An die Zukunft denken viele, zumindest in politischen Begriffen, momentan lieber nicht. Wer kann es ihnen verdenken, Grund für schlechte Laune gibt es, wohin man schaut: Krieg in der Ukraine, Terroranschläge in Paris und Kopenhagen, Elend in Südeuropa, Prekarisierung selbst im Land des ›Exportweltmeisters‹ und Rassismus auf den Straßen. Es scheint heute oft einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus, wie der Kulturtheoretiker Mark Fisher die Hoffnungslosigkeit im Neoliberalismus beschrieb.

Keine guten Zeiten für eine demokratisch-sozialistische Partei, könnte man meinen. Doch es gibt auch zahlreiche Ansätze, die eine ganz andere, hoffnungsvolle Perspektive vorstellbar machen. Manchmal sind sie klein, wie Anti-Privatisierungs-Projekte, Initiativen solidarischer Ökonomie oder demokratische Bürgerhaushalte in den Kommunen; manchmal groß, wie die Konzepte für eine gerechtere Finanzordnung in Europa oder einen sozialökologischen Wandel im Energiesektor. Soziale Bewegungen und neue linke Parteien zeigen, dass die Linke vielleicht europaweit vor einem Comeback steht.

Es gibt also keinen Grund, sich in den eigenen vier Wänden zu verkriechen. Wer nicht heute an morgen denkt, überlässt dessen Gestaltung anderen. Und wohin die Ideen der neoliberalen Eliten und ihrer Thinktanks geführt haben, konnten wir in den letzten Jahren zur Genüge erleben. Die Linke braucht ein überschießendes utopisches Moment. Anders als die Rechte kann sie ihre Poesie nicht aus der Vergangenheit borgen, sondern nur aus der Zukunft ziehen. Sie muss also über den Tag hinaus denken, will sie ihren eigenen gesellschaftskritischen und gesellschaftsverändernden Anspruch ernst nehmen.

Hartz-IV-Partei?

Das gilt insbesondere für die Partei die LINKE. Schließlich hat der erfolgreiche Aufbau einer gesamtdeutschen Partei links von der SPD in den letzten zehn Jahren wesentlich auf politischen Pfeilern beruht, die eine zukunftsfähige Parteientwicklung nicht mehr allein tragen können. Kaum etwas veranschaulicht das besser als die jungen Leute, die auf unsere Forderung »Hartz IV muss weg« entgeistert mit der Frage reagieren: »Wie? Das wollt ihr uns jetzt auch noch wegnehmen?« Natürlich bleibt der Kampf gegen Hartz IV und gegen die Agenda-Politik für die LINKE zentral. Das reicht aber nicht, es sind darüber hinausweisende, nach vorne gerichtete Konzepte gefragt. Gerade das offensichtliche Scheitern des Finanzkapitalismus macht deutlich, dass wir eine Vision von Gesellschaft, eine attraktive Erzählung und entsprechende Einstiegsprojekte brauchen. Die LINKE läuft sonst Gefahr, tatsächlich zu einer jener wenig attraktiven »Jammerparteien« (Hardt/Negri 2013, 99) zu werden – und den Veränderungsbegriff am Ende der Rechten zu überlassen. Die ›neue soziale Idee‹, wie eine Forderung aus unserer Gründerzeit lautet, muss ausformuliert und wetterfest gemacht werden. Mit anderen Worten: Es braucht, wie Bernd Riexinger und ich es in unserem Parteientwicklungspapier formuliert haben, »neue strategische Anker für die Partei« (Kipping/Riexinger 2013).

Freiheit und Gerechtigkeit

Wie können die aussehen? Dafür gibt es natürlich keinen Masterplan, und in einer pluralen Partei sind und bleiben verschiedene Zugänge und Traditionen gerade die Bedingung des gemeinsamen Erfolges. Es lassen sich aber durchaus erste Umrisse einer Zukunft skizzieren, die es zu diskutieren lohnt. Ob »Umverteilung«, »Zukunft der Arbeit«, »Zukunft des Öffentlichen«, »Sozialökologischer Wandel« oder »Aneignung der Demokratie« – in zentralen Politikfeldern liegen Ansätze vor, die linke Politik auf der Höhe der Zeit reformulieren, indem sie Freiheit und Gerechtigkeit als ein Bedingungsverhältnis begreifen und nicht, wie die Rechte glauben machen will, als Gegensatz. Das heißt, dass hier Werte der Neuen Linken wie Selbstbestimmung, Dezentralisierung und Kreativität aufgenommen und mit sozialer Gleichheit verbunden werden. Und dass die fordistische Fokussierung auf das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, die Vorstellung vom (National-)Staat als vermeintlich alleinigem Ort des Politischen und die herrschaftliche Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern überwunden werden. Eine postfordistisch informierte Linke vermeidet die falsche Alternative zwischen ›Anpassung an die Technokratie des neoliberalen Wettbewerbsstaats‹ und ›Verteidigung fordistischer Errungenschaften‹. Sie begreift stattdessen die berühmte soziale Frage als eine Frage nach der umfassenden Demokratisierung aller Lebensbereiche. Das schließt die Anerkennung unterschiedlicher Lebensentwürfe und Subjektivitäten als Ressourcen einer solidarischen Gesellschaft sowie die Überwindung der Vorstellung von einem homogenen politischen Subjekt zugunsten von Netzwerkkonzepten ausdrücklich mit ein. Dies ist kein Zugeständnis an den Neoliberalismus, sondern vielmehr die Einsicht, dass dessen Erfolg gerade auch auf der selektiven Integration emanzipatorischer Kämpfe und dem Bedürfnis nach Selbstbestimmung beruht. Beides gilt es in sozialistischen Zukunftsentwürfen aufzuheben, sie aus der neoliberalen ›Zurichtung‹ zu befreien.

Die Bewegungen in Südeuropa zeigen, dass es der Linken gelingen kann, aus der strategischen Defensive herauszukommen, wenn sie soziale Ausgrenzung als Ausschluss von gesellschaftlicher Teilhabe und Mitbestimmung und nicht nur als ein Verteilungsproblem thematisiert. Unsere Forderung nach Abschaffung aller Sanktionen im Hartz-IV-Regime verknüpft schon exemplarisch soziale und Bürgerrechte. Gleiches gilt für das feministische Streiten für Zeitsouveränität: In der Forderung nach einem neuen gesellschaftlichen Zeitregime, für das die Vier-in-einem-Perspektive (vgl. Haug 2011) als Kompass dienen kann, liegt das Potenzial, Fragen der Lebensführung von links zu politisieren und einen Ausbau Sozialer Infrastrukturen kulturell so einzubinden, dass sie tatsächlich eine veränderte Arbeitsteilung und neue Geschlechterarrangements ermöglichen. Auch das Engagement für Bewegungsfreiheit und eine gelebte Willkommenskultur in Bezug auf die Aufnahme von MigrantInnen und Flüchtlingen bieten ähnliche Chancen.

Partei der Zukunft

Eine all das aufnehmende ›Partei der Zukunft‹ eröffnet zugleich wahlstrategisch neue Perspektiven, indem sie ein Angebot für das urbane, links-ökologisch orientierte Milieu macht. Das könnte sich noch als wichtig erweisen. Denn es liegt nicht zuletzt am »fordistischen Stallgeruch der LINKEN« (Schlemermeyer 2014), der ihr in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor zugeschrieben wird, dass in Großstädten viele junge Menschen, die eigentlich linke Positionen vertreten, dann doch wieder Grüne oder Piraten wählen. Es gibt aber keinen Grund, dass das so bleiben muss. Mit einem Bekenntnis zu grenzübergreifender Politik und Lebensqualität statt etwa ›Wachstum‹ ist die ›Generation Erasmus‹ durchaus für die LINKE ansprechbar. Die erste schwarz-grüne Koalition in einem Flächenland macht das urbane Milieu parteipolitisch bereits jetzt noch heimatloser. Außerdem hat die SPD gezeigt, dass sie zwar hier und da kleine soziale Korrekturen durchsetzen will, aber selbst die sollen – siehe Flüchtlingspolitik, Entwicklungshilfe oder prekäre Beschäftigung – nur für jene gelten, die bereits »fleißige Ameisen« im Standort Deutschland sind (Rötzer 2013). Das eröffnet für die LINKE ein weites Feld möglicher Aktivitäten. Übrigens nicht nur im Sinne der Verteidigung von Interessen, die vom autoritären Wettbewerbsstaat links liegen gelassen werden, sondern auch in Form einer parteipolitischen Begleitung der gesellschaftlichen Entwicklung von Alternativen. Trotz aller Unterschiede der Situation: SYRIZA hat gezeigt, dass dies grundsätzlich gelingen kann, wenn eine linke Partei versucht, sozialen Bewegungen und Basisinitiativen medial, rechtlich und finanziell den Rücken freizuhalten.

Allerdings bleibt es eine Herausforderung, eine zugespitzte Ansprache zu finden, die mobilisierend in jene Milieus hineinwirkt, die sich von Politik eigentlich nur noch abwenden. Das meint nicht zuletzt, die Frage nach den Perspektiven eines neuen Linkspopulismus zu stellen (vgl. Laclau in LuXemburg 1/2014). Denn Organisationen repräsentieren nicht einfach existierende Interessen, sondern stellen das Feld der Repräsentierten aktiv her. Hier braucht es eine schonungslose Analyse des Ist-Zustandes und zugleich eine Idee jener Momente, in denen sich das Morgen schon im Heute abzeichnet. Dabei helfen weder blinder Technikoptimismus noch ein ängstlicher Kulturpessimismus. Vielmehr braucht es Mut, Dinge infrage zu stellen, und kreative Offenheit.

Genau an diesem Punkt setzt die »Linke Woche der Zukunft« an (vgl. Rosa-LuX Kompakt in diesem Heft). Die Lücke zwischen parteipolitischem Tagesgeschäft und abstrakter Utopie soll hier ergebnisoffen und sowohl im Hinblick auf die Analyse des Heute als auch die Möglichkeiten der Zukunft diskutiert werden. Eingeladen sind natürlich alle Mitglieder der Partei, aber auch andere kritische Köpfe und HeldInnen des Alltages. Das kann der Jobcenter-Mitarbeiter sein, der keine Sanktionen verhängt, die kritische Polizistin oder der engagierte Netzaktivist.

Es haben schon so viele kritische Köpfe zugesagt, dass es unmöglich ist, sie alle aufzuzählen. Um nur die Bandbreite anzudeuten: der Autor Dietmar Dath, die feministische Netzaktivistin Anke Domscheit-Berg, die marxistische Feministin Frigga Haug, die Theoretikerin der Radikaldemokratie Chantal Mouffe, der Schriftsteller Volker Braun, die Autorin von Kommunismus für Kinder, Bini Adamczak, der Regisseur Volker Lösch und viele internationale Gäste.

Ein so offenes Angebot zur Diskussion – jenseits des Entscheidungsdrucks (und gelegentlich ja auch Fraktions- bzw. Strömungszwangs) bei Parteitagen und in Gremiensitzungen – hat es in dieser Partei seit ihrem Bestehen als LINKE noch nicht gegeben. Die Chancen stehen insofern gut, dass die Zukunftswoche ihren Anspruch, ein Labor zur Entwicklung neuer strategischer Anker zu sein, erfüllen wird.

Dieser Beitrag ist eine Vorveröffentlichung aus "Mehr als prekär" - LuXemburg 1/2015.

Mehr zur »Linken Woche der Zukunft« (23.-26. April 2015 in Berlin) unter http://www.linke-woche-der-zukunft.de/linke-woche-der-zukunft/