Das alte Dilemma in neuer Gestalt
Deutlich sind heute die Konsequenzen des Versagens der Regierungen und der EU-Institutionen angesichts der kapitalistischen Krise zu erkennen. Auf politischer Ebene wurde der Versuch von Syriza, im nationalstaatlichen Rahmen eine demokratische, anti-neoliberale Alternative zu verwirklichen, unterdrückt. Damit wurde auch die Illusion, das Steuer Europas könne durch die Regierungsübernahme einer Linkspartei in einem kleinen, wirtschaftlich ausgepowerten Land herumgerissen werden, auf den harten Boden der Tatsachen, sprich: der wirtschaftlichen und politischen Kräfteverhältnisse, zurückgeholt. Die neoliberalen Eliten bezahlen für die betrogenen Hoffnungen der Integration mit dem Aufstieg der nationalistischen Rechten. Die Linke zahlt für ihre Illusionen mit dem Anwachsen euroskeptischer Tendenzen. Sich zur Verteidigerin der Europäischen Union, wie sie ist, zu machen, ist unmöglich. Sie im Rahmen der Verträge und Institutionen zu verändern, scheint nicht aussichtsreich. Umgekehrt aber ist auch der Gegenvorschlag, die Bearbeitung der europäischen Probleme zu renationalisieren, das heißt wieder an jene 27 nationale Regierungen zu delegieren, die immerhin die Hauptschuldigen am Versagen der EU-Institutionen sind, nicht glaubwürdig. Was tun?
Zunächst sollten wir uns die Vielschichtigkeit der Probleme vor Augen führen, die man als national konnotiert betrachten kann:
- die durch das exportgetriebene Wachstumsmodell Deutschlands wiederauflebende Hegemonie-Rivalität mit Frankreich;
- aber auch die im Europa der 27 dysfunktionale Idee, den gemeinsamen Führungsanspruch beider Länder wiederzubeleben;
- der in der Finanz- und Wirtschaftskrise entstandene Graben zwischen dem wirtschaftlichen Zentrum Europas und den Regionen, die zur Peripherie degradiert wurden;
- die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Unterschiede zwischen West- und Osteuropa;
- die verstärkten Desintegrationserscheinungen in multinationalen Staaten Europas;
- die Integration durch Immigration sich bildender neuer nationaler Gemeinschaften und die Rechtsentwicklung der einheimischen Bevölkerungen.
Ein paar Schlussfolgerungen
Die erste Schlussfolgerung lautet, dass der Respekt der nationalen Souveränität nicht im Gegensatz zu einer demokratischen Integration steht, sondern ihre Voraussetzung bildet. Sozialstaat, Steuerstaat, Arbeitsrechte, Konsumentenschutz, Bildungs- und Gesundheitssysteme hängen zwar von globalen Kontexten ab, noch immer sind sie jedoch nationalstaatlich verfasst. Jeder Fortschritt in der Erhöhung europäischer Standards, jede europäische Initiative zur Schließung der Steueroasen ist begrüßenswert. Doch ist das heute nicht die Richtung, in die sich die EU bewegt. Mit dem Vertrag von Lissabon wurde der Neoliberalismus als Grundnorm der EU verankert. Sich gegen den daraus resultierenden Umbau der Staaten mit allen Mitteln zur Wehr zu setzen, die eine national verfasste Demokratie bereitstellt, ist weder antieuropäisch noch nationalistisch.
Das finanzielle Waterboarding, mit dem die griechische Regierung im Juli 2015 in die Knie gezwungen wurde, widersprach nicht nur dem Prinzip der europäischen Solidarität, sondern war zugleich ein massiver Eingriff in die nationale Souveränität eines EU-Mitgliedsstaats. Es ist nachvollziehbar, dass auch sozialistische Parteien den Exit aus Euro oder EU als eine strategische Option in Erwägung ziehen. Andere Parteien haben jedoch das Recht, für ihre Länder das Gegenteil für richtig zu halten.
Selbstbestimmung ist kein metaphysisches Abstraktum. Es ist eines, wenn Zypriot*innen, Griech*innen und Portugies*innen ihr Recht auf nationale Selbstbestimmung verteidigen, und es ist ein anderes, wenn in Frankreich und Deutschland der Ruf nach nationaler Souveränität erhoben wird. Was hier ein Akt der Notwehr ist, steht dort für einen chauvinistischen Geltungsanspruch. Damit ist allerdings nicht gesagt, dass dieser ausschließlich in großen Staaten auftritt, wie die nationalistischen Rechtsregierungen Mitteleuropas zeigen.
Die zweite und wichtigste Schlussfolgerung lautet, dass wir uns in den großen und kleinen Ländern jede Anleihe beim Nationalismus und Populismus verbieten müssen. So wenig, wie man einen Alkoholentzug mit einem Besuch des Münchner Oktoberfests beginnt, so wenig sollte man sich einreden, Mehrheiten für den Erhalt des solidarischen Sozialstaats durch eine Entsolidarisierung mit Flüchtenden und Migrant*innen erreichen zu können.
Realistisch betrachtet, ist der Einfluss der linken Parteien auf den Fortbestand von Euro und EU nicht sehr hoch. Wir sollten jedoch nicht denken, dass die Linke aus dem Zerfall der EU Nutzen ziehen würde. Ein plausibles Szenario scheint nicht ein dramatischer Zusammenbruch zu sein, sondern ein quälender, sich hinziehender Verfall, wie ihn Österreich-Ungarn vor dem Ersten Weltkrieg erlebte. Nationale Gegensätze, gelähmte Institutionen, Ineffektivität und vor allem eine blockierte Demokratisierung bilden keine Ingredienzen für einen linken Aufbruch in Europa, sondern für den Rückfall Europas in Nationalismus und Autoritarismus.
Schließlich sollten wir unsere Strategie in der Wirtschaftskrise, in deren Zentrum der Kampf gegen die Austerität stand, kritisch überprüfen. Initiativen zur Europäisierung des Konflikts wurden zwar gesetzt, erreichten aber niemals ein machtpolitisch relevantes Ausmaß. Den Höhepunkt erlebte der politische Kampf gegen die Austerität mit dem Regierungsantritt von Alexis Tsipras, der die europäische Linke weniger in der Aktion als in den hochgesteckten Erwartungen vereinigte. Tatsächlich stand Syriza der vereinigten Macht des internationalen Finanzkapitals, dem mächtigsten Staat der EU und den europäischen Mainstreammedien allein gegenüber. Keine, auch keine sozialdemokratische Regierung kam zu Hilfe, und in keinem Land gelang es, durch Druck der Linken eine Änderung dieser Politik zu erreichen.
Zwei Interpretationen von Syrizas Niederlage stehen sich nun gegenüber: die Verratsthese, deren Verfechter*innen die Illusionen weiterleben, die die Linke von Anfang an leiteten; andererseits die Einschätzung, dass bei einer Beurteilung des Kräfteverhältnisses aus heutiger Sicht das Ziel, die Troika niederzuringen, zu keinem Zeitpunkt realistisch gewesen ist und dass bei einer besseren Abwägung der Chancen und Risiken vielleicht ein günstigeres Ergebnis der Verhandlungen möglich gewesen wäre. Nimmt man dieses Argument ernst, wäre allerdings auch zu klären, wieso fast die gesamte Linke Europas einen Diskurs führte, der sich innerhalb von sechs Monaten als unrealistisch herausstellte.
Wie aber kann man sich überhaupt eine Änderung des Kräfteverhältnisses in Europa vorstellen? Unbestritten ist die Bedeutung des Kampfes im außerparlamentarischen Raum, in dem die Linke eine über ihre institutionelle Verankerung hinausgehende Macht entfalten kann. Doch wo befindet sich das Machtzentrum, das ihre Forderungen verwirklichen kann? In Brüssel, in Frankfurt oder doch in Berlin? Unbestritten ist auch, dass nach wie vor die Kräfteverhältnisse in den Staaten den Ausschlag geben und diese, akkumuliert, an einem kritischen Punkt auch auf Europa durchschlagen können. Folgt daraus aber, dass ein Durchbruch gegen den Neoliberalismus auf jenen großen Tag verschoben werden muss, an dem in genügend vielen, hinreichend großen Ländern linke Mehrheiten bestünden? Besteht also die Botschaft darin, dass bis auf Weiteres nicht mehr erreichbar ist als Varianten eines »Neoliberalismus mit menschlichem Antlitz«, wie sie von den Regierungen Griechenlands und Portugals versucht werden? Ist das der Sucus der griechischen Lektion, den wir schlucken müssen?
Offensichtlich fehlt in unserer Strategie ein Bauteil, nämlich der Mechanismus, mittels dessen sich außerinstitutioneller Druck und Veränderungen nationaler Kräfteverhältnisse in europäische Politik transformieren lassen. Dieses fehlende, für eine transformatorische Strategie unentbehrliche Stück ist eine funktionierende Demokratie. Der schwerste Fehler mancher Pro-Europäer*innen besteht darin, sich die europäische Integration nicht anders als durch einen Abbau nationalstaatlicher Kompetenzen vorzustellen. Das aber ist fatal, weil die Kompetenzen, die die EU an sich zieht, nicht parlamentarischer Behandlung auf höherer Ebene unterworfen werden, sondern in einem Geflecht aus nationaler und europäischer Technokratie verschwinden, insgesamt also zu einem Abbau der Demokratie führen. Doch Integration ohne Demokratie generiert Nationalismus.
Auf europäischer Ebene erfordert Demokratie, die Macht aus Konferenzräumen, in denen Staatsoberhäupter und Minister hinter geschlossenen Türen angeblich nationale Interessen verhandeln, in ein Parlament zu verlagern, in dem Parteien vor aller Öffentlichkeit ihre gegensätzlichen Programme vorlegen und um Regierungsverantwortung konkurrieren. Das wäre ein Parlament, das in allgemeiner, direkter, geheimer und gleicher Wahl gewählt wird und ausgestattet ist mit der Kompetenz, Gesetze zu verabschieden, Budgets zu beschließen, die Geldpolitik anzuleiten und eine Exekutive zu bestimmen. Es will mir nicht einleuchten, dass wir, deren politische Großväter und Großmütter nach jahrzehntelangen Kämpfen das allgemeine Stimmrecht für die arbeitenden Klassen im Nationalstaat durchgesetzt haben, uns in Europa mit einer halben Demokratie und einem halben Parlament zufriedengeben.
Dagegen, die Debatte darüber zu eröffnen, wie eine europäische Demokratie nationale Selbstbestimmung und transnationale Demokratie miteinander verbinden kann, wird eingewendet, dass doch gerade dies die Kontroverse mit denjenigen bildet, die statt mehr weniger Europa und daher, wenn schon kein Weniger, so auch kein Mehr an Demokratie sehen wollen. Doch das Argument ist nicht stichhaltig, weil aus der Forderung nach Demokratie auch abgeleitet werden kann, dass sich die Linke jeder weiteren Kompetenzerweiterung der EU solange widersetzt, bis diese unter demokratischen Voraussetzungen verwirklicht wird. Das würde zum Beispiel die Opposition gegen die Militarisierung der Europäischen Union, in der sich die Linke einig ist, um einen wichtigen politischen Aspekt erweitern.
Warum sollten also diejenigen, die in ihrer Strategie der nationalen Orientierung einen Vorrang einräumen, in jenen, die für eine Demokratisierung der Europäischen Union kämpfen, in erster Linie ideologische Gegner*innen und nicht politische Partner*innen sehen und umgekehrt?