Die Coordinadora 25S (Koordinationsstelle 25. September) schaffte den Raum für diese Aktion. Sie schuf auch die Bedingungen, um einen verfassungsgebenden Prozess von unten zu diskutieren.

Von August bis zum 25. September 2012

Während der Sommermonate im Jahr 2012 wurde die Initiative “Besetzt den Kongress” von der Plataforma en Pie (Forum der Aufrechten) angeregt. Anlass war die Kritik an der Kürzungspolitik der rechten Regierung der Partido Popular (Volkspartei) unter Mariano Rajoy. Dringliche Forderung war der Rücktritt dieser Regierung. Der Charakter der „relativ eng gestrickten“ kleinen Gruppe (Porcaro, Luxemburg 1/2013) alter linker Aktivisten der Plataforma en Pie stieß auf Kritik, wegen ihrer intransparenten Art der Entscheidungsfindung, wegen der mangelnden Klarheit ihrer Zielsetzungen – Was kommt nach dem Sturz der Regierung?  Insbesondere aber empfanden Teile der 15M-Bewegung eine Besetzung des Parlaments als zu konfrontativ, das Risiko gewaltsamer Auseinandersetzungen als zu hoch. Einige linke Kollektive und Organisationen stellten den Aufruf selbst in Frage. Ende August 2012 entstand als Ergebnis eines internen Umstrukturierungsprozesses in den Bewegungen die Coordinadora 25S. Dieser politische Raum wurde mit dem Ziel geschaffen, alle Personen und Kollektive einzubeziehen, die sich den Aufruf “Besetzt den Kongress” zu eigen gemacht hatten, aber die politische Linie der Plataforma en Pie kritisierten. Im Rahmen der Coordinadora 25S wurde nach intensiven Debatten die Aktion modifiziert – der Aufruf lautete nun: “Umzingelt den Kongress!” Viele Versammlungen wurden abgehalten, um zu koordinieren, wie die Aktion ablaufen sollte und möglichst viele zu mobilisieren. Die Mobilisierung sollte entlang zweier diskursiver Achsen verlaufen, die in einem Manifest zusammengefasst wurden. Sie wurden im Prinzip von der Plataforma en Pie übernommen, aber  weiterentwickelt: 1 | Der proceso destituyente – der Prozess des Abbaus politischer Macht, konkret des Rücktritts von Exekutive und  Legislative. 1 | Der proceso constituyente – eine demokratische Transfromation des politischen Systems und seiner gesellschaftlichen (auch ökonomischen) Grundlagen und das Einbringen dieses Prozesses in eine neue Verfassung.

Der 25. September: “Umzingelt den Kongress!”

Bei der Aktion in Madrid kamen mehr als 13000 Polizeibeamte aus ganz Spanien zum Einsatz – aus 30 aller 52 Einheiten der nationalen Eingreiftruppen der Polizei (Unidades de Intervencion Policial – UIP). Die Regierung erklärte, das Aufgebot sei nötig, weil schwer abzuschätzen sei, wie viele Menschen dem Aufruf Folge leisten würden. Ausnahmsweise hatte sie damit Recht. Der Zulauf übertraf die Erwartungen der Organisatoren. Tausende von Menschen aus ganz Spanien kamen im Zentrum der Hauptstadt zusammen, um den Rücktritt der Regierung und den Beginn eines neuen verfassungsgebenden Prozesses zu fordern. Ursächlich war, dass die Empörung über Einschnitte und Anpassungmaßnahmen in der öffentlichen Bildungs-, Gesundheits- und Verkehrspolitik ständig weiter geführt wurden und die Bevölkerung immer schwerer belastete. Darüber hinaus erreichten die Nachrichten über langjährige und massive Korruption in der Regierungspartei die Titelseiten aller spanienweit erscheinenden Zeitungen und Medien gerade einen vorläufigen Höhepunkt. Wichtigster Moment des Tages war die nachmittägliche Versammlung auf dem Platz vor dem Parlament. Die Demonstrierenden hielten dort stand, bis die sie umringenden Polizeieinheiten, begannen einzugreifen. Das brutale Vorgehen wurde von den alternativen wie etablierten Medien ausführlich dokumentiert. Am Ende des Tages wurden 64 Verletzte und 37 Verhaftungen registriert. Die Sitzung im Abgeordnetenhaus musste mehrmals unterbrochen und wieder neu begonnen werden und viele der anwesenden Abgeordneten konnten den Sitzungssaal erst spät in der Nacht verlassen.

Nach dem 25. September: Was tun?

Der Mobilisierungserfolg und die Medienaufmerksamkeit für die brutale Repression veranlassten die Coordinadora, sich auf eine schnelle Mobilisierung zu neuen Aktionen zu konzentrieren und sich weniger damit zu beschäftigen, ihre politische Linie klarer zu definieren. Diese Ausrichtung wurde besonders von jenen bestärkt, die die Aufgabe der Coordinadora vor allem darin sahen, den proceso destituyente zu fördern, also die Forderungen nach Rücktritt bzw. nach Rückgabe der politischen Macht. Entsprechend wurde zu Kundgebungen und Demonstrationen rund um den 23. Oktober aufgerufen – das Datum, an dem das Abgeordnetenhaus dem Staatshaushalt für 2013 zustimmen sollte, bevor der Haushaltsentwurf wieder an den Senat zurückgehen würde. Im Rahmen dieser Aufrufe gestaltete es sich kompliziert, Konsens darüber herzustellen, wie die Frage des Staatshaushaltes mit der Frage eines verfassungsgebenden Prozesses in Verbindung gebracht werden könnte. Zudem gab es Tendenzen innerhalb der Coordinadora, die sich dafür aussprachen, diese zweite Achse der Forderungen als nachrangig zu behandeln. Trotzdem gelang es, an dieser Achse festzuhalten, und nur so war es möglich, den Zusammenhalt der Coordinadora zu sichern und gleichzeitig die konkreten Forderungen im Kampf gegen den “Haushalt der Schande” zu integrieren. Der Bezug auf den verfassungsgebenden Prozess spornte an aufzuzeigen, dass alle Teilbereichsbewegungen (zu Gesundheits-, Bildungs- oder Wohnungspolitik, die sich im Kampf gegen die Haushaltspolitik organisierten) auf eine Veränderung des politischen Systems und auf einen verfassungsgebenden Prozess angewiesen sind.

Vom 23. Oktober bis zum europäischen Generalstreik am 14. November

Nach den relativ erfolgreichen Mobilisierungen gegen den Haushalt explodierten die internen Spannungen im Herzen der Coordinadora, als es Zeit wurde, ihre politische Linie zu definieren. Auch wenn eine interne Reoganisierung offensichtlich notwendig war, schon allein, um die Kommunikationsarbeit zu organisieren, gelang es nicht, die Funktionsweise und interne politische Zusammensetzung der Coordinadora abschließend zu diskutieren. Diese Frage blieb offen und ist immer noch nicht klar adressiert worden. Anlässlich des Generalstreiks vom 14. November schloss sich die Coordinadora einem Demonstrationsaufruf der alternativen Gewerkschaften an. Sie grenzte sich damit von der offiziellen Linie der Mehrheitsgewerkschaften ab und nahm an der Versammlung “Übernehmt den Streik” teil. Diese asamblea (Versammlung) war einmal für den Streik am 29. März 2012 gegründet worden, um die Beteiligung der Madrider 15M-Bewegung am Streik, bei Beibehaltung ihrer Autonomie gegenüber den Mehrheitsgewerkschaften, zu organisieren.

Die Phase nach dem 14. November und die Diskussionstage für einen verfassungsgebenden Prozess

Nach dem 14. November standen keine großen Mobilisierungsaktionen mehr bevor. Die interne Stimmung in der Coordinadora wurde ruhiger. Eine Mehrheit der Teilnehmenden befürwortete nun, die Forderung nach einer neuen Verfassung wieder aufzunehmen. Die Coordinadora konnte sich so auf eine nächste gemeinsam beschlossene Aktivität konzentieren: Sie nutzte den Tag der spanischen Verfasssung, ein gesetzlicher Feiertag, um möglichst viele Einzelpersonen und Kollektive zusammenzurufen und über die politische Linie der Coordinadora in diesem Prozess zu beraten. Ergebnis waren zwei Dokumente, die einen Minimalkonsens beinhalten: Eine politische Deklaration, die die aktuelle Realität des spanischen Staates analysiert und der Coordinadora einige Linien für den verfassungsgebenden Prozess vorschlägt, um diese Realität zu verändern; und ein “Kursblatt” mit strategischen Vorgaben, mit welchen Schritten dieser Prozess vorangetrieben werden soll.

Die Coordinadora 25S

Die Zusammensetzung: Der aktive und organisierte Kern der Coordinadora setzt sich aus einem breiten politischen Spektrum zusammen, wie es für eine Massenbewegung im Stil des 15M folgerichtig ist. Es gibt eine große Gruppe unabhängiger Personen, die den politischen Praktiken und Diskursen der autonomen und anarchistischen Szenen oftmals nahestehen, die aber bereit zum Konsens sind und sich auf gemeinsame Punkte einigen können. Einige TeilnehmerInnen kommen aus dem liberalen Spektrum, unabhängige Einzelpersonen oder als Mitglieder politischer Organisationen oder Kollektive. Viele GenossInnen aus linken politischen Organisationen sind vertreten und auch viele, die eng mit den Strukturen der 15M-Bewegung verbunden sind. Nur wenige der aktiven Personen in der Coordinadora haben keine politischen Erfahrungen in sozialen Bewegungen oder politischen Organisationen. Durchschnittlich sind sie um die 40 Jahre alt; es mangelt an jüngeren Teilnehmenden. Außerdem sind Männer klar in der Mehrheit. Die politische Linie: Die politische Linie der Coordinadora basiert auf den bereits genannten Dokumenten, die auf den Diskussionstagen zum verfassungsgebenden Prozess ausgearbeitet wurden. Die große Mehrheit der Coordinadora hat sich diese Dokumente zu eigen gemacht. Schließlich haben sie sie gemeinsam mit AktivistInnen und Kollektiven aus ganz Spanien ausgearbeitet und sie wollen diese Linie daher auch in der zukünftigen Arbeit der Coordinadora weiterentwickelt sehen. Daran ändert auch nichts, dass einige “systemoppositionelle” linksradikale AktivistInnen den Wert und den mehr oder weniger bindenden Charakter der Diskussionstage in Frage stellen. Sie sehen die Hauptaufgabe weiterhin darin, eine von der Coordinadora unabhängig organisierte, permanente Präsenz auf der Straße zu garantieren. Für sie ist dies Priorität gegenüber der eigentlich beschlossenen Strategie, die Kräfte zu sammeln und eine doppelte Aufgabe in Angriff zu nehmen, nämlich einerseits die Organisierung auszuweiten und andererseits eine genauere Strategie für den verfassungsgebenenden Prozess auszuarbeiten. Das Organisationsmodell: Die Coordinadora funktioniert als Asamblea, also als Plenum ganz im Stil des 15M. Die Asamblea, die Vollversammlung, trifft sich jeden Sonntag und ist das Organ der  Entscheidungsfindung. Die Arbeitsgruppen (derzeit die Gruppen für Kommunikation, für Inhalte und für Aktion) setzen auf regelmäßigen Treffen die Entscheidungen der Asamblea um. Diese Arbeitsgruppen – aber nicht nur sie – bringen zudem Vorschläge in die Asamblea ein.  Gelegentlich beauftragt die Asamblea Arbeitsgruppen, dringende und nicht sehr umstrittene Fragen selbst zu regeln. Entscheidungen werden im Konsens getroffen. Dabei kann die Coordinadora aber auf gewisse Mechanismen der Flexibilität zurückgreifen – sowohl auf die genannte Delegation von Themen an die Arbeitsgruppen, als auch auf  “unterstützende Umfragen”, wenn es kontroverse Meinungen und Vorschläge gibt und es nötig wird, sich für die eine oder andere Option zu entscheiden. Die Coordinadora hat als Asamblea mit allen Fallstricken dieses Organisationsmodells zu kämpfen: Spannungen, wegen der Langsamkeit von Entscheidungsprozessen, Neuzugänge, Manipulationsversuche, Entscheidungen, die aus Erschöpfung, aufgrund der Trägheit der Struktur oder aus Gewohnheit getroffen werden usw. Die Teilnehmenden sind sich dieser Probleme bewusst, weshalb eine tiefgehende Debatte dieses Organisationsmodells angestrebt wird. Dies ist umso dringlicher, als die Bewegung in ganz Spanien vernetzt werden muss, um die strategischen Ziele zu erreichen, die im “Kursblatt” festgelegt wurden. Insgesamt ist die Stimmung aber von einem respektvollen Umgang miteinander geprägt und von der Lust zusammenzuarbeiten und die gemeinsam beschlossenen Aktivitäten auch voranzubringen. Die 15M-Bewegung hat in ihrem jüngsten Manifest[1] die Aufgabe zur Organiseirung eines verfassungsgebenden Prozesses übernommen. Andere Teile der breiten gesellschaftlichen Mobilisierung von Initiativen wie die PAH (das Forum der von Hypotheken Betroffenen), Gewerkschafterinnen bis zur Izquierda Unida, der Vereinigten Linken, diskutieren dies und engagieren sich ebenfalls (vgl. Ruiz, Luxemburg 1/2013). Auch in anderen Ländern Südeuropas gibt es derzeit Forderungen nach Prozessen der Verfassungsgebung. Das, was der revolutionäre linke Diskurs immer am Horizont anvisiert hat, nimmt in den zivilgesellschaftlichen Forderungen auf gewisse Weise Gestalt an. Die Erfahrung des 25. Septembers und der Aktion “Umzingelt den Kongress!” auf den Straßen von Madrid war dafür nur ein Meilenstein. Aber diese Erfahrung hat die Grundlage für Organisationsstrukturen geschaffen, die nun eine öffentliche Debatte initiieren, von der viele hoffen dass sie darüber hinausweisen wird (vgl. Candeias, Luxemburg 1/2013).   Aus dem Spanischen von Susanne Schultz
 
[1]  www.cronicapopular.es/2013/02/manifiesto-15m-la-via-para-el-cambio-social/