Wie stellt sich die Situation in der Altenpflege derzeit dar?
Die Arbeitsbedingungen und Gehälter stehen in keinem Verhältnis zu der gesellschaftlichen Wichtigkeit dieser Aufgabe: 76 Prozent der KollegInnen geben an, unter hohem Zeit- und Termindruck zu arbeiten. Dabei versuchen sie alles, um sich dies bei der Arbeit nicht anmerken zu lassen oder den Druck weiterzugeben: Es soll den Menschen, mit denen sie arbeiten, gut gehen – natürlich klappt das nicht immer. 80 Prozent der Beschäftigten sind Frauen, und die Bezahlung ist schlecht. Eine Fachkraft verdient im Durschnitt 2 190 Euro brutto.Zum Vergleich: Ein Elektrotechniker erhält zirka 3 600 Euro. AltenpflegehelferInnen finden durchschnittlich 1 890 Euro brutto in ihrer Lohntüte. Wir reden hier von Vollzeitstellen, die in der Altenpflege die Ausnahme sind. Minijobs und Teilzeit bestimmen das Feld und die Gehälter. Das liegt nicht nur daran, dass Teilzeitkräfte flexibler eingesetzt werden können, sondern auch daran, dass die Kraft für eine 38-Stundenwoche oft nicht ausreicht. 83 Prozent der Altenpflegenden verrichten schwere körperliche Arbeit. Dazu kommen die psychische Belastung, die ›Zweite Schicht‹ zu Hause sowie mangelnde Wertschätzung. 73 Prozent der Beschäftigten gehen nicht davon aus, dass sie ihren Job bis zur Rente durchhalten. Und wenn sie die Rente erreichen, reicht das Geld zum Leben nicht. Altenpflege bedeutet in diesem Land fast zwangsläufig Altersarmut nach dem Job.
Was wollt ihr bei ver.di mit Eurem Projekt erreichen?
Es geht darum, dass sich die KollegInnen gemeinsam für ihre Interessen einsetzen und sich bei ver.di organisieren – derzeit tun das nur 17 Prozent. Alleine setzen sich aber nur die Starken durch. In der Altenpflege herrscht bereits heute Fachkräftemangel, und der Bedarf wird steigen. Die Nachfrage allein bestimmt aber eben nicht den Marktwert, sonst lägen die Gehälter deutlich höher und die Arbeitsbedingungen wären besser. In der momentanen Situation bedeutet der permanente Personalmangel vor allem, keine Ruhe mit den Menschen zu haben, die versorgt werden. Jede Ausnahme wird zur Katastrophe, weil die Regelarbeit gerade so hinhaut. So steht eben nicht die Selbstständigkeit der BewohnerInnen im Vordergrund, sondern das Tempo: Ein älterer Mensch ist schneller gewaschen, wenn er es nicht selber macht. Das gilt auch für das Essen, den Weg in den großen Saal und für’s Anziehen. ›Aktivierende‹, unterstützende Pflege, die auf den Erhalt von Selbständigkeit setzt, braucht Zeit und Geduld. Wenn KollegInnen krank werden, müssen Doppelschichten gemacht werden, das freie Wochenende ist weg, Überstunden wachsen an. Am Ende all dieser ›Ausnahmen‹ steht die Erschöpfung. Und dann reicht nicht einmal das Gehalt für einen wirklichen Erholungsurlaub im Jahr. Junge Menschen überlegen gut, welchen Beruf sie ergreifen. Wenn sich die Zustände nicht ändern, werden sie sich nicht für Pflege entscheiden. Mit der Veränderung des Familien- und Frauenbildes in der Gesellschaft verändert sich auf die Berufswahl von Frauen. Und sie sind es bisher, die die Pflege tragen – in den Heimen und zu Hause.
Was macht die (Selbst-)Organisierung der KollegInnen so schwer?
Pflegende haben häufig ein ambivalentes Verhältnis zu ihrer Arbeit, die in dieser Gesellschaft nicht viel zählt, unter anderem, weil sie wenig Profit abwirft. Der Versuch, aus der Pflege dennoch Profit zu ziehen, führt zu unmenschlichen Verhältnissen: erst bei den Beschäftigten, dann bei den Betroffenen selbst. Außerdem gelten so typisch weibliche Aufgaben wie Waschen, Essen reichen, Gespräche führen, Anziehen, Spazieren gehen oft gar nicht als Arbeit – das kann doch schließlich jeder – mindestens aber eine jede. Pflege wird daher oft als ›Liebesdienst‹ verstanden – auch von den Pflegenden selbst. Diese Vorstellung zieht sich durch die Entwicklung der Pflege. Sie hat sich dadurch professionalisiert, dass sie von Ordensschwestern übernommen wurde. Aus all diesen Gründen fehlt den Beschäftigten mitunter der ›ProduzentInnenstolz‹ für ihre Arbeit. Auch deshalb fällt es Pflegenden mitunter schwer, sich für ihre Interessen selbstbewusst einzusetzen. Sie sind gewöhnt, dass es meist um andere geht, nicht um sie selbst. Hinzu kommt oft Angst, den Job zu verlieren, Sorge um die Situation der BewohnerInnen und auch um die gesellschaftliche Reaktion auf solche Arbeitskämpfe. Hier müssen auch wir uns an die eigene Nase fassen: Wir wollen, dass unsere Lieben gut versorgt werden, aber wenn die Beschäftigten dafür kämpfen, dass sie diese Arbeit dauerhaft, gesund und gut leisten können, dann ist unsere Geduld nach 14 Tagen Streik schnell am Ende.
Wie arbeitet Ihr mit dieser Situation?
Wir wollen erreichen, dass die KollegInnen mindestens so verantwortlich und solidarisch mit sich selbst umgehen, wie mit ihren KollegInnen und den BewohnerInnen. Hier fängt an, sich etwas zu verändern. Wertschätzung steht ganz oben auf der Agenda, auch Sichtbarkeit. Ich bin sicher, dass es in den nächsten Jahren gerade in diesem Bereichen wahrnehmbare Proteste gegen diese unmenschlichen Entwicklungen geben wird – seitens der Beschäftigten, aber auch von Seiten der BewohnerInnen und ihren Angehörigen.
Wir arbeiten im Moment in 15 Altenpflegeeinrichtungen und mit einem überbetrieblichen Projekt. Die GewerkschaftssekretärInnen vor Ort koordinieren die Organisierung in den als ›Projektbetriebe‹ ausgewählten Heimen. Die Hauptpersonen sind aber die Aktiven im Betrieb. Konkret sieht das so aus, dass wir in einer Einrichtung gewerkschaftlich Aktive suchen und mit ihnen gemeinsam zunächst erfragen, was die Themen der Beschäftigten sind. Wir gehen als Gewerkschaft oft davon aus, dass unsere Themen auch den KollegInnen vor Ort auf den Nägeln brennen. Das trifft aber nicht immer zu. Oft sind es Kleinigkeiten, die sie belasten: Kein Raum für die Pause; zu lange Wege innerhalb des Wohnbereichs; Hilfsgeräte, die nicht funktionieren; eine Leitung, die Druck ausübt.
Es geht also zunächst darum, Kontakte zu knüpfen, mehr zu werden, Netzwerke aufzubauen und Wertschätzung erfahrbar zu machen. Wir lernen gerade viel voneinander: ver.di lernt die Besonderheiten der Altenpflege (besser) kennen und die KollegInnen vor Ort erleben, dass sie die Fachleute sind, auf die es ankommt. Das ist spannend – und manchmal auch neu für alle Beteiligten.
So verändern sich also auch die gewerkschaftlichen Kämpfe selbst?
Normalerweise organisiert eine Gewerkschaft die KollegInnen, schafft Strukturen im Betrieb und geht dann in Konfrontation mit dem Arbeitgeber. Meist geht es um mehr Gehalt und kürzere Arbeitszeit. Das Ergebnis sind Tarifverträge. Die Ziele in der Altenpflege sind im Prinzip die gleichen. Wir brauchen aber ergänzend ›neue Wege‹, um sie zu erreichen. Wenn die Beschäftigten streiken, dann bestreiken sie zwar in erster Linie ihren Arbeitgeber, aber sie ›bestreiken‹ auch die Menschen, die auf sie angewiesen sind. Das ist einerseits ein Dilemma, führt aber – zu Ende gedacht – auch aus ihm heraus: Der Kreis von Menschen, die ein Interesse an gemeinsamer Organisierung und einer Verbesserung der Arbeit in der Altenpflege haben, reicht weit über die Beschäftigten hinaus, er schließt auch BewohnerInnen und Angehörige ein. Und jede und jeder von uns ist potenziell Betroffene, kann morgen pflegebedürftig werden oder Angehörige von Pflegebedürftigen. Die Debatte um die Pflege gehört also in die Mitte der Gesellschaft. Die Pflegenden stellen die Frage nach einem würdigen Leben im Alter. Darauf gibt es zwei Antworten: Es wird von allen für alle finanziert oder alle finanzieren das Leben einiger weniger Reicher. Es gilt also, die BewohnerInnen, ihre Angehörigen und das gesamte Umfeld der Altenpflegeeinrichtungen in die Arbeitskämpfe einzubeziehen – im Zweifel auch im Bündnis mit den direkten Arbeitgebern, wenn es um die Refinanzierung sozialer Dienste durch die Verantwortlichen in den Parlamenten geht.
Die vermeintliche Schwäche der Pflege ist ihre größte Stärke: Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt. Altenpflege ist kein Kampffeld, sondern ein Lebensraum. Und so müssen auch die Organisierung und die Arbeitskämpfe aussehen. Diese versuchen wir zu entwickeln.
Das Gespräch führte Melanie Stitz. Das Interview erschien zuerst in der Zeitschrift wir frauen 1/2016