Die langjährige Krise der Gewerkschaften ist ungleich ausgeprägt

Hintergrund aktueller gewerkschaftlicher Politik ist sicherlich die viel diskutierte „Krise der Gewerkschaften“, die im Wesentlichen zwei Dimensionen hat: Mitgliederverluste, welche die Organisationsmacht der Gewerkschaften empfindlich schwächen (aktuell liegt der gewerkschaftliche Organisationsgrad in Deutschland bei ca. 14 Prozent) – und eine politische Großwetterlage (spätestens seit den 1980er Jahren, verschärft seit 1990), die kollektive Regulierung als Freiheitsentzug und ungerechtfertigte Einschränkung individueller Wahlmöglichkeiten geißelt und die Gewerkschaften als Dinosaurier eines angeblich überwundenen Industriezeitalters sowie als Pressure Group der sprichwörtlichen alten weißen Männer erscheinen lässt, die ihre überkommenen Privilegien verteidigen. Diese Schwächung betrifft gewerkschaftliche Politik insgesamt. Zugleich weist Wolfgang Schröder zurecht darauf hin, dass sich große Unterschiede feststellen lassen (ob man daraus „Welten der Arbeitsbeziehungen" ableiten muss, sei dahingestellt): Während in Großbetrieben der Industrie teilweise noch hohe Organisationsgrade (und starke Betriebsräte) vorherrschen (die ihre betrieblichen Machtressourcen im Sinne von „Produktionsmacht“ allerdings nach wie vor eher aus Arbeiter*innen- denn auch Angestelltenbereichen beziehen), gibt es wachsende betriebsratsfreie Zonen und weiße Flecken der Tariflandschaft in neuen Industrien (z.B. Windkraftanlagen), aber vor allem im Bereich der formal gering qualifizierten Dienstleistungen. 

Die Coronapandemie hat die ungleichen Lagen verstärkt – mit Ausnahmen

Unter Pandemiebedingungen (eingeschränkte Erreichbarkeit von Beschäftigten durch Betriebsräte und Gewerkschaften; materielle Einbußen gerade bei den traditionellen Träger*innen gewerkschaftlicher Politik durch Kurzarbeit; Mangel an Gelegenheiten für kollektiven Austausch in Präsenz und für Mobilisierung) hat selbst die „stabilste“ deutsche Gewerkschaft (IG Metall) empfindliche Mitgliederverluste erlebt (seit 2018: -120.000). Kampfstarke Belegschaften, die ohnehin durch die Diskussionen über transformationsbedingte Arbeitsplatzverluste und veränderte Qualifikationsbedarfe unter Rechtfertigungsdruck geraten waren, wurden dadurch zusätzlich geschwächt. Zugleich richtete sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf neuerdings „systemrelevante“ Beschäftigtengruppen (Pflege, Einzelhandel, Reinigung, Logistik etc.), während etwa der BR-Vorsitzende Carsten Bätzold (VW Baunatal) betonte: „Wir sind nicht systemrelevant“. Der Schwächung vormals starker Bereiche stand allerdings keine Stärkung der gewerkschaftlichen Organisierung der neuen „Leistungsträger*innen“ gegenüber. Nennenswerte Verbesserungen bei Löhnen und Arbeitsbedingungen bleiben bislang weitgehend auf die Krankenhauspflege beschränkt, wo schon vor Corona erfolgreiche Arbeitskämpfe stattgefunden hatten. Im Einzelhandel und in der Altenpflege hingegen scheiterte sogar (wieder einmal) der Versuch, Tarifverträge allgemeinverbindlich zu erklären, am Widerstand der Unternehmerverbände. „Unter dem Strich“ trug die Pandemie demnach zur weiteren Schwächung von Gewerkschaften bei. Allerdings baute sich angesichts der Kluft zwischen dem (von vielen Beschäftigten als zynisch empfundenen) Klatschen vom Balkon und der verweigerten Aufwertung (in Bezug auf Löhne, Arbeitsbedingungen, Personalausstattung etc.) ein zunehmender Frust auf, an dem gewerkschaftliche Politik künftig anknüpfen kann. 

Gewerkschaften betreten inhaltlich neues Terrain

Bevor die Pandemie mit dem öffentlichen Leben auch gewerkschaftliche Debatten und Initiativen weitgehend auf Eis legte, war es gelungen, durch neue inhaltliche Schwerpunktsetzungen maßgeblich an Attraktivität für Mitglieder, aber auch an positiver gesellschaftlicher Ausstrahlungskraft zu gewinnen. Die IGM-Tarifrunde 2018, in der die Wahl (bestimmter Beschäftigtengruppen) zwischen mehr Lohn oder mehr freier Zeit durch 24-Stunden-Streiks durchgesetzt wurde, war ein wichtiger Schritt (wenn auch als Arbeitszeitverkürzung ohne vollen Lohnausgleich), um die ideologische Gegenüberstellung von Tarifvertrag und individueller Freiheit zu durchbrechen: mehr individuelle Wahlmöglichkeiten durch kollektive Standardsetzung. Auch die Entlastungstarifverträge in Krankenhäusern (allen voran die Berliner Charité seit 2015) setzen an einer wichtigen Beobachtung an: Neben geringen Einkommen sorgen wachsender Leistungsdruck und flexibilisierte Arbeitszeiten für wachsende Kritik. Insofern ist es gut, dass es Gewerkschaften jedenfalls in ersten Ansätzen gelingt, über Tarifverträge wieder (wenn auch in neuer Form) direkten Einfluss auf Arbeits- und Leistungspolitik zu nehmen. Ob dies fortgesetzt wird, ist zu prüfen. Zugleich ist klar, dass man für innovative Tarifpolitik eine gewisse Präsenz in den betreffenden Branchen braucht. Insofern geht an gewerkschaftlichen Erschließungsprojekten auch weiterhin kein Weg vorbei. Ein kluges Ansetzen an Arbeitsbelastung kann ein effektiver „Türöffner“ sein, nicht nur wenn man an die Mehrfachbeschäftigung in Minijobs, etwa im Einzelhandel, denkt, sondern auch in höherqualifizierten Bereichen, in denen neue Steuerungsformen und entgrenzte Arbeitszeiten Beschäftigte an Belastungsgrenzen bringen. Auch in der Industrie ist die Debatte um Personalbemessung – wie 2018 zeigt – in Teilen angekommen.

Verknüpfung gewerkschaftlicher Kämpfe und Engagement für breitere gesellschaftliche Bündnisse

Insgesamt haben Arbeitskämpfe in Deutschland seit der Jahrtausendwende deutlich zugenommen; neben branchenweiten (Tarif-)Auseinandersetzungen gilt dies auch für Arbeitskämpfe auf Unternehmensebene oder Konflikte im Interesse bestimmter Berufsgruppen, was allerdings (wie Heiner Dribbusch zurecht bemerkt) letztlich Ausdruck der Schwächung institutioneller Machtressourcen ist: immer weniger kann an „grünen Tischen“ einvernehmlich geregelt werden. Momentan ist hingegen viel von einem „neuen Selbstbewusstsein“ der Gewerkschaften die Rede, das sich nicht zuletzt in Arbeitskämpfen ausdrücke. Drei Veränderungen fallen ins Auge: Zum ersten haben die zahlreichen symbolischen Verbeugungen vor den „systemrelevanten“ Beschäftigten, die sich der Reproduktion von Arbeitskraft und gesellschaftlichen Strukturen widmen, und das Ausbleiben von Verbesserungen in diesen Bereichen (wie erwähnt) zu erheblichem Frust geführt. Dieser scheint derzeit in einer besonders breiten Beteiligung an der Tarifrunde des öffentlichen Dienstes zum Ausdruck zu kommen – und in einer bemerkenswert großen öffentlichen Akzeptanz der Tarifforderungen. Die übliche Skandalisierung von Streiks in den Medien verfängt derzeit kaum – man ist geneigt zu denken, dass Gewerkschaften aktuell an Kommunikationsmacht gewinnen. Dies ist kein spezifisch deutsches Phänomen: Auch in Frankreich, Großbritannien, Portugal und anderswo werden derzeit ausgesprochen scharfe Auseinandersetzungen im Bereich des öffentlichen Dienstes geführt – gerade dort, wo staatliche Sparpolitik und Ökonomisierungsinitiativen besonders verheerende Folgen hatten, regt sich derzeit der lebhafteste Widerstand. Zum zweiten sind die aktuellen Arbeitskämpfe insofern von neuer Qualität, als etwa die Gewerkschaft ver.di nicht nur verschiedene Beschäftigtengruppen in öffentlichen Diensten gleichzeitig in den Ausstand ruft (Sozial- und Erziehungsdienste, Post, Müllabfuhr, Verkehrsbetriebe usw.), sondern sich dabei zugleich mit der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft zusammentut, um den Personen- und Güterverkehr weitgehend zum Erliegen zu bringen. Transport ist offenkundig (und zumal in Zeiten der Klimakrise) ein zentrales gesellschaftspolitisches Problem, und es ist ein großer Fortschritt, dass Arbeitskämpfe über die Organisationsgrenzen hinaus verbunden werden. Dies gilt umso mehr, als es (drittens) Hinweise darauf gibt, dass Gewerkschaften in derlei zentralen Fragen zunehmend den Schulterschluss mit anderen sozialen Bewegungen suchen, wie etwa gemeinsame Aktionen von ver.di (Bereich ÖPNV) und Fridays for Future Anfang März 2023 zeigten. Aktuelle Debatten über die Zukunft einer leistungsfähigen und vor allem bedarfsgerechten öffentlichen Infrastruktur (Stichwort: foundational economy) sowie die Einbeziehung von Elterninitiativen in den letzten Arbeitskämpfen der Sozial- und Erziehungsdienste weisen in eine ähnliche Richtung. Damit dürften auch die Auseinandersetzungen um die Notwendigkeit politischer Streiks in den Gewerkschaften lebendiger werden.

Gewerkschaften im Verhältnis zu Staat und Kapital 

In der Hochphase der Pandemie war viel von der Rückkehr eines „starken Staates“ die Rede, teilweise gar vom Ende des Neoliberalismus. Tatsächlich hatte sich der Staat seit den 1980er Jahren überhaupt nicht zurückgezogen – er hatte nur sehr viel eindeutiger als zuvor Politik im Interesse von Wirtschaft und „Standortsicherung“ betrieben. Besonders gut zu studieren war dies zum einen in Gestalt einer staatlichen Politik der Prekarisierung (Erweiterung der rechtlichen Spielräume für prekäre Beschäftigung bei Erhöhung des Drucks auf (potentiell) Arbeitslose im Rahmen „aktivierender“ Arbeitsmarktpolitik) und zum anderen im Umgang mit dem öffentlichen Dienst (Privatisierung und Personalabbau, Verschärfung ökonomischer Zielvorgaben, Aushungerung öffentlicher Kassen durch Austeritätspolitik). Beide Tendenzen, die zusammen zu einer großangelegten Enteignung von Sozialeigentum (Robert Castel) führten, wirken bis heute weitgehend ungebrochen fort. Entsprechend gibt es keinen Grund für Gewerkschaften, hier weniger kritisch und protestbereit zu werden – im Gegenteil. In Großbritannien wird aktuell das Streikrecht in Frage gestellt, in Frankreich werden Parlamentsentscheidungen (über die Erhöhung des Rentenalters) abgesagt. In Deutschland markiert die aktuelle Entwicklung, Sondervermögen etwa für Militarisierung zu schaffen, während die Schuldenbremse für den „regulären Haushalt“ und damit gerade auch für „Arbeit, Wirtschaft und Soziales“ wieder aktiviert werden soll, eine massive Zuspitzung von Verteilungskämpfen, während Rüstungsfirmen Rekordgewinne verbuchen dürfen. 

Was in jüngster Vergangenheit als neue Qualität von Staatshandeln diskutiert wurde, enthält keinen Bruch mit dieser Logik. In der Pandemie machte selbst der Infektionsschutz vor vielen Betriebstoren halt, Eingriffe in die Wirtschaft erfolgten vor allem zum Zweck der Stützung von Unternehmen (wie etwa der Lufthansa). Im Bereich der Regulierung von Arbeit wurden bisherige Politiken fortgesetzt (man denke etwa an die Umbenennung von Hartz IV zum Bürgergeld, die wenig substanzielle Verbesserungen für Betroffene bewirkte). Zugleich wird zumindest in Ansätzen darauf geachtet, dass die Legitimationsverluste in einer „sozial gespaltenen Demokratie“ (Armin Schäfer) beherrschbar bleiben (deshalb Corona-Hilfen, Inflationszuschüsse, Mindestlohnerhöhung, aber auch Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, Maßnahmen gegen Union Busting, Überlegungen zur Reform der Mitbestimmung …). Diese staatlichen Maßnahmen wurden von Gewerkschaften gefordert und begrüßt, zumal sie auf Probleme antworten, derer Gewerkschaften von sich aus nicht (mehr) Herr zu werden in der Lage sind. Dies hat allerdings mindestens zwei problematische Konsequenzen: Zum einen lockt auch die derzeit amtierende Regierung die insgesamt geschwächten Gewerkschaften, die in den vergangenen Jahrzehnten viel von ihrer Durchsetzungsfähigkeit eingebüßt haben, mit der Aussicht auf eine Erneuerung institutioneller Macht, etwa im Rahmen einer „Konzertierten Aktion“. Dies legt (wie stets, wenn die SPD in der Regierung ist) gewerkschaftliche Zurückhaltung nahe – sowohl in Bezug auf gesellschaftspolitisch strittige Fragen als auch in Verhandlungen mit der Kapitalseite. Insofern war etwa das Angebot der Steuerfreiheit für einen Teil der anstehenden Tariferhöhungen ein vergiftetes Geschenk. Vergiftet nicht nur, weil nun tariflich steuerfreie Einmalzahlungen vereinbart werden, die das tarifliche Grundgehalt nicht erhöhen und daher weder bei künftigen Tariferhöhungen noch in Hinblick auf die Rente vorteilhafte Auswirkungen haben. Vergiftet auch, weil ein solches Bonbon von Seiten des Staates nicht dazu beiträgt, dass Gewerkschaften ihren Mitgliedern die Erfahrung von Selbstwirksamkeit, von Stärke durch gemeinsames Handeln vermitteln können. Diese ist jedoch eine wesentliche Grundlage für individuelles Selbstbewusstsein und für Solidarisierung (im Sinne einer Erweiterung des „Wir“, für dessen Interessen man einsteht). Die Verantwortung für ein besseres Leben an einen „starken Staat“ zu delegieren, birgt das Risiko, dass autonome Gewerkschaftspolitik immer weniger erfahrbar wird. Zudem beinhaltet die Tendenz, Forderungen angesichts einer schwindenden Durchsetzungsmacht von Gewerkschaften in betrieblichen und Branchenkonflikten zunehmend an „den Staat“ zu richten, die Gefahr, dass die Kapitalseite weitgehend aus dem Blick gerät. Auch in Deutschland wird eher verhalten über Instrumente diskutiert, mit denen wenigstens die gröbsten Auswüchse kapitalistischer Profitmacherei begrenzt werden könnten (Spekulations- oder Übergewinnsteuer), während die ungleiche und immer ungleicher werdende Verteilung von gesellschaftlichem Reichtum, die Verschiebungen im Zugriff auf gesellschaftliche Zeit und der zunehmende Rückzug von Unternehmen aus ihrer Verantwortung für die Reproduktion von Arbeitskraft (auch von Gewerkschaften) im Wesentlichen als gesetzt akzeptiert werden. Aktuell ist zu befürchten, dass genau dieselben Herausforderungen, die derzeit das Schmieden neuer Bündnisse zwischen Gewerkschaften oder zwischen ihnen und anderen Gruppen erleichtern (siehe oben) und die angeblich „uns alle“ gleichermaßen betreffen (Transformation, Klimawandel etc.), den strukturellen Interessengegensatz zwischen Arbeit und Kapital (der sich gerade auch in diesen Phänomenen niederschlägt) weiter in den Hintergrund treten lassen könnten. Staat und Kapital erscheinen hier eher als Partner in einer „win win“ (oder besser: „lose less“) Konstellation, denn als Gegner, gegen die man die Interessen von Arbeitenden durchsetzen muss. 

„Fachkräftemangel“ – Gunst der Stunde für eine Stärkung der Gewerkschaften?

Tatsächlich gibt es derzeit Hinweise darauf, dass in manchen Branchen so großer Mangel an qualifiziertem Personal besteht, dass bestimmte Beschäftigte bei ihrer Einstellung bessere Bedingungen aushandeln können. Allerdings gilt dies meist nicht für Bestandsverträge, so dass in Betrieben neue Dimensionen von Ungleichheit entstehen (neu Rekrutierte verdienen im Zweifelsfall mehr als erfahrene und langjährig Beschäftigte), die Betriebsräte vor Herausforderungen stellen. Darüber hinaus fehlen vor allem bestimmte Fachkräfte – deren Arbeitsmarktmacht nimmt zweifellos zu. Ist sie zudem mit hoher struktureller Macht verbunden (weil die betreffenden Beschäftigten an kritischen Punkten arbeiten und „die Räder stillstehen“ lassen können), lässt sich beobachten, dass kleine, schlagkräftige Sparten- oder Berufsgewerkschaften entstehen (Vereinigung Cockpit, Gewerkschaft der Lokomotivführer), denen oft vorgeworfen wird, die eigenen Interessen auf Kosten oder zumindest unter Ignoranz der Interessen anderer Beschäftigter durchzusetzen, die in einer weniger starken Verhandlungsposition sind. Die Gefahr ist real, dass die Differenzen und die Konkurrenz zwischen Beschäftigten, die sich eigentlich als Kolleg*innen verbunden sein sollten, weil sie etwa im Arbeitsprozess aufeinander angewiesen sind, durch die derzeit steigende Nachfrage nach bestimmten Qualifikationen weiter zunimmt. Eine solche Polarisierung würde eine auf Solidarisierung und übergreifende Interessen setzende gewerkschaftliche Politik zusätzlich erschweren. Zugleich gibt es Hinweise auf erfolgreiche Schritte hin zu einer solch solidarischen Politik, wenn etwa die Gewerkschaft ver.di gemeinsame Tarifkommissionen von Pflege- und (oft in Tochterfirmen ausgelagerten) Reinigungskräften einrichtet und die Beschäftigten, die im Arbeitsprozess verbunden, aber unternehmensstrukturell und zusätzlich in Bezug auf die Knappheit der jeweiligen Qualifikation voneinander getrennt sind, gemeinsam in den Arbeitskampf führt. Der für die Pflege geltende Fachkräftemangel ist im Reinigungsgewerbe seit Jahrzehnten festzustellen – trotzdem haben sich die Löhne und Arbeitsbedingungen kaum verbessert, weil genug zusätzliche Arbeitskraft mobilisiert werden konnte, deren Ausbeutung nicht nur und nicht einmal in erster Linie auf der Arbeitsmarktlage beruht (etwa Migrant*innen ohne Deutschkenntnisse und/oder aufenthaltsrechtlichem Erpressungspotential). Fachkräftemangel in der Pflege kann erst dann zu einem Instrument für Solidarisierung werden, wenn Gewerkschaften klar machen, dass die Arbeit der gesuchten Fachkräfte auf der Arbeit anderer, aktuell weniger heiß begehrter Beschäftigtengruppen beruht, für die sich die Bedingungen folglich ebenfalls verbessern müssen.

Vor allem aber ist es essentiell, nicht von einem Automatismus zwischen knapper Arbeitskraft und verbesserten Bedingungen auszugehen. Solange Gewerkschaften und Betriebsräte nicht in der Lage sind, bestimmte Belastungsgrenzen und Standards von Personalausstattung durchzusetzen, werden Unternehmen auf Personalmangel mit weiteren Runden der Arbeitsverdichtung reagieren. Ein „goldenes Zeitalter der Lohnarbeit“ bricht nie von selbst an, sondern muss stets erkämpft werden. Dennoch hat die weitverbreitete Diskussion über Fachkräftemangel einen unleugbaren positiven Effekt: Sie delegitimiert die langjährig erfolgreich zur Schwächung von Beschäftigten genutzte Argumentation, dass etwa angesichts der vielgestaltigen Transformation in der Automobilindustrie ein Großteil der Belegschaften überflüssig, ihre Qualifikationen letztlich wertlos seien. Die hohen Tarifabschlüsse, die derzeit unter Verweis auf den Inflationsdruck erzielt werden, zeigen, wie wenig sie mit den realen Personalbedarfen der Branche zu tun haben. 

Welche Rolle kann linke Politik im Verhältnis zu den Gewerkschaften spielen?

Wo Parteien links der Sozialdemokratie, wie DIE LINKE in der Bundesrepublik, selbst in einer langanhaltenden Krise stecken, sind sie für Gewerkschaftsführungen keine attraktiven Adressaten – verfügen sie doch selbst über wenig institutionelle Macht, die einen Einfluss auf die Politik der Regierung garantieren würde. Umso wichtiger ist es, linke Strömungen innerhalb der Gewerkschaften politisch zu unterstützen. Dies geschieht bereits, wenn etwa Mitglieder und Sympathisant*innen linker Parteien selbst in den Betrieben, in denen sie arbeiten, gewerkschaftliches Engagement entfalten, linke Positionen mit Nachdruck vertreten und zu Ansprechpartner*innen für andere Beschäftigte werden. Auch kann linke Politik durch Bildungs- und Diskussionsangebote Einfluss auf betriebliche bzw. gewerkschaftliche Multiplikator*innen nehmen und den Austausch zwischen Aktiven erleichtern. Sie kann gewerkschaftliche Positionen aufnehmen und in Parlamente tragen. Linke Politik kann jedoch nicht nur Foren schaffen und Positionen übernehmen, sondern zugleich Druck von links auf Gewerkschaften ausüben. Letzteres setzt voraus, ausgehend von aktuellen gewerkschaftlichen Problemen und Debatten eigene Positionen zu formulieren. Es reicht nicht aus, jeweils nur den Stand der Diskussion zu reproduzieren. Vielmehr geht es darum, Perspektiven zu erweitern und Forderungen insofern zu „radikalisieren“, als man die im gewerkschaftlichen Alltagsgeschäft auftretenden Probleme aufgreift und auf dieser Grundlage Forderungen erarbeitet, die über die Logik einer kapitalistischen Verfassung von Wirtschaft, Staat und Gesellschaft hinausweisen. Es gibt viele Ansatzpunkte für eine solche Strategie – hier seien nur drei davon angedeutet. So wäre es (erstens) an der Zeit, die vielfältigen Organizing-Aktivitäten verschiedener Gewerkschaften einer kritischen Prüfung zu unterziehen: Welche Machtressourcen setzen sie voraus, welche entstehen durch gewerkschaftliche Erschließungsprojekte – und wovon hängt es ab, ob kollektive Interessenvertretung nachhaltig gestärkt wird? Linke Politik könnte hier dazu beitragen, dringend notwendige gewerkschaftsübergreifende Diskussionen zu fördern und Aktive zum Beispiel daran zu erinnern, dass die Ursprünge des Organizing eng mit Forderungen nach einer Demokratisierung gewerkschaftlicher Strukturen verbunden waren, die im gewerkschaftlichen „Häuserkampf“ und im Kampf um neue Mitglieder oft untergehen. Besonders naheliegend wäre es (zweitens), aktuelle gewerkschaftliche Debatten und Konflikte um „Transformation“ aufzugreifen und sie mit jenen (teilweise bemerkenswert ausgefeilten) Übergangsforderungen zu verbinden, die in den 1980er Jahren im Kampf um die westdeutsche Stahlindustrie entwickelt worden sind. Die Übernahme von Unternehmen durch die Belegschaft, demokratische Regionalräte, Rüstungskonversion – Konzepte wie diese spielen aktuell quasi keine Rolle. Doch der alte Kampf um Wirtschaftsdemokratie kann für die politische Linke heute ein wichtiger Ausgangspunkt sein, um über eine andere, demokratischere Gesellschaft nachzudenken – ist linke Politik doch ohne systemüberschreitende Visionen wie diese schwer vorstellbar. Drittens könnte linke Politik dort, wo sie kommunalpolitisch verankert ist, einen aktiven Beitrag dazu leisten, Kämpfe um den Betrieb mit Kämpfen um die Stadt zu verbinden. Die aktuelle Runde von Filialschließungen bei der einzig verbliebenen Warenhauskette Galeria (Karstadt) zum Beispiel bietet die Chance, gewerkschaftliche Kämpfe um den Erhalt von Arbeitsplätzen mit einer Kommunalpolitik zusammen zu bringen, die sich nicht nur gegen die Verödung von Innenstädten, sondern auch gegen Immobilienspekulation wendet. Kurz: Eine linke Gewerkschaftspolitik kann dazu beitragen, alltägliche betriebliche Konflikte mit der Frage nach der Logik des kapitalistischen Wirtschaftssystems zu verbinden. Sie kann das gemeinsame Nachdenken über Wege fördern, die diese Logik in Frage stellen und darüber hinausführen. Sie kann Aktive aus verschiedenen Branchen und Gewerkschaften ins Gespräch bringen, deren Einsicht in gemeinsame Interessen stärken, den Austausch über Alternativen zum Status Quo initiieren. Sie kann Verbindungen schaffen – zwischen Beschäftigtengruppen, zwischen Gewerkschaften, zwischen Arbeits- und anderen Kämpfen und nicht zuletzt zwischen Gewerkschafts- und Klassenpolitik. Es gibt viel zu tun.