift, das ist ein Riesenerfolg. Für nahezu die gesamte Pflege gilt nun ein verbindlicher Personalschlüssel, unabhängig davon, wie sie finanziert wird. Das sind jährlich über hundert Millionen Euro, die die Kampagne Notruf NRW erstritten hat. 

Und wie sieht es in den anderen Bereichen jenseits der Pflege aus? 

Für die medizinisch-technischen Assistent*innen in der Radiologie oder Erzieher*innen wurden bundesweit zum ersten Mal Mindestpersonalbesetzungen vereinbart. Dabei wird auf den Jahresdurchschnitt geschaut. Wenn die Vorgabe unterschritten wird, erhalten die Kolleg*innen pauschal jeweils fünf Entlastungstage. Die Ambulanzen und die fälschlicherweise so genannten „bettenfernen“ Bereiche haben jedoch viel zu wenig an Entlastung bekommen. 

Wie erklärst du dir das? 

Das hat viele Gründe. Ein ganz wesentlicher ist die Spaltung der Beschäftigten im Krankenhaus durch das Finanzierungssystem der Fallpauschalen. Wenn die Krankenhäuser permanent Kosten einsparen müssen, dann versuchen sie als erstes am Personal zu sparen. Als klar wurde, dass das ein ziemlich heikles Unterfangen ist, weil es Patient*innen und Personal gleichermaßen gefährdet, sorgte die Bundesregierung 2018 zumindest für etwas Abhilfe in der Pflege. Das sogenannte Pflegestärkungsgesetz nahm einen Teil der Pflegekosten aus dem Würgegriff der Fallpauschalen. Zu dem Zeitpunkt waren aber schon hunderttausende Jobs vernichtet worden und tausende von Fachkräften aus dem Beruf geflohen. Zudem refinanziert das Gesetz eben nicht alle in der Pflege und auch nicht all die anderen Tätigkeiten, die den Krankenhausbetrieb erst möglich machen wie die Labore, den Patient*innentransport oder die Sterilisation. Hier haben wir eine dramatische sozioökonomische Spaltung. Unser Arbeitskampf in NRW konnte diese Spaltung nicht komplett aufheben. Das erzeugt Frust bei denen, die am Ende nicht das bekommen haben, was sie verdienen.

Zentral ist und bleibt das Problem der Fallpauschalen. Wie geht ihr als Gewerkschaft damit perspektivisch um? 

Die spaltende und brutale Logik des Fallpauschalensystems können wir im Rahmen eines Tarifkampfes nicht völlig aufbrechen. Aber sie wurde immerhin weiter aufgeweicht. Erfolgreiche und wirksame Tarifkämpfe weiten die Spielräume aus. Ich sehe es so: Sechs Unikliniken können das Fallpauschalen-System nicht abschaffen, aber viele Krankenhäuser zusammen können das schon. Deswegen ist es so wichtig, jetzt diese Grundlage geschaffen zu haben. Gleichzeitig üben wir auf Bundesebene seit vielen Jahren Druck auf die Bundesregierungen aus, gesetzliche Rahmenbedingungen für ausreichend Personal zu schaffen. Am Ende wird nur eine Kombination, eine Zangenbewegung aus beiden Komponenten erfolgreich sein. 

Den Druck aufzubauen, war nicht einfach. Die Streikenden wurden trotz großem Zuspruch elf Wochen hingehalten.

Das hat gezeigt, dass wir jede Errungenschaft gegen eine Front aus Kapitalinteressen und vielfach auch Akteuren aus der Politik durchsetzen müssen. Beide haben schlicht kein Interesse daran, dass Personalbemessung in Zukunft auch außerhalb der Pflege Gegenstand von Tarifverhandlungen wird. Das ist eine weitere Erklärung für die vehemente Weigerung der Landesregierung und der Vorstände der Unikliniken in NRW, auch für Bereiche wie die Küche oder die IT tarifliche Personalschlüssel zu vereinbaren. Sie fürchten, damit die Büchse der Pandora für alle Branchen und Berufe außerhalb der Pflege zu öffnen. Und das fürchten sie zurecht. Denn Personalschlüssel müssen die gewerkschaftliche Antwort auf Ausbeutung durch Arbeitsverdichtung sein.

Ihr habt euch bewusst für einen Streik vor den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen entschieden. Ging diese Strategie auf?

Ja. Das war entscheidend für den Erfolg. Gesundheitsminister Laumann (CDU) hat sich erst vier Wochen vor der Wahl dem Thema angenommen, als klar war, dass wir ernsthaft streiken wollen. Innerhalb weniger Wochen haben alle Spitzen der demokratischen Parteien plötzlich mit der Bewegung geflirtet und deren Ansinnen legitimiert. Es war ein Bündnis auf Zeit. Die Aufmerksamkeit von Laumann, aber auch die Unterstützung von SPD und Grünen hätte es ohne die Landtagswahlen in dieser kurzen Zeitspanne schwer gegeben. 

Macht es einen Unterschied, mit welcher Partei man „Allianzen“ schließen muss? 

Am Ende kommt es darauf an, möglichst früh belastbare Beziehungen mit Entscheidungsträger*innen aufzubauen. Der Schlüssel ist, die Spitzenpolitiker*innen vor dem Wahltag öffentlich in die Verantwortung zu nehmen. Dabei ist nicht wichtig, warum, sondern dass sie belastbare Zusagen machen. Nur dadurch werden sie rechenschaftspflichtig. 

Inwieweit war es für die Streikbewegung von Bedeutung, dass die CDU in Nordrhein-Westfalen die Wahlen gewonnen hat?

Für mich war es sehr interessant, dass am Ende gerade nicht relevant war, wer die Landtagswahl gewonnen hat. Ich wusste bereits, dass historisch der Großteil der Sozialreformen in der BRD nicht von SPD-, sondern CDU-geführten Regierungen umgesetzt wurde. Weil die sozialen Bewegungen inklusive Gewerkschaften dafür gesellschaftliche Mehrheiten erkämpften. Das nun selbst erfahren zu haben, war durchaus erleichternd, weil es die Macht von Regierungen relativiert. Doch diese Erkenntnis ist auch herausfordernd, weil sie deutlich macht, wie groß die Relevanz und Verantwortung von sozialen Bewegungen und Gewerkschaften sind.

Was können zukünftige soziale Bewegungen oder gewerkschaftliche Kämpfe von eurer Bewegung lernen? Ich denke da zum Beispiel an den „Rat der 200“, ein Gremium, in dem sich Beschäftigte unmittelbar am Verhandlungsgeschehen beteiligen konnten. 

Ich bin trotz aller Schwierigkeiten froh, dass wir diesen „Rat der 200“ hatten. Er war das Bindeglied zwischen der zentral verhandelnden Tarifkommission und den streikenden Kolleg*innen in den sechs Häusern. In jedem der streikenden Krankenhäuser hatten die Stationen und Bereiche, die sich mehrheitlich ver.di angeschlossen haben, Teamdelegierte gewählt. Diese wiederum bestimmten aus ihren Reihen eine Delegation, die ihr Krankenhaus im Rat vertreten sollte. Der Rat hat uns nicht nur in der Tarifkommission mehr Kraft verliehen, sondern auch den Streik demokratisiert. Bei der Entwicklung der Forderungen war der Rat das Expertengremium, schließlich wissen die Kolleg*innen am besten, welcher Personalschlüssel für gute Versorgung notwendig ist. Fast die gesamten Tarifverhandlungen hindurch war der Rat am Verhandlungsort im Hintergrund, hat Zwischenergebnisse bewertet, Aktionen geplant und der Verhandlungsgruppe den Rücken gestärkt. In der Soziologie unterscheidet man zwei Logiken, die hier in Reibung gerieten. Auf der einen Seite die Einflusslogik, die in Tarifverhandlungen greift und rein auf die Sache fokussiert, und auf der anderen Seite die Mitgliederlogik, die auf möglichst viel Mitbestimmung, Rückkopplung und Transparenz setzt. Die Logiken bedingen sich gegenseitig, können aber auch gegeneinander stehen. Diesen Widerspruch immer wieder zu bearbeiten und nicht auflösen zu können, das war schwierig und hat zu Reibungsverlusten geführt. Es war aber ausschlaggebend für den Erfolg.  

Das klingt nach einer anspruchsvollen Struktur. 

Das war es auch. Wir konnten zwar aus den Erfahrungen anderer Arbeitskämpfe um Entlastung im Krankenhaus lernen. Allerdings waren das bisher alles Haustarifverhandlungen. In einem Flächenland wie NRW ist der Aufbau einer solchen demokratischen Struktur allein aus geografischen Gründen viel schwieriger. Es gab Tage, da mussten die Delegierten unverrichteter Dinge wieder abreisen, weil die Verhandlungen ergebnislos waren. Das führte auch zu Frustrationen. Hier müssen wir ehrlich sein: Der Wunsch nach größtmöglicher Beteiligung kollidiert teilweise mit unserer tradierten Verhandlungslogik bei ver.di. Das ist der lebendige Widerspruch, der im Wesen der Gewerkschaft als einer „demokratischen Armee“ angelegt ist: dass wir Repräsentanz und Ermächtigung gleichzeitig wollen. Wie gewichten wir das zueinander? 

Was wäre deine Antwort darauf?

Der Ansatz, Team- und Bereichsdelegierte in den Prozess einzubeziehen, stößt zuweilen an unsere soziokulturellen Grenzen, insbesondere zum Ende der Verhandlungen. Hier wage ich eine These: In der hiesigen Gewerkschaftskultur braucht es vor allem in der letzten Phase der Verhandlung einen geschützten Rahmen, um die Kugel einzulochen. Der Moment, an dem beide Verhandlungsführungen, Arbeitergeber wie Gewerkschaft, ohne Gesichtsverlust ihre Masken ablegen und Kompromisse finden können, muss gut organisiert sein. Das beruht durchaus auf solidem Erfahrungswissen. Diejenigen, die hier in Verantwortung sind, erleben auf den letzten entscheidenden Metern den Wunsch der Mitglieder nach Transparenz oft als Behinderung und Gefährdung ihrer Ergebnisverantwortung. 

Aber gleichzeitig ist die Beteiligung euer Rückgrat für gute Ergebnisse. 

Perspektivisch wäre es spannend, auf noch mehr auf Beteiligung im Prozess zu setzen, als Instrument der Ermächtigung, und darum auch noch „offener“ zu verhandeln. So dass mehr oder sogar alle Beteiligten der Tarifbewegung bei den Verhandlungen anwesend sein können, dass sie in Absprache mit der Tarifkommission auch zu Wort kommen, dass also Tarifverhandlungen keine Blackbox mehr sind. Wenn wir das wollen, dann bräuchte es dafür einen radikalen Kulturwandel. Hier liegt die Sprengkraft der aktuellen Debatte um die richtige Praxis der Erneuerung und damit Rettung der Gewerkschaften. Klar ist einerseits umso demokratischer wir sind, desto stärker werden wir. Andererseits darf Beteiligung nicht zum Dogma werden.

Wie habt ihr das Problem in NRW konkret versucht zu lösen? 

Es waren gerade die vielen Rückkopplungsschleifen mit dem Rat der 200 kurz vor dem Verhandlungsergebnis, die sichergestellt haben, dass die Streikenden ihre Erwartungen an das Ergebnis relativieren konnten. Als Mitglieder des Rats konnten sie das Verhalten des Arbeitgebers hautnah miterleben. Es ist ein Unterschied, ob ich als Streikende*r bei zehn Delegiertensitzungen am Verhandlungsort dabei bin und jedes Mal mitbekomme, dass der Arbeitgeber die pflegefernen Bereiche partout nicht tarifieren will. Oder ob ich das nur in einem Flugblatt lese und dann enttäuscht von ver.di bin. Zur Wahrheit gehört auch:  Notruf NRW war nur erfolgreich, weil wir, allen Rückkopplungen zum Trotz, auch sehr zentralisiert und koordiniert vorgegangen sind und operativ gesteuert haben. Nur so konnten in der hauptamtlich besetzten Projektleitung schnelle und effektive Entscheidungen im Sinne der vorher demokratisch verabschiedeten Ziele gefällt werden. Das verstehe ich unter einer Gewerkschaft als demokratischer Armee der sozialen Gerechtigkeit. Es geht also immer um die richtige Dosis im Spannungsfeld zwischen „Armee“ und „Demokratie“. Wenn Beteiligung an der falschen Stelle verabsolutiert und vergrundsätzlicht wird, gefährdet sie unter Umständen eine erfolgreiche gewerkschaftliche Bewegung. Ich schlage folgenden Gradmesser vor:  Stärkt die Beteiligung in Situation X die Bewegung und sichert sie damit das Ziel – durch Identifikation der Streikenden mit ihrer Sache, durch Aneignung der Strategie und durch Stärkung ihrer Handlungs- und Urteilsfähigkeit? Oder schwächt sie die Sache und Bewegung, etwa durch Zerreden und Ausufern, durch Überorganisation und Entscheidungsschwäche? Auf diese zentrale Frage, was Beteiligung und Repräsentation sind und wann sie eingesetzt werden, kann die Erfahrung von Notruf NRW ein paar mehr – durchaus komplexe Antworten – geben. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.


Das Gespräch führte Fanni Stolz.