Was ist also die Strategie? Wie können wir sicherstellen, dass die Technologien die Menschen befreien und nicht versklaven?
Nun, es ist der gleiche alte Kampf. Es ist ein Kampf um die Macht in den Konzernen. Er ist jetzt gerade im Gange: «Es tut mir leid, aber dein Job macht jetzt ein Roboter.» «Aber was wird aus mir?» «Tut mir leid, du bist entlassen, tschüss!» Das muss nicht so sein. Das geht anders. Das ist also der große politische Kampf, den wir führen. Es geht darum: Technologie ist etwas Gutes, wenn man sie kontrolliert, damit sie den Menschen dient. Das ist ein wichtiger politischer Kampf, bei dem es im Kern darum geht: Technologie kann gut sein, wenn sie zum Nutzen der Menschen kontrolliert wird. Das muss im Zentrum der politischen Diskussion stehen, die wir führen.
Vor wenigen Tagen hatte ich Besuch von Bhaskar Sunkara, dem Chefredakteur von The Nation/Jacobin, und wir sprachen auch über Ihre Kampagne und über die Wahrscheinlichkeiten einer Nominierung und dann möglicherweise einer Präsidentschaft in den Vereinigten Staaten. In 2020 war das alles sehr greifbar. Zugleich sprechen Sie immer von der Oligarchie und der organisierten, auch medialen Macht der kapitalistischen Klasse. Wie sehr waren Sie darauf vorbereitet? Welche Vorbereitungen hatten Sie eigentlich für den Tag einer Präsidentschaft und die schieren Angriffe, denen Sie dann ausgesetzt gewesen wären, getroffen?
Auf der einen Seite wussten wir natürlich, was passieren würde. Wir wussten, dass wir es mit dem Medien-Establishment, dem wirtschaftlichen Establishment und dem politischen Establishment aufnahmen. Verstehen Sie? Das wussten wir. Was wir aber sehr früh, also 2015/2016, gezeigt haben – und das war sehr wichtig – ist, dass es bis dahin den Mythos gab, die Vorstellung, dass das amerikanische Volk mit dem Establishment, mit dem Status quo zufrieden ist. Dass die Bevölkerung mit der Status-Quo-Politik einverstanden ist. Und dann kamen wir und sagten: «Sorry, aber das stimmt doch überhaupt gar nicht.» Ganz sicher galt das nicht für die jungen Leute; und viele Menschen aus der Arbeiterklasse wollten eine transformative Politik. 2020 waren wir dann besser darauf vorbereitet, es mit allen Pfeilern des Establishments aufzunehmen. Wir haben die ersten drei Vorwahlen in Iowa, New Hampshire und Nevada gewonnen. In South Carolina haben wir verloren. Und zu diesem Zeitpunkt, kurz vor dem Super Tuesday, dem Tag, an dem in vielen Bundesstaaten Vorwahlen stattfinden, hat das Establishment sehr deutlich gemacht, dass sie Kandidatinnen und Kandidaten ausschließen und sich um Biden scharen wollen. Das ist also die Realität, mit der wir konfrontiert waren.
Gesetzt den Fall, dass das Establishment der Demokratischen Partei Ihre Kampagne nicht auf diese Weise torpediert hätte, wie 2020 oder 2016 mit Debbie Wasserman Schultz. Wie hätte Ihr Programm für die ersten 100 Tage als Präsident der Vereinigten Staaten ausgesehen?
Richtig, die ersten 100 Tage wären entscheidend gewesen. Die Leute haben Worte ohne Taten satt. Das Programm wäre gewesen, sehr mutig zu handeln, um jeder Amerikanerin und jedem Amerikaner eine Gesundheitsversorgung zu garantieren. Aus einer Reihe von Gründen denke ich, dass es einfacher gewesen wäre, uns dem kanadischen und nicht den europäischen Systemen anzunähern. Aber wir hätten Gesundheit als ein Recht garantiert und kostenlos gemacht. Wir hätten versucht, die Kosten von Medikamenten in den USA zu halbieren. Wir hätten die Studiengebühren für alle öffentlichen Hochschulen und Universitäten abgeschafft. Wir hätten die Steuern auf die großen Konzerne und die Reichen substanziell erhöht. Wir hätten riesige Anstrengungen unternommen, um Millionen Arbeitsplätze zu schaffen, um unser Wirtschaftssystem von fossilen auf regenerative Energien umzustellen. Wir hätten die Ausgaben für die öffentliche Versorgung mit Kitas und Kindergärten verdoppelt. Die USA sind durch viele, viele, tief verankerte Systemkrisen gekennzeichnet. Auf diese hätten wir uns in den ersten 100 Tagen konzentriert.
Senator Sanders, Sie kandidieren 2024 nicht noch einmal. Sie unterstützen Joe Biden, um gemeinsam Trump und die Rechte zu schlagen. Sie haben auch darauf hingewiesen, welchen realen Fortschritt «Build Back Better» für die Arbeiterklasse hätte haben können und in Teilen auch hatte.
Sie fragten nach meinen ersten 100 Tagen. «Build Back Better» beinhaltete manches davon, ja.
Gleichzeitig kritisieren Sie aber auch das Demokraten-Establishment dafür, dass es vor der Macht der Milliardärsklasse kapituliert und das Leiden der Arbeiterklasse nicht sieht, das den Aufstieg der Rechten befördert. Wie gehen Sie damit in ihrer alltäglichen Politik um: Auf der einen Seite das Herausstellen und Herausarbeiten eines dritten Pols für den demokratischen Sozialismus, aber auf der anderen Seite die Zusammenarbeit mit und durch die Demokratinnen und Demokraten?
Mit großer innerer Unruhe und Schmerz. Es ist kein leichter Prozess. Aber das ist mein Job. Mein Job ist der eines Senators im US-Kongress. Mein Job ist es, das Beste für die Menschen in Vermont herauszuholen. Wir arbeiten heute an einer Reihe von wichtigen Fragen für Vermont. Gleichzeitig bin ich mir bewusst, dass reale Veränderungen, die dringend nötigen Veränderungen in Amerika, nicht ohne eine mächtige Graswurzelbewegung entstehen werden. Aus diesem Grund widme ich einen Großteil meiner Zeit dem Aufbau dieser Bewegung. Und ich denke, wir sehen heute – nicht nur ich, sondern auch viele andere Linke tun das – diese Bewegung im Wachstum der Gewerkschaftsbewegung. Viele der Ideen, über die die Arbeiterinnen und Arbeiter sprechen, sind Ideen, über die ich viele Jahre lang gesprochen habe. Da entsteht etwas Neues. Aber ich lebe in zwei Welten. Ich bin ein Senator. Ich muss meinen Job machen. Dafür bekomme ich mein Geld. Gleichzeitig muss ich eben auch hart dafür arbeiten, zum Wachstum einer politischen Bewegung beizutragen, die die umwälzenden Veränderungen hervorbringt, die das Land braucht.
Senator Sanders, Sie sind schon seit sechs Jahrzehnten demokratischer Sozialist. Mehr als vier Jahrzehnte ihres politischen Lebens sind geprägt von der neoliberalen Konterrevolution gegen die Errungenschaften, die die Arbeiterklasse während des New Deal erzielte. In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die inflationsbereinigten Reallöhne der Arbeiterinnen und Arbeiter trotz gigantischer Produktivitätsfortschritte heute niedriger sind als vor 50 Jahren. Sie kennen ja wahrscheinlich das berühmte Zitat von Bertolt Brecht über die Schwachen, die nicht kämpfen, und die Stärksten, die ihr Leben lang kämpfen und unentbehrlich sind. Wie kämpft man sein ganzes Leben lang? Und wie bleibt man dabei, so wie Sie es vermochten, so heiter und unbeschwert?
Nun, man tut, was man kann. Ich hatte in meinem Leben das große Glück, dass die Bevölkerung von Vermont es mir ermöglicht hat, nach Washington zu gehen und sie zu repräsentieren, dass sie es mir erlaubt hat, die Schlachten zu schlagen, die ich geschlagen habe. Das ist ein Privileg. Ich bin sehr stolz, dass ich diese Chance bekommen habe, und ich nehme die damit verbundene Verantwortung sehr ernst. Als Mitglied des US-Senats bin ich in einer Position, die viele andere starke Linke nicht haben. Das heißt, ich werde meine Macht und meine Bekanntheit bestmöglich einsetzen, um eine demokratische – mit einem kleinen «d» –, eine demokratisch-sozialistische Gesellschaft aufzubauen, in der wir alle zusammen dafür sorgen, dass alle Menschen ein gutes Leben haben, in der wir die Klimafrage lösen und in der wir echte Demokratie, wirtschaftliche Demokratie haben. Kurz, ich hatte Glück. Für mich ist das kein Job. Es ist ein Privileg, in der Position zu sein, in der ich bin, und die Arbeit tun zu können, die ich tue, und dabei so viele großartige Menschen in Amerika und überall auf der Welt kennenzulernen.
Senator Sanders, vielen herzlichen Dank für ihren lebenslangen Kampf und dieses Interview.