Die nachwirkenden Pandemiefolgen, eine rekordhohe Inflation, unterbrochene Lieferketten und Konjunkturrisiken: Sich überlagernde und wechselseitig verstärkende Krisen treffen die Menschen in Europa mit voller Wucht. Nachdem zunächst Krisenfolgen abgefedert wurden, hat ein erneuter Politikwechsel soziale Austerität zurück auf die Tagesordnung gesetzt. Damit ist die Wahrscheinlichkeit gestiegen, dass es zu „inneren Unruhen“ kommt, stellt das Beratungsunternehmen „Verisk Maplecroft“ in Bath/Großbritannien in seinem „Civil Unrest Index“ fest – nicht nur mit Blick auf den europäischen Kontinent. In mehr als 80 Prozent der 198 im Index untersuchten Länder liegt die Inflation oberhalb von sechs Prozent, womit die „soziökonomischen Risiken“ ein „kritisches Niveau“ erreichen. In der Hälfte aller Länder wird das Risiko für „innere Unruhen“ als „hoch“ oder „extrem“ eingestuft. Entsprechend könne man davon ausgehen, dass „der Ernst und die Häufigkeit von Protesten und von Arbeiter*innen-Aktivismus sich in den kommenden Monaten weiter intensivieren“ – so ein Fazit des Index.[1]

Fakt ist: In vielen europäischen Staaten sind abhängig Beschäftigte in den Ausstand getreten, und das nicht erst im Februar oder März dieses Jahres.

Frankreich

In Frankreich streikten bereits im ersten Halbjahr 2022 unter anderem Lehrer*innen, Beschäftigte der öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und TV-Sender und Flughafen-Angestellte. Im September folgten die Fluglotsen, im Oktober die Arbeiter*innen von Ölraffinerien, dazu kam ein landesweiter Generalstreik gegen die hohen Lebenshaltungskosten. Als Präsident Marcron wenig später seine Pläne vorstellte, das Renteneintrittsalter von 62 auf 64 Jahre anzugeben, folgte ein landesweiter Generalstreik, an dem sich Millionen Beschäftigte beteiligten. Denn tatsächlich gehen bereits jetzt viele Französ*innen deutlich später in Rente: Um eine abschlagsfreie Rente erhalten zu können, müssen sie 42 Beitragsjahre vorweisen, künftig sollen es 43 Jahre sein. Diese „Reform“ trifft Beschäftigte in Schichtarbeit mit unregelmäßigen Dienstzeiten besonders hart, da sie bislang unter Sonderregelungen (régimes spéciaux) fielen. Vor allem Metrofahrer*innen sowie Pfleger*innen und Krankenschwestern sind von dieser Änderung betroffen.

Der Widerstand gegen diese Pläne nahm zu, nachdem der französische Präsident eine 40-prozentige Erhöhung der Militärausgaben angekündigt hatte. Es ist eine Kraftprobe mit ungewissem Ausgang: Bereits zu Beginn waren die Proteste massiver, als es selbst die Gewerkschaft CGT erwartet hatte. In Umfragen lehnen drei Viertel der Französ*innen das Vorhaben ab. Der Senat hat dem Vorhaben bereits zugestimmt, die abschließende Beratung wird am 27. März in der Nationalversammlung stattfinden. Zu Recht warnt Macrons ehemalige Umweltministerin Barbara Pompili: „Man kann keine Reform gegen die Bevölkerung machen.“ 

Österreich

Ende November vergangenen Jahres legten die Bahnbeschäftigten in Österreich einen Tag lang die Arbeit nieder. Zum einen forderten sie eine Lohnerhöhung von 400 Euro mehr für alle bei einer Laufzeit von einem Jahr, was die unteren Lohngruppen besonders begünstigt. Zum anderen ging es um die „Mobilität als Achillesferse im Kampf gegen die Klimakrise", so eine Vertreterin der Verkehrs- und Dienstleistungsgewerkschaft Vida, und dafür brauche es vernünftig bezahlte Beschäftigte. Auch die österreichische Klimaschutzbewegung schloss sich dem landesweiten Ausstand an: „Mobilitätswende braucht Lohnerhöhung", twitterte Fridays for Future in Wien. Die Popularität des Streiks verhalf Vida zum Erfolg: Das Entgelt der 50.000 Eisenbahner*innen steigt innerhalb von 15 Monaten um 480 Euro – ein prozentuales Gehaltsplus von 9 bis 17 Prozent.

Großbritannien

In dem von den Tories regierten Großbritannien sind die Lohnabhängigen besonders gebeutelt: Massiver Sozialabbau, wiederholte Reallohnabsenkungen und eine Inflation von über elf Prozent treiben den ärmeren Teil der Bevölkerung in den Ruin. Infolgedessen haben sich Arbeiter*innen bei Bahn, Post und im Telekommunikationssektor, Krankenschwestern und -pfleger*innen, Rettungssanitäter*innen, Lehrer*innen, Dozierende und Beschäftigte im öffentlichen Dienst einer seit sieben Monaten andauernden Streikwelle angeschlossen, an der sich Millionen beteiligen. Manche Gewerkschafter*innen wie die Mitglieder des Royal College of Nursing streiken zum ersten Mal seit hundert Jahren. Sie fordern höhere Löhne, sichere Arbeitsplätze, das Ende prekärer Beschäftigungsverhältnisse und der Privatisierung sowie die Anerkennung der Gewerkschaften. Bereits seit Thatchers Zeiten gibt es in Großbritannien Anti-Streik-Gesetze, die seitdem beständig verschärft werden. So plant die Sunak-Regierung aktuell Streiks in Schlüsselindustrien und wichtigen Dienstleistungsbereichen zu kriminalisieren und Gewerkschaften nicht länger generell als Tarifpartner zu akzeptieren. Doch die Streiks dauern an. Zunehmend häufiger ist die Rede von einem Generalstreik, den es in Großbritannien seit 1926 nicht mehr gegeben hat.

Das Besondere an der britischen Streikbewegung ist nicht nur ihre Vehemenz, sondern auch die Unterstützung, die sie genießt. Mittlerweile ist die wichtigste soziale Einrichtung des Landes – das staatliche Gesundheitswesen NHS – durch viele Teilprivatisierungen und Kürzungsrunden derart auf den Hund gekommen, dass „enough is enough" – "Genug ist Genug" – zum geflügelten Schlagwort einer breiteren gesellschaftlichen Protestbewegung geworden ist, die der in Frankreich nicht unähnlich ist.

Spanien

Eine Million Menschen protestierten in Spaniens Hauptstadt Madrid gegen die „Demontage“ des öffentlichen Gesundheitssystems und forderten mehr Mittel für die Primärversorgung und eine Aufstockung des Personals in ambulanten Notfallzentren. Seit Jahren setzt die Regionalregierung Sparprogramme im Gesundheitswesen durch. Das medizinische Personal ächzt unter den Folgen während Bürger*innen keinen Hausarzt mehr finden. „Zehn Ärzte leisten derzeit die Arbeit von 15", schreibt El País. Die Demonstrant*innen werfen der Regionalregierung vor, private Gesundheitseinrichtungen zu bevorzugen, statt mehr Ressourcen in das öffentliche System zu stecken. 

Portugal

In Portugal hat die Streikbewegung weite Bereiche des öffentlichen Sektors erfasst – neben der öffentlichen Verwaltung und des Finanzwesens auch Polizisten und die Justizverwaltung. Mehrfach legten Eisenbahner den Bahnverkehr lahm, zwischen dem 9. und 18. März fuhren sie den Betrieb um 30 Prozent herunter. In Lissabon gingen zuletzt 150 000 Lehrer*innen und Schulangestellte auf die Straße, es war bereits die dritte Protestkundgebung innerhalb weniger Wochen Sie fordern mehr Investitionen in den Bildungssektor, Festanstellungen und eine Anhebung der Gehaltsgruppen – die unterste Gruppe liegt bei Lehrer*innen bei 1 100 Euro, eine mittlere kommt über 2 000 Euro nicht hinaus.

Italien

Auch in Italien streiken die Beschäftigten von Fluggesellschaften und Flughäfen, der Bahn, des Bildungswesens und des Nahverkehrs. Zugleich demonstrierten in mehr als hundert italienischen Städten die Menschen unter dem Motto „Nein zum Krieg in der Ukraine!". Damit brachten junge und ältere Menschen, Gewerkschafter*innen, Fridays for Future und viele Vertreter der italienischen Linken ihre Ablehnung gegen die Kriegswirtschaft und die hohen Lebenshaltungskosten zum Ausdruck.

Deutschland

Nachdem der heiße Herbst in Deutschland eher lauwarm ausfiel, brennt es im Winter. Die Inflation führt dazu, dass die Reallöhne verfallen und bereits jetzt zeichnet sich ab, dass 2023 durchaus als Streikjahr in die Annalen eingehen könnte. Den Auftakt machten die 160 000 Beschäftigten der Deutschen Post AG mit einer breiten Warnstreikwelle und einer Urabstimmung, bei der sich 85,9 Prozent zugunsten eines unbefristeten Streiks aussprachen. Fast 90 Prozent der Beschäftigten bei der Post sind in den unteren Lohngruppen eingruppiert. Insbesondere für sie dürfte mit dem Tarifabschluss das Ziel des vollständigen Inflationsausgleichs – so die Gewerkschaft ver.di – wohl erreicht sein.

Die Auseinandersetzung im öffentlichen Dienst folgt auf dem Fuß: 2,7 Millionen Angestellte steigen in den Ring und kämpfen für substantielle Lohnerhöhungen. Daran schließen sich die Tarifverhandlungen bei der Bahn, im Handel und an den Universitäten an. Die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) fordert zwölf Prozent mehr Lohn, mindestens 650 Euro mehr im Monat. Das Konfliktpotenzial ist hoch.

Die Beteiligung an den Warnstreiks zeigt, dass Beschäftigte, insbesondere aus den unteren Einkommensgruppen, das Ende der Fahnenstange erreicht sehen. Sie können und wollen einen weiteren Reallohnverlust nicht hinnehmen. Die Streikbereitschaft – das hat der Stärketest der Beschäftigten bei der Post und im öffentlichen Dienst gezeigt – ist so groß wie seit Jahren nicht mehr.

Toxische Gemengelage

Die Inflation – bei Gas, Strom, Benzin, Mieten und ­Lebensmitteln – frisst die in früheren Jahren hartnäckig erkämpften Realeinkommen auf. Wie prekär die Situation ist, zeigen Zahlen des Europäi­schen Gewerkschaftsbunds (ETUC): In 16 EU-Staaten, darunter Deutschland, müssen Beschäftigte ein Monatsgehalt und mehr für Strom und Heizung bezahlen. In Ländern wie Griechenland, Tschechien oder Italien trifft dies selbst Personen mit einem Durchschnittslohn. „Diese Preise sind einfach unbezahlbar für Millionen Menschen“, so die stellvertretende ETUC-Generalsekretärin Esther Lynch. „Während Energiekonzerne Rekordprofite verbuchen, müssen sich Millionen Menschen entscheiden, ob sie es sich leisten können, die Heizung anzustellen oder ihren Kindern eine warme Mahlzeit zu kochen.“ 

Und noch eine Widerspruchsebene drängt sich auf: Während die soziale Ungleichheit wächst und die die öffentliche Daseinsvorsorge fortwährend erodiert, betreiben die Regierungen eine Politik der Hochrüstung. Das Geld, das an der einen Stellen vermeintlich fehlt, wird an anderer Stelle kurzfristig und in nicht für möglich gehaltenen und auch nicht näher begründeten Größenordnungen zur Verfügung gestellt. Auch dadurch werden Verteilungskonflikte politisiert.

Der Blick auf die neue europäische Streiklandschaft zeigt eine Verschiebung, die bereits Jahre vor der Corona-Pandemie einsetzte, durch sie aber eine weitere Verstärkung erfahren hat: Die Dienstleistungs-, Care- und öffentlichen Bereiche mussten im Regime des Neoliberalismus die Hauptlast von Prekarisierungs-, Austeritäts- und Vermarktlichungspolitik tragen. Während der Pandemie erwiesen sie sich dann aber als „systemrelevant“ für das Alltagsleben und für eine zukunftstaugliche Lebensweise – von der Kita bis ins Rentenalter. 

Die Beschäftigten in diesen Bereichen kritischer Infrastruktur haben Anerkennung und Aufwertung erfahren, was neue Widerstandskraft ermöglicht hat. Und sie wissen diese neue Machtressource zu nutzen – auch in erweiterten Bündnisperspektiven. Dass die gemeinsamen Aktionen von ÖPNV-Beschäftigten und Fridays for Future hierzulande bereits die Mahner gegen politische Streiks vehement auf den Plan gerufen haben, kann auch Ausgangspunkt von Hoffnung sein.