In der Coronakrise ist die Frage der staatlichen Gesundheitspolitik von besonderer Bedeutung. Im Fokus der Debatte um Prävention gegen eine Ansteckung mit Covid-19 steht die Perspektive der Virolog*innen. Doch diese bespricht nur einen Ausschnitt öffentlicher Gesundheit. Wie ein allumfassendes Konzept von „Public Health“ den Blick in der Coronakrise weiten kann, fragten wir Raimund Geene.


In der Coronakrise reden plötzlich alle von öffentlicher Gesundheit. Allerdings ist unklar, was damit gemeint ist, jenseits einer Kontrolle der Coronainfektionen. Du bist Vertreter eines „Public Health“-Ansatzes. Was bedeutet öffentliche Gesundheit aus dieser Perspektive? 

Der gemeinsame Nenner der Public-Health-Perspektive ist der Bevölkerungsbezug, das heißt, es geht um die Frage, welche Bedingungen geschaffen werden müssen, um die Gesundheitsversorgung und -vorsorge der ganzen Gesellschaft zu garantieren. Damit ist Public Health ein Dachbegriff für alle Gesundheitsberufe und umfasst die vier Säulen der Versorgung – Medizin, Pflege, Rehabilitation und Prävention – aber auch Epidemiologie, Gesundheitssoziologie, -psychologie, -ökonomie usw. Erst alle Aspekte zusammengenommen formulieren ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit. Hinzukommt der System- und Politikbezug von Public Health im Unterschied beispielsweise zur Individualmedizin. 

Öffentliche Gesundheit – viele denken da vielleicht erst einmal an eine von oben kontrollierte Bevölkerungspolitik oder gar an rechte Ideologien von Volksgesundheit. Aus welchem Kontext kommt das Public-Health-Konzept und was ist seine politische Stoßrichtung?

Dieser Ansatz ist aus der sogenannten Sozialhygiene entstanden, die in Deutschland von Alfred Grotjahn, Rudolf Virchow und anderen entwickelt wurde. In der NS-Zeit ist sie dann zur Rassenhygiene pervertiert worden. Nach dem Krieg wurde die Sozialhygiene in der DDR fortgeführt – und im englischen Sprachraum als „Public Health“ weiterentwickelt und breit diskutiert. Mit der Ottawa-Charta 1986, die im Zuge der dort erstmalig organisierten internationalen Konferenz zur Gesundheitsförderung beschlossen wurde, hat sich eine neue Konzeption mit dem Begriff „New Public Health“ durchgesetzt. Im Grunde lässt sich das als Paradigmenwechsel verstehen: Anstatt sich ausschließlich auf die Krankheit, die sogenannte Pathogenese zu fokussieren, soll mit der „New Public Health Perspektive“ nun die Gesundheitsförderung, die Salutogenese im Vordergrund stehen. In der Salutogenese ist der Blick nicht auf die Entstehung von Krankheit gerichtet, sondern darauf wie Gesundheit entsteht. Es geht um die Frage, wann ich eine Belastung als sogenannten distress empfinde, der mich krankmacht, oder als eustress, der mich motiviert und beflügelt. Dies richtet sich, so der Grundgedanke der Salutogenese, danach, ob ich eine Anforderung verstehe, ob ich ihr einen Sinn geben und ob ich sie umsetzen kann. Daher kann eine Gesundheitsbotschaft wie etwa für Bewegung oder gesundes Essen für den einen eustress sein und für den anderen distress bedeuten – ein typisches Beispiel dafür, wie Gesundheitsbotschaften soziale Ungleichheit sogar noch verstärken können. Diese Perspektive formuliert einen Modernisierungsanspruch für alle Wissenschaften und Praktiken sozialer und gesundheitlicher Versorgung. Um es etwas bildhaft auszudrücken: statt Feuerwehreinsätzen ist Gärtnermentalität gefragt. 

Das klingt gut, aber auch erstmal abstrakt. Kannst du anhand von Corona beschreiben was die Stärke der New-Public-Health-Perspektive ausmacht – und wie „Gärtnerarbeit“ in einer Pandemie aussehen könnte? 

New Public Health zielt vor allem darauf, Menschen in ihrem Lebensalltag zu befähigen. In der Corona-Krise entschied man sich aber im Grunde für den „Old Public Health“-Ansatz, der vor allem auf die Verhinderung der Krankheit fokussiert, ohne die Ressourcen der Menschen zu stärken. Hier geht es vor allem darum, Infektionsquellen zu identifizieren und stillzulegen. Die Auseinandersetzungen um den Umgang mit HIV in den 1980ern verdeutlichen den Unterschied der beiden Ansätze: Damals wollten in Westdeutschland die Vertreter*innen der alten Linie, angeführt von dem CSU-Staatssekretär Gauweiler, eine Meldepflicht und lückenlose Erfassung aller HIV-Infizierten mit dem Ziel, diese durch Quarantänemaßnahmen an der Weiterverbreitung des Virus zu hindern. Zum Glück setzte sich gegen diese individuelle Suchstrategie, d.h. gegen eine auf das Individuum fokussierende Methode der Überwachung und Erfassung, eine gesellschaftliche Lernstrategie durch. Man stärkte die Hauptbetroffenengruppen wie Schwule und Drogennutzende in ihren Kommunikationsformen mit dem Ziel, dass diese selbstbestimmt Präventionsstrategien entwickeln konnten. Im Zuge dessen unterstützte beispielsweise die Berliner Gesundheitsverwaltung finanziell die Verbreitung des schwul-lesbischen Magazins Siegessäule, das vorher nur als Studentenblatt erschienen war, nun aber in der ganzen Szene verbreitet wurde. Auf diese Weise entstand ein wichtiger Kanal der Kommunikation über Prävention, aus der Community heraus. Entscheidend ist die Partizipation aller. 

Also im Grunde Gesundheitsförderung „von unten“? 

Ja, Gesundheitsförderung ist ein Konzept, Impulse zu setzen, um gesundheitsbezogene Reformbewegungen anzustoßen oder zu stärken. International spricht man vom sogenannten Setting-Ansatz: Gesundheitsförderung durch aktive Einbeziehung, also die Partizipation aller Akteure im jeweiligen Setting. Das kann eine Kita, eine Pflegeeinrichtung aber auch ein Stadtteil oder eine Kommune sein. Es geht darum, an bereits gesammelte Erfahrungen und erworbene Fertigkeiten der Beteiligten anzuschließen und ihre Kompetenzen in Fragen von Gesundheitsförderung zu stärken. Stichwort Empowerment. Die jeweiligen Settings sollen gestärkt und die Menschen sensibilisiert und in die Lage versetzt werden, die gesundheitsfördernden Strukturen längerfristig zu erhalten. In Bezug auf die Pandemie hätte das den Vorteil, in der Prävention, aber auch bei auftretenden Infektionsclustern autonomer, souveräner, selbstbewusster (re)agieren zu können. 

Heißt das, dieser ganzheitliche und nachhaltige Anspruch von Public Health ist im Krisenmanagement zu kurz gekommen? War das Gesundheitsschutz „von oben“? 

Zunächst mal ist es natürlich anerkennenswert, dass die Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung so umfassend ist und nicht eine Sorg- oder Skrupellosigkeit wie in den USA oder Brasilien überwiegt. Präventionspolitisch ist es allerdings hoch problematisch, wenn ein Erkrankungsrisiko so dämonisiert wird. Denn dies führt dazu, dass ein rationaler Umgang verhindert wird, weil etwa Infektionen versteckt werden. Es ist zu befürchten, dass sich COVID-19 dadurch zu einer nosokomialen Infektion entwickelt, also zu einer Krankheit, die durch das Gesundheitswesen selber übertragen wird, etwa über Pflegeeinrichtungen, Arztpraxen oder Krankenhäuser. Schon im März schrieben Ärzte aus Bergamo einen offenen Brief, in dem sie davor warnten, dass sich die Infektionen über die zentralisierten Krankenhäuser verbreiten. 

Was sind nosokomiale Infektionen? 

Wir wissen schon lange um das Problem, dass sich in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen Infektionen besonders hartnäckig halten, Stichwort: Krankenhauskeime. Dies resultiert daraus, dass Mitarbeitende einerseits unter hohem Zeitdruck stehen, andererseits aber auch ratlos sind, wie sie auftretende Infektionen erkennen, reduzieren, idealerweise sogar eindämmen können. Bis vor 100 Jahren hat es etwa viele Mütter und Säuglinge das Leben gekostet, bis Ärzt*innen und Hebammen endlich konsequent dazu übergegangen sind, sich zwischen zwei Geburten die Hände zu waschen. Das klingt banal, ist es aber keineswegs! Auch in der COVID-Prävention tritt dieser paradoxe Effekt auf, weil es für Pflegeeinrichtungen oder Arztpraxen einfacher ist, Hinweise auf Corona-Infektionen wegen Angst vor einer Schließung eher zu ignorieren, als differenzierte Schutzkonzepte zu entwickeln. 

Was hätte man im Krisenmanagement konkret anders machen können?

 Aus präventionspolitischer Perspektive ist es entscheidend, dezentrale Ansätze zu diskutieren, die von den Menschen in ihren Alltag integriert werden können. Gesundheitsförderung und Prävention können in den Lebenswelten der Menschen am besten betrieben werden, da ist vor allem die Kommune nah dran. Kommunale Strategien sollten den Menschen in den Pflegeheimen, Betrieben, Kitas helfen, gemeinsame Gesundheitskonzepte zu entwickeln, ohne zu bevormunden, ohne zu ängstigen. Das kann zum Beispiel so aussehen, dass Heimbewohner*innen, Belegschaften, Eltern und Kinder miteinander Hygienekonzepte für ihr jeweiliges Setting entwickeln, entsprechend ihren jeweils spezifischen Bedingungen und Schutzbedürfnissen. 

Warum denkst du, wurde das versäumt? Fehlt die Lobby für diese Art von beteiligungsorientierter Gesundheitsförderung?

Im Krisenmanagement hat sich gezeigt, dass Public Health offensichtlich noch viel zu schwach aufgestellt ist in Deutschland, aber auch weltweit. Statt die multidisziplinäre Kompetenz des Konzepts zu nutzen, wurden neue Gremien mit verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen in der Leopoldina oder auch in den Ländern eingerichtet. Und auch hier fehlt es an einem gleichberechtigten Miteinander der Kompetenzen aus den verschiedenen medizinischen Disziplinen. Die Expertisen aus Sozialmedizin und Sozialepidemiologie, Hygiene und Psychiatrie wurden viel zu wenig gehört, ganz zu schweigen von dem Wissen aus der Pflege, der Soziologie, aus Diversity Studies oder aus der Sozialen Arbeit. Das hat dann zur Folge, dass wichtige Anliegen nicht mitgedacht werden, z.B. in der Frage der Kita- und Schulschließungen. Hier wurden die Eigengesetzlichkeiten dieser Einrichtungen kaum berücksichtigt. Noch heute leiden diese Einrichtungen unter einer schweren Desorientierung. 

Du argumentierst für ein im Sozialgesetzbuch angesiedeltes Gesundheitsförderungsgesetz, damit die Trennung von sozial- und gesundheitspolitischen Maßnahmen aufgehoben wird. Wie bewertest du das Präventionsgesetz von 2015? Inwiefern hatte es Auswirkungen auf den Umgang mit Corona? 

Das Präventionsgesetz ist eigentlich sehr weitsichtig und sieht den Schwerpunkt für die Kranken- und Pflegekassen in der Gesundheitsförderung in Lebenswelten, etwa in Schulen, Betrieben und Pflegeeinrichtungen. Der Anspruch ist, dass vor Ort gemeinsame Gesundheitskonzepte unter Mitwirkung aller Beteiligten entwickelt werden sollen. Allerdings wird dies noch viel zu wenig umgesetzt, es dominieren weiterhin vorgefertigte Programme und individuelle Verhaltensbotschaften. Zudem werden zwar die Sozialversicherungen zu Projekten verpflichtet, aber Gesundheit ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die in allen Bereichen und Ressorts mitgedacht werden muss – das Stichwort lautet „Health in All Policies“. Dieser Anspruch findet sich im Regierungsprogramm der Bundesregierung, in der Umsetzung ist davon jedoch noch nicht viel zu spüren. Bei COVID-19 haben wir es nun eher mit „Disease Over All Policies“ zu tun – das führt zu Präventionsmüdigkeit und irgendwann auch zu Widerständen. 

Aus der kritischen Gesundheitswissenschaft wissen wir, dass Gesundheit sehr stark von sozialen Determinanten – Wohn- und Lebensverhältnissen, sozialen Infrastrukturen etc. – beeinflusst ist. Was bedeutet das für die Prävention? Wird das mitgedacht, wenn es um die Stärkung von Ressourcen und das Empowerment von Menschen geht? 

Sicherlich. In der Betrieblichen Gesundheitsförderung konnte gezeigt werden, dass Verhältnisprävention, also bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitbestimmung, wesentlich dazu beitragen können, Arbeitszufriedenheit zu erhöhen und dadurch Fehlzeiten und Produktmängel zu reduzieren. Umgekehrt: je weniger Selbstbestimmung über den Alltag, desto höher die Anfälligkeit für Krankheiten – gerade auch bei COVID-19. Wir wissen, dass vorerkrankte, schlecht ernährte oder einsame Menschen besonders vulnerabel sind für das Virus, ebenso wie bestimmte Arbeitsverhältnisse in der Pflege oder in der Fleischindustrie, aber auch beengte Wohnverhältnisse. 

Konsequent zu Ende gedacht scheint die Perspektive von Public Health nicht mit der derzeitigen Kommerzialisierung des Gesundheitssystems vereinbar zu sein. Sind Public Health und die Ansätze der Präventionsforschung auch als transformatorische Projekte, als Einstiegsprojekte in eine andere Wirtschaftsweise zu begreifen? 

Ja, dazu gibt es viele Überlegungen. Etwa die Konzepte der gesundheitlichen Chancengleichheit und der Verwirklichungschancen oder auch der Stärkung von Kollektiv- und Gemeinwohl, wie sie im New-Public-Health-Ansatz angelegt sind. COVID-19 und die damit verbundene Dynamik hat allerdings auch andere Ansätze begünstigt und speziell die seuchenpolizeiliche Orientierung des Old Public Health gestärkt, die eigentlich schon längst überlebt schien. Wir erleben gerade, wie sie im Verbund mit neuen Technologien neue krankheitsbezogene Machbarkeits- und Beherrschungsstrategien hervorbringt. Dem muss man entgegenhalten, dass Gesundheits- und Krankheitsverläufe, auch epidemiologische Verläufe, mitnichten linear verlaufen, sondern vielmehr von den sozialen Verhältnissen abhängig sind. Oder, wie schon Rudolf Virchow wusste: Der Erreger ist nichts, das Umfeld ist alles.