Im Zuge der multiplen Krise der EU befindet sich auch die Vorstellung von einer Finalität des Integrationsprozesses im Umbruch. Was in der Präambel der Verträge „die immer engere Union der Völker Europas“ heißt, die politische Union also, ist an der Wirklichkeit zerschellt: „Wir müssen heute zugeben, dass der Traum von einem gemeinsamen Europäischen Staat, mit einem gemeinsamen Interesse, mit einer gemeinsamen Zukunftsvorstellung ... einer gemeinsamen Nation eine Illusion war,“(Associated Press, 5.5.2016). so Ratspräsident Tusk im Mai 2016. Und das war noch vor dem Brexit-Referendum. Offenbar haben die Funktionseliten der EU begriffen, dass es unter den gegenwärtigen Bedingungen bereits ein Erfolg wäre, den Status quo zu halten. Entsprechend sind sie dabei, die Strategie der EU an die neue Situation anzupassen. Folgende Hauptstränge lassen sich hier erkennen:
  1. Die Erweiterung der EU um neue Mitglieder ist de facto auf unbestimmte Zeit verschoben. Das gilt nicht nur für die Problemfälle Türkei und Ukraine, sondern auch für den Westbalkan;[1]
  2. es soll eine Konzentration auf wenige Politikfelder mit strategischer Bedeutung geben. Genannt werden Migration, Sicherheit (Terrorismus und verstärkte Militarisierung) und Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit;
  3. ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ wird offiziell akzeptiert.
Gleichzeitig entstehen auch in linken Kreisen immer mehr Vorschläge für eine flexiblere Architektur der EU, variable Formen der Zusammenarbeit und Differenzierungen in der Integrationstiefe bis hin zu einem selektiven Rückbau (Nölke 2013, Scharpf 2014). In der Linkspartei ist die Debatte längst aufgebrochen (Candeias/Demirovic 2017), und für 2018 plant Attac einen ergebnisoffenen Kongress zu dieser Thematik. Selbst in den traditionell ‚pro-europäischen’ Gewerkschaften regen sich Stimmen, die gegenüber der Parole „Mehr Europa – aber anders!“ auf Distanz gehen (Seikel 2016). Hinzu kommen gesellschaftliche Initiativen, wie die EU-kritische Plattform EUREXIT, die mit ähnlich gerichteten Projekten wie dem Plan B und Lexit verbunden ist. Eine Übereinstimmung zwischen der EU und ihren linken Kritikern besteht jedoch nur bei oberflächlicher Betrachtung. Die Tatsache, dass ein „Europa der zwei Geschwindigkeiten“ nun zur offiziellen Strategie gehört, ist dennoch insofern hilfreich, als es nicht mehr so einfach ist, linke Flexibilisierungsvorschläge als ‚antieuropäisch’ auszugrenzen.

EU der vielen Geschwindigkeiten

Von einem Europa der zwei Geschwindigkeiten zu reden, war im offiziellen EU-Diskurs bis vor kurzem Tabu. Gebrochen hat es Angela Merkel als sie im Februar 2017 ankündigte „dass es auch eine EU mit verschiedenen Geschwindigkeiten geben wird, dass nicht alle immer an den gleichen Integrationsstufen teilnehmen werden“(FAZ Online, 5.5.2017). Beim 60-jährigen Jubiläum der Römischen Verträge wurde dies erstmals in ein offizielles Dokument aufgenommen: „Wir werden gemeinsam – wenn nötig mit unterschiedlicher Gangart und Intensität – handeln, während wir uns in dieselbe Richtung bewegen,“ so die Abschlusserklärung von Rom (25. März 2017). Damit wird anerkannt, was de facto längst Realität ist. Genau genommen gibt es sogar eine EU der drei, vier oder fünf Geschwindigkeiten. Sie betreffen zum einen unterschiedliche Entwicklungen zwischen der Euro-Zone und der Nicht-Eurozone. Dann gibt es die spezielle Zone des alten Europäischen Währungssystems (EWS), dem Vorläufer des Euro, zwischen Euro-Zone und Dänischer Krone, die ihren Wechselkurs an den Euro gebunden hat. Deren Existenz wird oft vergessen, obwohl – oder gerade weil – es für Dänemark eine gut funktionierende Alternative zum Euro darstellt. Drittens gibt es den Schengen-Raum, dem zwar die EU-Mitgliedsländer Großbritannien, Irland und Zypern nicht angehören, während aber die Nicht-EU-Länder Norwegen, Schweiz, Island und Liechtenstein mit dabei sind. Im Kern geht es um Grenzkontrollen und damit implizit um die Definition eines grundlegenden Merkmals von Staatlichkeit: die Sicherung der Außengrenzen. Schließlich gibt es die halb-offiziellen Untergruppen, wie das sogenannte Weimarer Dreieck (Frankreich, Deutschland, Polen), die Visegrád-Gruppe, die aus Polen, Tschechien, der Slowakei und Ungarn besteht oder neuerdings die Drei-Meere-Initiative. Während das Weimarer Dreieck ein unverbindliches Dialogforum ist, das Polen das Gefühl geben soll, es gäbe keine deutsch-französische Dominanz, ist die Visegrád-Gruppe zu einem handfesten machtpolitischen Subzentrum geworden. Auf spektakuläre Weise sichtbar wurde dies, als die Gruppe die Verteilungsregelung für Geflüchtete torpedierte. Die Drei-Meere-Initiative besteht seit 2016 und erzielte nicht zuletzt dadurch große Aufmerksamkeit, dass US-Präsident Donald Trump an ihrem zweiten Kongress im Juli 2017 teilnahm. Sie umfasst die östlichen Beitrittsländer sowie Österreich und grenzt – daher der Name – an Ostsee, Mittelmeer und Schwarzes Meer. Geplant sind der Bau von Flüssiggas-Terminals in Kroatien und Polen, eine Pipeline, sowie eine Straßenverbindung („Via Carpathia“), die Litauen mit dem Mittelmeer verbinden soll. Bei den Infrastrukturprojekten einerseits um den geopolitisch motivierten Konflikt um Energiesicherheit, vor allem mit Deutschland. Es soll eine Alternative zu den Gaspipelines zwischen Russland und der EU, Nord Stream II und Turkish Stream geschaffen werden. Besondere Brisanz erhält das Projekt dadurch, dass die USA die neuen Russland-Sanktionen unverblümt dazu nutzen, den Export ihres Flüssiggases in die EU anzukurbeln. Zum anderen handelt es sich auch hier um ein machtpolitisches Subzentrum, in dem Polen eine Führungsrolle einnimmt, um ein Gegengewicht zur Achse Paris-Berlin zu bilden. Auch Sarkozy versuchte, ein regionales Zentrum im Süden der EU zu etablieren: die Mittelmeerunion, die auch Länder des Maghreb umfassen sollte und folglich eine Öffnung der EU nach außen bedeutet hätte. Auf deutschen Druck hin, ließ er das Vorhaben fallen. Auch der Versuch des griechischen Regierungschefs Tsipras, dieses Projekt in kleinerem Format wiederzubeleben, scheiterte – allerdings am Desinteresse Italiens und Frankreichs. Wenn schon Club, so deren Position, dann einer der Premium-Klasse – das heißt, mit den Deutschen. Dies verweist auf eine weitere Kategorie von Differenzierungen: neben den formellen und semi-offiziellen Substrukturen gibt es das, was man nach Pierre Bourdieu (1997) als die verborgenen Mechanismen der Macht bezeichnen könnte. Eine Dimension des Demokratiedefizits der EU besteht darin, dass sie keineswegs ein Zusammenschluss von Gleichen, sondern stark hierarchisch strukturiert ist. An der Spitze der informellen Machtpyramide stehen Deutschland und Frankreich. Im offiziösen Diskurs wird das als leadership oder Führung bezeichnet. Die Kräfteverhältnisse zwischen beiden haben sich nach der Wiedervereinigung aufgrund der Erhöhung von Bevölkerungszahl und Wirtschaftskraft zugunsten Deutschlands umgekehrt. Eine Folge dieser verborgenen Mechanismen der Macht sind permanente Rivalitäten und Machtkämpfe, sowohl um die Spitzenposition, aber auch zwischen den Hierarchieebenen. Vergleichbare Disparitäten und Rivalitäten gibt es zwar auch innerhalb von Nationalstaaten, dort allerdings eingebettet in ein Geflecht ausgereifter Staatlichkeit und in einen vergleichsweise homogenen kulturellen Kontext. Da die EU demgegenüber nur über Rumpfelemente von Staatlichkeit verfügt, treffen die Interessenskonflikte in nationalstaatlicher Gestalt aufeinander, vor allem im machtpolitisch wichtigsten Gremium, dem Rat. Sie reproduzieren so permanent die Nationalstaatlichkeit – und damit einen andauernden Widerspruch zum Homogenisierungsdruck, wie er durch den Vergemeinschaftungsprozess erzeugt wird.

Das Beharrungsvermögen des Nationalstaats

Für die Flexibilisierungsdebatte sind nicht nur die formellen und informellen Substrukturen relevant, sondern mehr noch die einzelnen Mitgliedsländer. Denn der Nationalstaat ist nicht nur weltweit nach wie vor die dominante Form der Vergesellschaftung, sondern auch das grundlegende Strukturelement der EU, auch wenn Integration und Globalisierung seine Rolle verändern. Weil die deutsche Linke vehement anti-nationalistisch ist – durchaus eine zivilisatorische Errungenschaft – verkennt sie systematisch, dass die EU den Nationalstaat keineswegs hinter sich gelassen hat (Wahl 2017). Denn staatstheoretisch ist sie ein historisch einmaliges Hybridgebilde aus einer Allianz von Nationalstaaten auf der einen, und supranationalen Komponenten auf der anderen Seite. Zwar sollte die Integration in ein föderales Gemeinwesen münden. Der Prozess ist aber zum Stillstand gekommen und von der Überwindung des Nationalstaates kann keine Rede mehr sein. Gerade Deutschland ist mit der knallharten Durchsetzung seiner Interessen im Krisenmanagement exemplarisch. Selbst Juncker ist hier klarsichtiger als viele Linke, wenn er feststellt: „Die europäischen Nationen sind kein Provisorium der Geschichte, sondern auf Dauer eingerichtet.“ (FAZ, 22.6.2016, 2) Man kann das für einen schlechten und zu überwindenden Zustand halten, so wie man es für schlecht hält, in einer Klassengesellschaft leben zu müssen. Aber man kann sich dieser Realität nicht verweigern. Das Beharrungsvermögen des Nationalstaates manifestiert sich auch darin, dass in den meisten Mitgliedstaaten weder die Eliten noch die Bevölkerungen gewillt sind, ihren Nationalstaat aufzugeben. So schmerzhaft es für deutsche Linke sein mag, sie müssen zur Kenntnis nehmen, dass nicht einmal die Linke anderer Länder daran interessiert ist, sich noch enger mit einem Deutschland einzulassen, dessen Linke schon seit langem nicht mehr in der Lage ist, nennenswerten Einfluss auf den politischen Kurs des Landes auszuüben. Auch wegen der Bedeutung des Nationalstaates erweist sich also nur ein flexibles, offenes und differenziertes Konzept von Integration der vielfältigen und heterogenen Realität als angemessen - nicht zuletzt aus Gründen der Demokratie.

Die Funktion des „Europa der zwei Geschwindigkeiten“

Die Idee eines Europas der zwei Geschwindigkeiten bedeutet allerdings keine demokratische Anpassung an die Realitäten. Tatsächlich läuft es darauf hinaus, die ohnehin vorhandene Spaltung in Zentrum und Peripherie jetzt auch formal festzuschreiben. Es fehlt der EU das Potential zur Lösung der internen Krisen, während sich gleichzeitig historische Umbrüche in der Welt vollziehen, namentlich die Transformation der internationalen Ordnung in ein multipolares System. Besonders schockiert sind die EU Eliten dabei von der Renaissance Russlands als Großmacht und der Unberechenbarkeit von US-Präsident Donald Trump. Vor diesem Hintergrund ist das Ziel zu verstehen, Kerneuropa fit zu machen für die geopolitische Konkurrenz. Die Flexibilisierungsbereitschaft und die Konzentration auf die eingangs skizzierten Kernbereiche sind also Funktion der geoökonomischen und -strategischen Interessen. Die EU möchte in der neuen Weltordnung in der ersten Reihe mitmischen. Unter dem Titel Weltmacht Europa schreibt die Außenbeauftragte der EU, Mogherini: „Wirtschaftlich ist die EU ein Riese wie die USA und China. ... unsere Softpower ist die beste der Welt. Doch die Idee, dass Europa eine ausschließlich ‚zivile Macht’ ist, wird der sich abzeichnenden Realität nicht gerecht.“(Die Welt, 13.7.2016, 2) Es muss hier nicht weiter ausgeführt werden, dass dies mit einem emanzipatorischen Flexibilisierungsansatz nicht kompatibel ist. Generell lässt sich die Diskussion über Architektur, Strukturen, und Verfahrensregeln der EU nicht getrennt von ihren gesellschaftspolitischen Inhalten führen. Weder ist ein Nationalstaat mit einer progressiven oder gar linken Gesellschafts-, Wirtschafts-, Sozial-, Innen-, und Außenpolitik reaktionär, noch kann eine neoliberale und neo-imperialistische aber supranationale Form von Vergesellschaftung als progressiv bezeichnet werden. Insofern gilt auch für die folgenden Vorschläge, dass sie nicht an die Stelle von Inhalten wie soziale Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden treten können, sie sind vielmehr notwendige Ergänzungen.

Ein emanzipatorisches Konzept flexibler und differenzierter Integration

Ein linkes Konzept einer flexiblen und differentiellen Gestaltung der EU müsste aus folgenden, miteinander verbundenen und wechselwirkenden Komponenten bestehen:
  • eine Kombination aus selektiver Integration und selektiver Desintegration,
  • variable Geometrie der Zusammenarbeit,
  • stärkere Öffnung nach außen.
Dabei geht es nicht um einen fertigen und umfassenden Plan - Zweck ist vielmehr, einen Denkraum zu öffnen, um aus einer strategischen Sackgasse und blockierten Debatte heraus zu kommen, diese in Bewegung zu bringen. Es geht darum die binäre Logik des entweder „Mehr Europa“ oder „Rückfall in Nationalismus“ aufzubrechen. Und selbstverständlich muss das Konzept in Zusammenhang mit linken Inhalten gedacht werden, da es für sich genommen natürlich auch von herrschender Seite oder gar von rechts gefüllt werden könnte.

Selektive Integration und selektive Desintegration

Auch mit Blick auf die vier Grundfreiheiten des Europäischen Binnenmarkts (freier Warenverkehr, freier Personenverkehr, freier Dienstleistungsverkehr, freier Kapitalverkehr) ist ein Rückbau denkbar. Sie könnten, wie Scharpf vorschlägt, vom Primärrecht auf Sekundärrecht herabgestuft werden (Scharpf 2014).[2] Derzeit bekommen die harten Binnenmarktregeln im Konfliktfall per EuGH Vorrang vor dem Soft Law der Arbeitnehmerrechte, vor Sozialem, der Umwelt und anderen Gemeinwohlinteressen. Umgekehrt könnte auf anderen Gebieten die Integration natürlich vertieft werden. Interessant wären hier beispielsweise der ökologische Umbau, insbesondere die Energie- und Verkehrspolitikpolitik oder die Steuerpolitik. Bisher war Integration immer nur als unidirektionaler Prozess gedacht. Das gilt auch noch für das Europa der zwei Geschwindigkeiten. Demgegenüber bedeutet differentielle Integration, dass es auf bestimmten Politikfeldern auch einen Rückbau geben könnte (vgl. Candeias 2017, 331). Ein Kandidat dafür wäre beispielsweise der Ausstieg einzelner Mitgliedstaaten aus dem Euro (Lordon 2014, Stiglitz 2016, Schneider 2017).

Variable Geometrie

Im Ansatz ist eine solche variable Geometrie schon von den EU-Regularien vorgesehen, nämlich im Verfahren der sogenannten Verstärkten Zusammenarbeit (enhanced cooperation), das 1997 im Amsterdamer Vertrag verankert wurde. Demnach kann eine Gruppe aus mindestens neun Mitgliedsstaaten, die zugleich für 60 Prozent der Bevölkerung der EU stehen und von 75 Prozent der Stimmen im Rat die Genehmigung bekommen, Projekte durchführen, ohne dass die anderen mitmachen müssen. Die Finanztransaktionssteuer wird gegenwärtig in diesem Rahmen von zehn Mitgliedländern verhandelt. Davor wurden Projekte des Familienrechts und des Patentrechts durchgeführt. Das Verfahren ist noch viel zu restriktiv und kompliziert, aber der Grundgedanke geht in die Richtung variabler Geometrie. Ein entscheidender Vorzug variabler Geometrie und differentieller Integration besteht darin, dass für linke Regierungen in einzelnen Mitgliedländern, wie derzeit Griechenland oder Portugal, Spielräume für eigenständige Entwicklungspfade eröffnet werden, beispielsweise eine nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik oder gar Formen solidarischer Ökonomie so wie der Ausbau des Sozialstaates, ohne dass sie auf den Sankt Nimmerleinstag einer synchronen linken Mehrheit in 27 Ländern warten müssen. Da so manche Vorschläge zur flexiblen Integration nicht bei allen Mitgliedstaaten auf Gegenliebe stoßen dürften, andererseits aber niemand gezwungen werden soll, müsste die Zusammenarbeit nach dem Muster einer variablen Geometrie funktionieren, also mit einer Koalitionen von Willigen. Wer bei ehrgeizigen Klimazielen, dem ökologischen Umbau und/oder der Energieversorgung kooperieren will, kann das tun, auch wenn nicht alle 27 Staaten mitmachen. Umgekehrt können diejenigen, die glauben an ihren Kohlekraftwerken festhalten zu müssen, die anderen nicht mehr blockieren. Einigkeit um jeden Preis auf Grundlage des kleinsten gemeinsamen Nenners führt dann nicht mehr zu Handlungsunfähigkeit.

Öffnung nach außen

Nach außen bedeutet das Konzept der flexiblen Integration eine stärkere Öffnung zu Nachbarregionen, also zu Nordafrika, zur Türkei und Nahostregion, zum Westbalkan, nach Osteuropa und zu Russland und der Eurasischen Wirtschaftsunion. Sie passt auch in das chinesische Projekt einer neuen Seidenstraße. Denkbar ist die Öffnung auch transatlantisch, sofern es nicht auf eine geopolitische Blockbildung oder Wirtschafts-Nato hinausläuft – also ein Projekt zur Absicherung der ökonomischen Dominanz des Westens. Anders als die bisherigen Assoziierungsabkommen, die komplexe Anforderungen bis hin zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik erfüllen mussten, wären zukünftige Abkommen auf die spezifische Situation der betreffenden Partner zuzuschneiden und lockerer zu gestalten. Eine solche Flexibilisierung nach außen würde auch viele Schwierigkeiten bei den Verhandlungen zum BREXIT ausräumen. Die Scheidung mit dem Königreich könnte weniger absolut und radikal gestaltet werden. Auch das schwierige Verhältnis zur Türkei könnte so in weniger spannungsreiche Bahnen gelenkt werden. Auch bei der Öffnung nach außen handelt es sich keinesfalls um eine exotische Idee. So sagte schon im November 2013 der damalige Erweiterungskommissar Štefan Füle im Zusammenhang mit dem ukrainischen Assoziierungsvertrag: „In der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts konnte man entweder voll beteiligt sein, oder völlig draußen. Das wird in der erste Hälfte des einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht funktionieren.“(Füle 2013) Die Öffnung nach außen würde dazu beitragen, dem Anspruch der EU, ein Friedenprojekt zu sein, näher zu kommen. Das Narrativ, wonach die EU die Lehre aus den Kriegen in Europa sei, blendet aus, dass diese Kriege nicht nur in Westeuropa stattfanden. Schon Napoleon marschiert bis nach Moskau, und im 20. Jahrhundert führte Deutschland zwei Angriffskriege gegen Russland bzw. die UdSSR. Die beiden Weltkriege waren gerade im Osten besonders verheerend. Wenn es richtig ist, dass ökonomische Kooperation zum Frieden beitragen kann, dann ist die Öffnung der EU in die Nachbarregionen zugleich ein Stück Friedenspolitik.

Wie realistisch ist das alles?

Natürlich wäre auch im Falle der Umsetzung ein unmittelbarer Erfolg des dargestellten Konzepts nicht garantiert. Aber im Unterschied zum Business as ususal, mit dem seit 30 Jahren erfolglosen „Mehr Europa - aber anders!“ hätte es durchaus Potential:
  • es gibt entsprechende Ansätze bereits in der Entwicklungsdynamik der EU, so dass man nicht völlig gegen den Strom schwimmen müsste;
  • es bedeutet keinen Rückzug auf den Nationalstaat, gibt das Prinzip internationaler Zusammenarbeit nicht auf, öffnet aber gleichzeitig neue Spielräume für linke Politik auf nationaler Ebene;
  • es wäre eine eigenständige linke Position, die sich aus dem Windschatten von Grünen und Sozialdemokratie lösen würde;
  • es könnte die verbreitete Unzufriedenheit mit der EU aufgreifen, diese in emanzipatorische Bahnen lenken, und damit
  • den Rechten die Hegemonie über das Thema streitig machen, ohne deren Position zu übernehmen.
Damit wäre zumindest auf europapolitischem Terrain eine Verschiebung der diskursiven Kräfteverhältnisse möglich. Notwendig wäre dazu freilich der Mut, Neues zu wagen.

Literatur

Bourdieu, Pierre, 1997: Die verborgenen Mechanismen der Macht, Schriften zu Politik und Kultur, Bd. 1., Hamburg Candeias, Mario u. Alex Demirović (Hg.), 2017: Europe– what’s left? Die Europäische Union zwischen Zerfall, Autoritarismus und demokratischer Erneuerung, Eine Veröffentlichung der RLS, Münster ders., 2017: Den Dritten Pol sichtbar machen. Autoritäres Europa und die Reorganisieren der europäischen Linken, in: ders./Demirovic (Hg.), Europe– what’s left?, Münster, 315-39 Carnegie Europe, 2013: The Transformative Power of EU Enlargement. An Interview with Štefan Füle, http://carnegieeurope.eu/strategiceurope/?fa=53742 Lordon, Frédéric, 2014: La malfaçon, Monnaie européenne et souveraineté démocratique, Paris Nölke, Andreas, 2013: Dampf ablassen! Plädoyer für einen selektiven Rückbau der europäischen Wirtschaftsintegration, IPG-Journal v. 12.12.13, hgg. v. d. Friedrich Ebert Stiftung, www.ipg-journal.de/schwerpunkt-des-monats/die-zukunft-der-europaeischen-union/artikel/detail/dampf-ablassen/ Scharpf Fritz, W., 2014: After the Crash: A Perspective on Multilevel European Democracy, MPIfG Discussion Paper 14/21, Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln Schneider, Etienne, 2017: Raus aus dem Euro – rein in die Abhängigkeit? Perspektiven und Grenzen alternativer Wirtschaftspolitik außerhalb des Euro, Eine Veröffentlichung der RLS, Hamburg Seikel, Daniel, 2016: Ein soziales und demokratisches Europa? Hindernisse und Handlungsperspektiven, WSI Mitteilungen 1/2016 Stiglitz, Joseph E., 2016: The Euro. How a Common Currency Threatens the Future of Europe, New York Wahl, Peter, 2017: Die Linke, der Nationalstaat und der Internationalismus, http://theorieblog.attac.de/2017/02/die-linke-der-nationalstaat-und-der-internationalismus/

Anmerkungen

[1] Obwohl 2003, im sogenannten Versprechen von Thessaloniki, Albanien, Bosnien-Herzegowina, Mazedonien, Montenegro, Kosovo und Serbien die Beitrittsperspektive eröffnet wurde, gab es seither keine konkreten Schritte. Der EU-Westbalkan-Gipfel 2017 in Triest hat stattdessen ersatzweise eine regionale Integration der sechs Länder vorgeschlagen. [2] Dies bedeutet nicht, dass die Freizügigkeit des Personenverkehrs verschwinden würde. Sie kann auch im Sekundärrecht verankert werden. Zudem gab und gibt es auch ohne die EU viele Beispiele freien Reiseverkehrs auf der Grundlage zwischenstaatlicher Abkommen, so z.B. zwischen der EU und der Schweiz, oder vor dem EU-Beitritt Dänemarks und Österreichs zwischen Deutschland und den beiden Ländern oder seinerzeit innerhalb Skandinaviens. Auch zwischen Kanada und USA gab es vor dem 11. September jahrzehntelang Reisefreiheit, oder zwischen Russland und der Ukraine, wo sie erst jetzt durch die Ukraine eingeschränkt wird.