In der letzten Tarifrunde Nahverkehr haben Fridays for Future und ver.di eng zusammengearbeitet. Solche Bündnisse sind hierzulande selten. In den USA werden sie breit diskutiert. Was passiert dort?

2018/19 gab es eine Streikwelle von Lehrkräften, die in vielen Bundesstaaten Erfolg hatte. Bündnisse haben dabei eine zentrale Rolle gespielt. Die Streikenden haben eng mit Schüler*innen, Eltern, Kirchengemeinden oder Sportvereinen zusammengearbeitet. Das hat ihnen Anerkennung in der Bevölkerung verschafft und Druck auf die Politik ausgeübt. Der Ansatz »Bargaining for the Common Good« – also eines Streiks fürs Gemeinwohl, der über betriebliche Interessen hinausgeht – wurde dadurch populär. Daraus können und müssen wir in Deutschland lernen.

Warum?


Weil es die Möglichkeit bietet, tatsächlich Macht aufzubauen für die Veränderungen, die wir so dringend brauchen – und aus der Ohnmacht herauszukommen. Das gilt sowohl für die miesen Bedingungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge als auch für den dringend notwendigen ökologischen Umbau. Das Bündnis von ver.di und Fridays for Future hat den richtigen Weg aufgezeigt. Man kann jetzt noch einen Schritt weitergehen.

Was ist eigentlich neu daran? Ver.di hat doch in den letzten Kitastreiks auch mit Eltern zusammengearbeitet?


Das Besondere in den USA war, dass sich die Gewerkschaft nicht auf Löhne und Arbeitsbedingungen beschränkt hat, sondern gemeinsam mit ihren Bündnispartnern Forderungen in die Tarifverhandlungen eingebracht hat. Die Gewerkschaft United Teachers LA (UTLA) in Los Angeles hat neben höheren Löhnen auch kleinere Klassen, Grünanlagen in Schulen, Sanierung und Neubau von Schulgebäuden und die Eindämmung des Privatschulsektors gefordert. Mehr als 10 000 Schüler*innen und Eltern haben während des Streiks der Lehrkräfte im Januar 2019 demonstriert und gemeinsam diese Ziele erreicht.

Warum gibt es in Deutschland nur wenige solcher Kooperationen? Und warum könnte sich das ändern?


In den USA standen die Lehrkräfte mit dem Rücken zur Wand. Bloße Lohnforderungen waren der Bevölkerung angesichts der jahrelangen Sparpolitik und der desolaten Situation an den Schulen kaum zu vermitteln. Darum war klar, dass sich bessere Arbeitsbedingungen nur im Bündnis mit den Schüler*innen, den Eltern und der gesamten Community durchsetzen lassen würden. Die Situation im öffentlichen Sektor in Deutschland war lange Zeit eine andere. Aber Anfang der 1990er Jahre begann auch hier der neoliberale Umbau oder eher Kahlschlag. Im öffentlichen Nahverkehr, bei den Kliniken oder der Post haben sich die Arbeitsbedingungen massiv verschlechtert und die Qualität der Dienstleistungen hat gelitten. Das hat die Gewerkschaften geschwächt, die sich zuvor auf ein sozialpartnerschaftliches Verhältnis mit den Arbeitgebern verlassen hatten. Sie sind also gut beraten, auch hier offensive Strategien und neue Bündnisse auszuprobieren.

Ist so etwas nur im öffentlichen Dienst denkbar? Oder gibt es auch Ansätze in anderen Branchen, wo sich etwa für den ökologischen Umbau streiken ließe?


Im öffentlichen Dienst sind die Forderungen von Beschäftigten und Bevölkerung fast immer eng verbunden, weil ausreichend qualifiziertes und motiviertes Personal allen zugutekommt. In den USA gab es aber auch Erfahrungen in der Privatwirtschaft, etwa im Bankensektor, wo gebührenfreie Girokonten gefordert wurden. Bisher kenne ich noch keine Auseinandersetzung in den USA, wo ökologische Ziele eine große Rolle gespielt hätten. Trotzdem ist der Ansatz im Kampf gegen die Klimakrise zukunftsweisend.

Warum? Wo siehst du Einsatzpunkte?


In Zukunft werden immer mehr Auseinandersetzungen um die Auswirkungen der Klimakrise geführt werden. Hitzewellen und Überschwemmungen treffen Menschen in schlechten Wohnlagen deutlich härter. Da werden neue Forderungen relevant, etwa die genannten Grünflächen an Schulen oder die Entsiegelung von Parkflächen. Es geht aber auch um geschultes Personal in Altenheimen, um Hitzetode zu vermeiden, oder um Pausenregelungen bei Extremwetter. Das sind alles Felder, auf denen Gewerkschaften, Klimabewegung und betroffene Bürger*innen zusammen kämpfen können.

Da geht es vor allem um Klimaanpassung. Siehst du auch Möglichkeiten, mehr Klimaschutz zu erstreiken?


Absolut. Ich glaube, dass ein Umbau der fossilen Industrie nicht ohne massiven Druck und die Macht der Beschäftigten erreicht werden kann. Klimabewegung und Gewerkschaften müssen zusammenkommen. Einen kostengünstigen öffentlichen Nahverkehr zu erstreiten, wäre zum Beispiel ein wichtiger Schritt, der in andere Bereiche ausstrahlen könnte. Der Staat hat zentralen Einfluss auf den öffentlichen Verkehr, aber über den Straßenbau, riesige Subventionen und Gesetze auch auf die Autoindustrie. Perspektivisch könnte ein solches Bündnis eine sozial-ökologische Verkehrswende durchsetzen, die allen zugutekommt. Und es könnte dafür sorgen, dass der Umbau sozial abgesichert wird. 


Dürfen Gewerkschaften überhaupt für solche allgemeinen Forderungen streiken? 


Das ist in der Tat schwierig, in Deutschland wie in den USA. Die deutschen Arbeits­gerichte haben das Streikrecht – obwohl es ein Grundrecht ist – immer wieder sehr restriktiv ausgelegt. Es darf nur für etwas ­gestreikt werden, was tariflich geregelt ­werden kann und das Arbeitsverhältnis betrifft. Allerdings gab es auch in Deutschland schon Auseinandersetzungen, in denen angeblich nicht ­tariffähige Forderungen am Ende ­durchgesetzt werden konnten, etwa Sozial­tarifverträge im Fall von Betriebs­schließungen. Ein Streik gegen eine Betriebs­schließung ist nicht legal, aber so hohe ­Abfindungen zu fordern, dass sich die Verlagerung für das Unter­nehmen nicht mehr lohnt, schon. Es kommt also auf die Kräfteverhältnisse an und darauf, wie Gewerkschaften mit dem ­juristischen Rahmen umgehen.

Es macht Bündnisse aber schwierig, wenn man eigentlich keine gemeinsamen Forderungen stellen darf.


Die Lehrkräfte in Los Angeles haben das Problem so gelöst, dass sie die nicht tarif­fähigen Forderungen für das Gemeinwohl aus ihrem offiziellen Forderungskatalog herausnahmen – in Absprache mit den Bündnispartnern. Nichtsdestotrotz haben sie im Streik auf deren Erfüllung bestanden und dies zur Voraussetzung gemacht, um überhaupt in Verhandlungen einzusteigen. Damit waren sie erfolgreich. Diese informelle Strategie ging nur auf, weil es eine gute Kommunikation und ein hohes Vertrauen zwischen den Bündnispartner*innen gab. 


Wie war das 2020 bei der Kooperation von ver.di und Fridays for Future? 


Ver.di hatte sich damals für die Tarifrunde im öffentlichen Personennahverkehr viel vorgenommen und brauchte dafür Unterstützung. Sie wollten die Zersplitterung des Flächentarifsystems aufheben und bundesweit einheitliche Standards setzen. Und sie wollten bessere Arbeitsbedingungen für die Busfahrer*innen und alle anderen Kolleg*innen im ÖPNV durchsetzen – ein letztlich gesellschaftspolitisches Thema. Denn die Arbeitsbedingungen dort sind auch deshalb schlecht, weil Personal fehlt, und es fehlt Personal, weil niemand unter so miesen Bedingungen arbeiten will. Darum wollte ver.di kürzere Arbeitszeiten, echte Pausen und verbesserte Schichtpläne erkämpfen. Das alles ist unmittelbar mit dem Gemeinwohl verknüpft. Die Klimabewegung an Schulen und Unis war damals sehr präsent und eine große politische Unterstützung.

Wie eng haben denn Gewerkschaft und ­Klimabewegung am Ende zusammengearbeitet?


Aus dem Slogan »Klima schützen heißt ÖPNV unterstützen« wurde ein echtes Bündnis, das in Mega-Zooms, auf Streikposten und Demonstrationen immer enger zusammengewachsen ist. Dabei wurden Vorbehalte auf beiden Seiten abgebaut und viele gemeinsame Interessen sichtbar. Sie wurden allerdings nicht als gemeinsame Forderungen formuliert. Ver.di hat sich in den Verhandlungen auf die Arbeitsbedingungen beschränkt.

Was hatte die Klimabewegung davon, wenn sie keine eigenen Forderungen stellen konnte? 


Es hat eine strategische Perspektive eröffnet. Denn Fridays for Future konnte trotz großer Demonstrationen und viel Aufmerksamkeit bisher politisch nichts durchsetzen. Eine Tarifrunde schafft Kontakte in die Betriebe. Beschäftigte mit dem Druckmittel des Streiks sind machtvolle Bündnispartner*innen – und gerade im ÖPNV sind noch viele von ihnen gewerkschaftlich organisiert. Zudem sind Tarifverhandlungen Arenen der Auseinandersetzung, in denen es etwas zu gewinnen oder zu verlieren gibt und eine öffentliche Zuspitzung stattfindet.

Was wäre wichtig, um jetzt einen Schritt weiterzugehen? Wie könnte »Bargaining for the Common Good« in Deutschland aussehen? 


»Bargaining for the Common Good« hat drei Elemente, die uns nach vorne bringen würden: Das ist erstens die Arbeit an ­Bündnissen auf Augenhöhe. Zweitens eine gemeinsame Kampagne und Zusammen­arbeit auf allen Ebenen. Und drittens gemeinsame Forderungen als Gegenstand von Streiks und Tarifverhandlungen. Wenn wir uns davon inspirieren lassen, kann eine Kampagne mit viel mehr Durchsetzungskraft entstehen. Man könnte an die positiven ­Erfahrungen mit dem Neun-Euro-Ticket anknüpfen, frühzeitig vor der nächsten Tarif-runde eine große Versammlung von ver.di, der Klima­bewegung und Verkehrsinitiativen einberufen, einen gemeinsamen Forderungskatalog erarbeiten und sich auf Kampagnenschritte verständigen. Mit einer solchen Bewegung scheinen mir zentrale gesellschaftspolitische Ziele – etwa der Ausbau des ÖPNV und ­niedrigere Fahrpreise – tatsächlich erreichbar.

Das Gespräch führte Rhonda Koch.