Ihr wart als Gewerkschaftssekretär*innen alle sowohl im Osten wie auch im Westen tätig oder auch in der Grauzone dazwischen. Sind Unterschiede zwischen Ost und West in eurer Arbeit noch ein Thema?
KATJA: In Bezug auf die Kampferfahrung auf jeden Fall. Ich habe hier ein regionales Busunternehmen, das 1996 das letzte Mal bestreikt wurde. In der ersten Mitgliederversammlung saßen nach langer Vorarbeit 50 Leute. Und die sagten mir: »Haben wir denn überhaupt eine Chance? Das wird doch nichts.« So etwas hätte in einem Betrieb in Mannheim niemand gesagt. Wir hatten schließlich von 400 Leuten schon 200 organisiert, Tendenz steigend. Warum hätte es nicht klappen sollen? Diese Haltung fand ich schon sehr ostdeutsch.
STEFAN: Auch ich erlebe Unterschiede. Die Traditionslosigkeit ist größer, im Guten wie im Schlechten. In der DDR gab es den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB). Der war keine Kampfgewerkschaft, sondern diente der Produktivitätssteigerung. Nach der Wende, in den 1990ern, bekamen die Beschäftigten dann nur auf die Fresse. In der Abfallwirtschaft wurde alles privatisiert, die Leute konnten sich nicht wehren. Anfang der 2000er hat dann die Gewerkschaft gesagt: „Hier in Brandenburg ist sowieso verbrannte Erde, da ballern wir unsere Ressourcen lieber auf die Berliner Großbetriebe“. Die Region wurde abgehängt. Erst jetzt dreht sich das wieder etwas.
Boris, du versuchst, Beschäftigte an den Amazon-Standorten in und um Berlin zu organisieren. Spielt das Ost-West-Thema dabei eine Rolle?
BORIS: Bei Amazon spielen aktuell ganz andere Dinge eine Rolle. Der Anteil an Migrant*innen ist sehr hoch, weil du ohne Deutsch- und sogar ohne Englischkenntnisse anfangen kannst. Die Organisierung wird dadurch extrem schwierig. In einem Verteilzentrum hast du um die 800 Beschäftigte, davon 500 Fahrer, alle bei Subunternehmen mit unter 20 Beschäftigten. Diese kleinteilige Struktur macht es extrem schwer, Betriebsräte zu wählen. Bei den Amazon-Angestellten selbst hast du eine Befristungsquote von 70 Prozent. Wenn ich da mal einen Festangestellten treffe, ist das das große Los.
Früher hieß es oft: Die Gewerkschaft kriegt im Osten keinen Fuß auf den Boden, weil die Leute so schlechte Erfahrungen mit der Staatsgewerkschaft gemacht haben. Vielleicht war das auch nur eine Schutzbehauptung der Gewerkschaften aus dem Westen, die alles übernommen haben, aber der Privatisierungswelle dann nichts entgegensetzen konnten. Dennoch: Spielt diese andere Tradition des FDGB eine Rolle?
KATJA: »Ich trete nirgendwo mehr ein«, diese Haltung begegnet mir schon häufig. Das ist so eine allgemeine Reaktion auf gewisse Zwänge, die es zu DDR-Zeiten gab. Bei der jüngeren Generation ist aber Traditionslosigkeit der vorherrschende Eindruck. Die Gewerkschaft als die eigene Organisation zu begreifen und nicht als etwas, das von außen kommt, um etwas für dich zu tun – das braucht viel Bildungsarbeit. In Mannheim kamen viele Leute aus Gewerkschaftsfamilien und kannten das von zu Hause, da lief das von selbst. Das ist im Osten anders. Aber das heißt nicht, dass die Leute nicht organisierbar sind.
STEFAN: Die Leute, die das neue Rückgrat der gewerkschaftlichen Basisorganisationen in Brandenburg bilden, sind überwiegend zwischen 25 und 40 Jahre alt. Da spielt das Thema DDR und FDGB keine Rolle. Die treibt etwas anderes um, die sagen: »Die Scheißmauer ist längst weg, warum muss ich eine Stunde länger arbeiten als der Kollege in Stuttgart? Wir machen doch die gleiche Arbeit!« In den Strukturen, mit denen sie sich teilweise auseinandersetzen müssen, spielt es aber schon eine Rolle: Viele Betriebsräte sind Anfang 60, die sind zum Teil seit Anfang der 1990er tätig. Mit denen kannst du diskutieren über die frühere Rolle des FDGB. Der war ja ein Bindeglied zwischen der Betriebsleitung und den „Mannschaften“. Ein Modell, das durchaus dem Verständnis eines konservativen Betriebsrates entspricht.
Die fehlende gewerkschaftliche Tradition – ist das auch prägend für die Situation bei Amazon?
BORIS: Absolut. Ich habe Leute aus den unterschiedlichsten Kontexten und Ländern. Mit der Geschichte der DDR-Gewerkschaft haben die nichts am Hut. Da geht es eher darum, von Null an eine gewerkschaftliche Identität zu entwickeln.
STEFAN: Das kenne ich auch. Du musst die gewerkschaftliche Prägung erst Schicht um Schicht aufbauen. Und das kann funktionieren: Wir haben 2022 eine neue Riege von Betriebsräten gewählt, Kraftfahrer und Schrauber Anfang 30. Die wühlen sich jetzt akribisch in die Arbeitsgesetze rein, das ist ganz fantastisch. Sie haben kein tradiertes Wissen von Altvorderen, sondern eignen sich das selbst an. Manche kannten nicht mal das Konzept Gewerkschaft. Wenn man aber anfängt, es zu erklären, leuchtet es den Leuten sofort ein: Wenn man sich zusammenschließt, kann man kollektiv den Boss konfrontieren.
Es fehlt also nur ein bisschen Hilfestellung bei der Organisierung?
STEFAN: Manchmal schon. Du musst aber aus den konkreten betrieblichen Bedingungen herleiten, welche Hilfe genau nötig ist. Gewerkschaft heißt nicht, sich aus Gewohnheit alle drei Monate zu treffen, sondern zu fragen, was jetzt in diesem Moment gebraucht wird, und die Struktur daran ausrichten. Das heißt, wir setzen uns als unterschiedliche Betriebsteile regelmäßig zusammen, nicht aus Gewohnheit, sondern um nicht gegeneinander ausgespielt zu werden. Letztlich ist die Gewerkschaft für die Leute ein Vehikel. Sie haben ein Problem und das wollen sie lösen. Die Identifikation mit ver.di ist nicht so riesig. Aber mit der Crew, die im Betrieb unter der ver.di-Flagge läuft und sagt, »Wir packen das jetzt an«, mit der identifizieren sie sich. Dann muss man eben die Verbindung hinkriegen, zu sagen: »Ah, das ist ja genau das, was die Gewerkschaft ver.di insgesamt macht oder zumindest machen sollte.«
Das klingt so, als könnten Gewerkschaften in den ostdeutschen Betrieben viel mehr erreichen, wenn sie nur wollten.
STEFAN: Ja, das ist meine Erfahrung. Bei uns gab es sieben Betriebe, in denen seit Jahren kein Hauptamtlicher von ver.di war. Wir haben dort angefangen, Flugblätter zu verteilen und zu sagen: »Hallo, hier sind wir. Habt ihr Fragen, wollen wir uns zum Kaffee treffen?« Von den sieben Fällen hat das sechsmal sehr gut geklappt. Im siebten Fall war das Scheitern auch eine Ressourcenfrage. Eigentlich hätten wir für jeden Betrieb eine Betreuungsperson gebraucht, um den Prozess nachzuverfolgen, nachzuhaken. Haben wir aber nicht. Also muss man priorisieren. Also grundsätzlich: Ja, die Organisierung klappt. Hauptsächlich, weil die Arbeitsmarktsituation heute eine andere ist. Die Leute haben weniger Angst. Das heißt aber auch, dass ich als Gewerkschaft mit der hohen Fluktuation zu kämpfen habe. Wenn ich endlich einen kampffähigen Kern in einem Betrieb zusammengebracht habe, sind die Leute ein halbes Jahr später schon wieder weg, weil sie woanders eine gute Stelle finden.
Wie ist das mit der Fluktuation bei Amazon? Was bedeutet das für die Organisierung?
BORIS: Das ist das Prinzip Saftpresse. Du hast bei den einfacheren Tätigkeiten zu einem sehr großen Teil Migrant*innen. Werkstudent*innen aus Indien, Pakistan. Die sind oft nur zwei, drei Monate da, werden aber konstant nachrekrutiert. Da passiert dasselbe wie bei den Lieferservices, Gorillas, Flink und Co., wo die Organisierung auch nicht einfach ist. Aber auch da bewegt sich langsam etwas.
Was kannst du dann überhaupt tun unter diesen Bedingungen?
BORIS: Organisieren kannst du diejenigen, die sich was trauen, also die mit einem festen Vertrag. In den Verteilzentren musst du die aber erst mal finden. Oft sind das Leute, die schon etwas höher in der Hierarchie stehen, zum Beispiel als Teamleitung. Sie haben dann aber eben auch bestimmte Vorteile und trauen sich teilweise nicht, in die Vollen zu gehen. Es ist ein wenig wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen: Mit wem kann die Organisierung anfangen? Am Standort Mariendorf begann alles mit einem Kollegen, der zehn Jahre in der Gewerkschaft war, wenn auch nie aktiv. Für den war es selbstverständlich zu sagen: „Ich bin Gewerkschaft, Betriebsrat ist ´ne tolle Sache.“ Und dann hat er sich reingekniet. Diese Leute mit einer gewissen Vorerfahrung und einem gewissen Mut, die brauchst du. Um die herum kannst du was aufbauen. Aber das ist mühselig. Du musst mit allen Fraktionierungen und Spaltungen auf einmal umgehen – Ost, West, Migrationshintergrund.
Katja, du warst bei der IG Metall im Osten, dann bei der IG Metall im Westen, jetzt bist du bei ver.di in Thüringen. Hast du das Gefühl, im Osten kommt etwas Neues in Bewegung?
KATJA: Ich habe 2014 bei der IG Metall Ost als Jugendsekretärin angefangen. Damals habe ich die erste Generation von Azubis erlebt, die zu ihren Meistern sagen: »So wie du will ich nicht enden.« Daraus ist nicht automatisch ein kollektives Bewusstsein entstanden. Aber es war die Voraussetzung dafür, die Bedingungen aktiv zu verändern. Ich erinnere mich an eine Szene am Fließband. Da steckten die Azubis ihrem älteren Kollegen einen Aufnahmeantrag für die Gewerkschaft in den Blaumann und sagten ihm: „Komm, jetzt mach mal mit. Jahrelang warst du brav und was hat es dir gebracht?“ Wahrscheinlich waren die Älteren gar nicht brav, sondern eher resigniert, denn auch Verlusterfahrungen machen handlungsunfähig. Diese Verlusterfahrung hatten die Jungen aber nicht mehr. In dieser Zeit hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, jetzt kommt eine Erneuerung. Inzwischen sind die damaligen Azubis alle in dem Alter, wo sie selber Betriebsräte und Vertrauensleute sind. Die bringen Schwung in den Laden.
STEFAN: Stimmt. Diese Altersgruppe hat zwar keine gewerkschaftliche Erfahrung im Rucksack, aber auch keine demoralisierende Niederlage. Massenarbeitslosigkeit kennen sie von ihren Eltern, aber sie waren nicht selbst betroffen. Viele von denen kennen das Konzept Gewerkschaft nicht, aber finden es megaplausibel. Ich denke da an einen Betrieb, die Stadtentsorgung Potsdam, der größte Abfallwirtschaftsbetrieb in Brandenburg. Da habe ich vor zwei Jahren einfach rumgefragt, wer Bock hat, ein Streikkomitee zu bilden. Und plötzlich saßen da 15 Leute im Kleingarten eines Kollegen – nur drei davon waren aber Gewerkschaftsmitglieder. Da gab es bei ver.di Diskussionen, ob das überhaupt geht. Ich habe dann gesagt: „Ist doch klar, dass die keine Mitglieder sind. Die kaufen doch nicht die Katze im Sack. Zehn Jahre lang war da niemand mehr von uns. Wir sind jetzt als Gewerkschaft in der Bringschuld.“ Heute ist das Streikkomitee von damals der Kern der Vertrauensleute in diesem Betrieb – sie sind die Gewerkschaft. Das hat nur geklappt, weil es ein gemeinsamer Ritt war, mit Streik, Repression, Prügelei vom Tor und allem Drum und Dran. Der gemeinsame Weg war entscheidend für den Erfolg.
BORIS: Ja, du musst als Gewerkschaft wirklich vor Ort sein, am Fabriktor stehen und mit den Leuten reden, soziale Bindungen aufbauen. Das kostet aber viel Zeit und Ressourcen. Und diese Ressourcen muss man natürlich schlau einsetzen. Dafür braucht es aber auch Analyse: Wo gelingt die Organisierung am besten? Wo kann ein Streik am meisten bewirken? Genau diese Analyse fehlt uns bei Amazon noch etwas. Vielleicht müssen wir mal auf einen Streik verzichten und die Ressourcen stattdessen dafür verwenden rauszufinden, wir wir den Laden effektiv festnageln können, wo es am meisten weh tut.
Jeden Tag wird irgendwo gestreikt in der Bundesrepublik. Aber im öffentlichen Bewusstsein sind Gewerkschaften trotzdem nicht präsenter als vor zehn oder zwanzig Jahren. Wie ist das im Betrieb?
BORIS: In der Amazon-Belegschaft bekommen inzwischen alle die Streiks mit, aber eher als Hintergrund-rauschen. Den Standort in Brieselang gibt es seit zehn Jahren, dort wurde noch nie gestreikt. Die wissen natürlich, dass es jedes Jahr Arbeitskämpfe gibt. Aber es ist ein Unterschied, ob ich abstrakt davon höre oder es konkret erlebe und die Kolleg*innen kennenlerne. Darum habe ich Krankenpfleger*innen mit Amazon-Beschäftigten zusammengebracht und streikende Post-Beschäftigte eingeladen. Wenn man es schafft, Leute in Kontakt zu bringen und gemeinsame Erfahrungen zu ermöglichen, dann entsteht eine Identifikation und ein Bewusstsein für die Gemeinsamkeiten. Das passiert nicht, wenn ich die Streiks der anderen nur in den Nachrichten sehe.
Es wird zwar immer mehr gestreikt, doch die Streikbewegungen bleiben oft fragmentiert. Warum ist das so?
KATJA: Diese Frage beschäftigt mich auch. Ich glaube, die Leute haben heute einen pragmatischeren Zugang zu Gewerkschaften. Sie sind ein Mittel, etwas zu erreichen. Gesellschaftspolitisches Bewusstsein spielt dabei kaum eine Rolle. Darum ist auch schnell eine Grenze erreicht, wenn es über die unmittelbar betrieblichen Themen hinausgeht. Ich bin gerade an der Organisierung der „Nicht-mit-uns-Proteste“ beteiligt. Da stellen wir die größeren Fragen, fordern eine Umverteilung von Reichtum. Wenn ich meinen politisierten Leuten in den Betrieben davon erzähle und sie zum Treffen einlade, zucken viele nur mit den Schultern. Da ist eine große Lücke im Bewusstsein
STEFAN: Ich glaube, das ist eine der größten Herausforderungen. Die Leute kommen zur Gewerkschaft, weil die betrieblichen Themen sie umtreiben. Aber dann muss es eine Übersetzung geben in die breitere Politik. Und die ist alles andere als einfach. Bei der Landtagswahl in Brandenburg ist die AfD unter Gewerkschafter*innen mit 22,9 Prozent die zweitstärkste Partei geworden, nach der SPD mit 30,9 Prozent. Wenn man die Daten zu Geschlechterverteilung und Altersstruktur der AfD-Wählerschaft anschaut und mit der Beschäftigtenstruktur in der Abfallwirtschaft in Brandenburg abgleicht, muss man davon ausgehen, dass gut ein Drittel der Belegschaft die AfD gewählt hat. Das prägt dann natürlich auch die Diskussionen auf den Betriebsversammlungen.
Wie gehst du damit um, wenn rechte Äußerungen kommen? Wie hältst du dagegen?
STEFAN: Es bringt nichts, in solchen Momenten zu moralisieren und zu sagen: »Was seid ihr denn für Idioten?« oder »Das ist aber ganz schlimm, was ihr da denkt.« Ich sage dann stattdessen: »Leute, wir wollen gemeinsam gegen den Chef vorgehen! Das geht aber nicht, wenn ihr nicht die rumänischen Kolleg*innen und die Beschäftigten der Subunternehmen mitdenkt.« Ich versuche das ganz altmodisch aus dem Klasseninteresse herzuleiten. Ich argumentiere, dass Spaltungen uns nicht weiterbringen, sondern schaden. Manche Kolleg*innen kapieren es dann auch und denken allmählich um. Noch schlimmer erlebe ich es aber beim Thema Klimabewegung und Klimaprotest. Da geht es richtig zur Sache. Ich habe zu 80 Prozent mit Kraftfahrern zu tun. Die müssen auf dem Weg zur Müllverbrennungsanlage alle über die Stadtautobahn in Berlin. In der Hochphase der Klimakleber-Proteste sind die zwei Stunden später nach Hause gekommen. Die waren so sauer, die haben die Leute von der Straße gerissen. Ich habe sie dann gefragt, was ihnen mehr Lohn nützt, wenn der Planet zerstört ist. Und sie daran erinnert, dass sie selbst in der TVÖD-Runde die Autobahn blockieren wollten. Dann sagen die: „Das ist was ganz anderes.“ Und ich sage: „Nee, das ist nichts anderes.“ Diesen Auseinandersetzungen muss man sich offensiv stellen. Ich glaube aber, dass solche Gespräche nur dann fruchten, wenn wir die Erfahrung eines gemeinsamen Kampfes teilen und aus dieser Erfahrung heraus miteinander streiten. Ich kann mir als Gewerkschafter keine andere Klasse schnitzen als die, die eben da ist.
Das Gespräch führte Jörn Boewe.