Zu begreifen ist die Palästina-Bewegung nur, wenn wir sie auf breiter Leinwand betrachten, als Produkt eines Internationalismus, der stets ihre Konstante war, aber sich heute in anderen Farben und Motiven zeigt.
Che Guevara besuchte Gaza 1959, Malcolm X folgte 1964. Damals lag die arabische Übersetzung von Frantz Fanons »Die Verdammten dieser Erde« in Beiruter Buchläden und prägte manche Idee der aufkommenden palästinensischen Befreiungsbewegung. Ihr Kampf lud sich früh mit universeller Bedeutung auf – Palästina als ein Spiegel, in dem sich Entrechtete vieler Art erkennen. »When I see them, I see us«, lautet ein jüngerer afroamerikanischer Slogan. Ikonisch wurde Nelson Mandelas Sentenz: »Wir sind nicht frei, solange Palästina nicht frei ist.«
Gerecht ist eine solche Hierarchie von Solidarität nicht, weder für Rohingya, Uigur*innen oder die Sudanes*innen in Darfur, alle Objekt genozidaler Verfolgung, noch für die maurischen Sahraoui oder die Papua, beide unter ewiger Besatzung. All dies sind anstrengende, weniger eindeutig konturierte Konflikte. Solidarität ist so wenig gerecht verteilt wie alle Güter dieser Erde.
Aber es handelt sich im Fall Palästina eben zweifellos um das zugleich längste und bestdokumentierte Unrecht, um einen Schaukasten, wie machtlos internationales Recht und internationale Institutionen sind, wenn eine Seite eines Konflikts mächtigen, westlichen Schutz genießt. Jüngst wurde Gaza zum Abbild der unterschiedlichen Wertigkeit von Leben – nicht schamhaft und beiläufig wie in anderen Fällen menschlicher Not, sondern offen und ungeschminkt.
Zusätzlich gibt es zeithistorische Gründe für die besondere Welthaltigkeit des Schicksals der Palästinenser*innen. Sie verloren große Teile ihres Landes just in jenem Moment, als andere ihre Heimat von kolonialer Herrschaft befreiten. Der Plan der Vereinten Nationen zur Teilung Palästinas 1947 und die Gründung Israels 1948 fielen auf den Scheitelpunkt zweier Epochen, der kolonialen Ära und der beginnenden Dekolonisierung. Für die Annahme des Teilungsplans in den UN reichten 33 Stimmen, weil ein Großteil der Welt eben noch keine Stimme haben durfte. Aus den damals 57 Mitgliedsstaaten sind heute 193 geworden. Das Anwachsen der UN-Generalversammlung war ein Prozess der Versüdlichung, der sich immer wieder in Abstimmungen zu Palästina niederschlug. Wie in einem Brennglas fängt das Thema eine gelingende ebenso wie die stockende Demokratisierung der Weltverhältnisse ein.
Nicht anders ist es heute. Palästinensische Anwält*innen haben nach jahrelanger Vorarbeit die Domäne des internationalen Rechts mit ihren Argumenten erobert – doch zu einem Zeitpunkt, da dessen Bedeutung verfällt und ein Völkerrechts-Nihilismus um sich greift. Das trumpsche Diktat über Gaza illustriert den neuen Autokratismus, der Recht und Diplomatie verachtet, aber war auch Reaktion auf den anschwellenden weltweiten Unmut über Israel: Trump zog die Reißleine, um Israel vor sich selbst zu retten – in einem Moment, in dem der Staat international so isoliert war wie nie zuvor.
Die Erinnerung an den Holocaust halte die Welt nicht mehr davon ab, »Israel so zu sehen, wie es ist«, schrieb der israelische Menschenrechtler Hagai El-Ad (2024). Die Geschichte diene nicht mehr als »Iron Dome«, der davor schütze, zur Verantwortung gezogen zu werden. Tatsächlich ist der Exzeptionalismus, den Israel als historischer Staat von Opfern aus westlicher Sicht genießt, keineswegs am Ende. Doch hat zum ersten Mal versagt, worauf Israelis stets vertrauten: die Hasbara, abgeleitet vom hebräischen Wort für »erklären«, eine mit Unsummen geförderte Propaganda für ein positives Israelbild. Sie erwies sich am Ende als wirkungslos gegen die Bilder vom Leid in Gaza.
Fluide Bewegung
Die prinzipielle Möglichkeit, Israel moralisch zu isolieren, markiert eine veränderte Konfliktkonstellation. Ob sie genutzt werden kann, ist indes fraglich angesichts der Führungslosigkeit der Palästina-Bewegung. Sie kann sich auf keine politische Autorität beziehen, weder in den palästinensischen Gebieten noch in den Flüchtlingslagern. Schon länger, doch bisher ohne Ergebnis, wird über einen Neuaufbau der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gesprochen; sie müsste zu einem inklusiven Organ werden, in dem sich alle repräsentiert sähen, auch die Diaspora, die Jugend, die Frauen, mit einer einigenden Vision von Befreiung.
Warum wird ein heterogenes Konglomerat verschiedenster Gruppen und Bündnisse auf fünf Kontinenten überhaupt als gemeinsame Bewegung betrachtet, in der Binnensicht wie in der Außenwahrnehmung? Vor allem aus zwei Gründen: Der Kampf für palästinensische Selbstbestimmung wird vorwiegend national gelesen; daraus ergibt sich eine Klammer von Symbolen und ein Gebot des Zusammenstehens. Außerdem sammelte sich die jüngste Bewegung von Oslo über Tokio bis Sydney um dieselben Sofortforderungen: »Ceasefire now« und »Stop the genocide«. Bereits die anschwellenden Boykott-aufrufe verzeichneten keine Einheitlichkeit, reichten von systematischen Disinvest-Strategien, die etwa das Israel-bezogene Portfolio US-amerikanischer Universitäten betrafen, bis zu spontanen Boykottversuchen von Dirigenten oder Radrennfahrern in Europa.
In der amorphen Struktur der Bewegung liegt Stärke ebenso wie Schwäche. Die Schwäche ist konzeptioneller Art, das Fehlen einer gemeinsamen Antwort, was palästinensische Freiheit, Frieden und Gerechtigkeit in der Region bedeuten und wie sie zu erreichen wären. Viele Aktive sympathisieren heute mit dem Modell, das schon lange von der säkularen palästinensischen Linken bevorzugt wird: ein Staat mit gleichen Bürgerrechten für alle, vom Fluss bis zum Meer. Ob darin auch unveräußerliche kollektive Rechte vorgesehen sind, wie etwa im Konzept des binationalen Egalitarismus oder in der föderalen Vision von »A Land for All«, bleibt offen – zu offen, nicht zuletzt weil Jüd*innen zwischen Fluss und Meer absehbar zur Minderheit werden.
Die Abwesenheit des Konzeptionellen war in der aktuellen Situation zugleich Stärke, denn so ähnelte die Bewegung einem breiten Flussbett ohne markierte Ufer, mit Raum für autonomes Handeln der Akteur*innen und für intellektuelle Multiplikator*innen, etwa aus der Genozidforschung, die sich moderat solidarisch zu den Anliegen der Bewegung zeigten, ohne ihr im engeren Sinne anzugehören. Der politisch-moralische Kern aber waren jene, die in Gaza das Material für Anteilnahme und Identifikation produzierten: Videojournalist*innen, Ärzt*innen, Schriftsteller*innen. Bilder und Verse, die Millionen berührten, wurden von Menschen geliefert, die nicht wussten, ob sie am nächsten Morgen noch leben würden. Eine solche Dramatik von Lebenswunsch und Todesnähe in Echtzeit auf ihren Smartphones zu verfolgen, politisierte ganze Jahrgänge. Position zu beziehen, wurde zur unabweisbaren Herausforderung.
Gegen eine Zukunft der Mitleidlosigkeit
Erneut kommen hier Stärke und Schwäche der Bewegung zusammen. Denn es braucht ja keine intime Kenntnis der Geschichte des Nahost-Konflikts, um zu begreifen, dass Gaza ein Menetekel ist, der Vorgriff auf eine Zukunft der Mitleidlosigkeit, die der Empathie als solcher den Krieg erklärt. Die Menschen in Gaza verkörpern die Unerwünschten, eine Spezies von Menschen, die es auch in anderen Regionen und unter anderen Herrschaftsverhältnissen gibt, aber selten so klar gezeichnet wie im Fall Palästina. In diesem Sinne ist die Bewegung, in der sich viele selbst Marginalisierte engagieren, ein Aufschrei, der sich gegen mehr wendet als allein gegen die Geschehnisse in einem kleinen Stück Westasiens. In einer Zeit, die weltweit kaum ein Projekt der Emanzipation vorhält, das zur Identifikation einlüde, hilft Palästina gegen Gefühle von Vereinzelung und Verzweiflung. Auf einem Pappschild markierte eine Demonstrantin in Berlin einen einsamen schwarzen Punkt mit dem Wort »ich«; daneben war das schwarze Netzmuster der Kufiya mit dem Wort »wir« versehen.