Seit dem Aufdecken des Nationalsozialistischen Untergrunds (NSU) wurden in Deutschland weitere rechtsterroristische Angriffe verübt: vom Anschlag im und am Münchner Olympia-Einkaufszentrum im Juli 2016 über den Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke im Juni 2019 bis hin zum Anschlag auf eine Hallenser Synagoge im Oktober desselben Jahres und zum Massenmord in Hanau im Februar 2020. Die Liste der Menschen, die seit 1990 Opfer rechtsextremistischer Tötungsdelikte wurden, ist aber viel länger. Journalist*innen und NGOs gehen von mindestens 182 Todesopfern rechter Gewalt aus. Allein 2019 registrierten die Verfassungsschutzbehörden 925 rechtsextremistisch motivierte Gewalttaten, 695 davon fremdenfeindlich motiviert (Bundesministerium des Inneren 2020: 25 ff.). Viele werden niemals zur Anzeige gebracht und tauchen in der polizeilichen Arbeitsstatistik gar nicht auf. Die sogenannte Dunkelziffer ist also noch viel höher, wie auch die Statistiken der Opferberatungsstellen zeigen.

Rechtsextremistische Gewalt wird von radikalisierten Individuen oder Gruppen verübt, die zwar zahlenmäßig nur einen sehr kleinen Teil der Bevölkerung ausmachen. Der Verfassungsschutz schätzt das Personenpotenzial gewaltbereiter Rechtsextremisten auf etwa 13 000 Personen (ebd.: 53). Unsere zentrale These ist jedoch, dass die Legitimation von Gewalt in einem gesellschaftlichen Umfeld stattfindet, das tief in die Mitte der Gesellschaft hineinreicht und die offene Gesellschaft und die liberale Demokratie von innen heraus bedroht. Diese Bedrohungen beginnen mit Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in Teilen der Bevölkerung und werden über Legitimationsbrücken in rechte Milieus transportiert, die in zunehmenden Maß bereit sind, Gewalt einzusetzen. Wer rechtsextreme Gewalt verhindern will, darf also nicht an den Symptomen ansetzen, sondern muss die Prozesse in den Blick nehmen, durch welche die sozialen Wurzeln der offenen Gesellschaft und der liberalen Demokratie vergiftet werden.

Ein Kontinuum der Eskalation

Für die Analyse der Hintergründe rechtsextremistischer Gewalt ziehen wir daher ein Modell heran, das wir als „konzentrisches Eskalationskontinuum“ bezeichnen (siehe Abb. 1). Es stellt verschiedene Ausschnitte des rechten Spektrums dar, die sich selbst zum Teil scharf voneinander abgrenzen, aber durch Ideologien der Ungleichwertigkeit miteinander verbunden sind. Das Modell hat Ähnlichkeit mit einer Zwiebel, deren Schichten die verschiedenen Ausprägungen des rechten Spektrums repräsentieren.

Auf der äußersten Schale des Modells werden die Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in der Bevölkerung abgebildet. Das Syndrom der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit beinhaltet unter anderem die Elemente Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus, Islamfeindlichkeit, Homophobie, Sexismus, Etabliertenvorrechte sowie die Abwertung von Obdachlosen, Behinderten und Langzeitarbeitslosen. Die nächste, schon kleinere Schale bezeichnen wir als das Milieu des autoritären Nationalradikalismus. Seinen Kern bildet die Partei Alternative für Deutschland (AfD) und deren intellektuelles Umfeld der Neuen Rechten sowie soziale Bewegungen wie PEGIDA etc. Die dritte, wiederum kleinere Schale bildet das systemfeindliche Milieu, in dem rechtsextreme Parteien, vor allem aber der bewegungsförmige Rechtextremismus einschließlich neonazistischer Kameradschaften und Gruppierungen wie die Identitäre Bewegung agieren. Die vierte, zahlenmäßig kleinere Schale umfasst das klandestine rechtsterroristische Planungs- und Unterstützungsmilieu, zu dem beispielsweise Combat 18 als militanter Arm des Blood-&-Honour-Netzwerks zählt. Schließlich bilden terroristische Vernichtungsakteure wie der NSU den Kern dieses Eskalationskontinuums.

Im Modell werden verschiedene Ausschnitte des rechten Spektrums unterschieden, es wird jedoch zugleich der Blick auf die rechten Bedrohungsallianzen als gesellschaftliches Problem gelenkt, die über die Ideologie der Ungleichwertigkeit als Kern der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit miteinander verbunden sind. Dabei nimmt die zahlenmäßige Größe der Milieus von außen nach innen ab, während die Radikalität, mit der rechtsextreme Positionen vertreten werden, und die Bereitschaft zu Gewalt steigt. Anders formuliert: Rechtsextremistische Gewalt bis hin zu Terroranschlägen wird zwar von radikalisierten Individuen oder Gruppen ausgeübt. Rechtsextremistische Gewalttaten finden aber in einem gesellschaftlichen Klima statt, das Radikalisierungsprozessen den Weg bereitet.

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ABBILDUNG 1: KONZENTRISCHES ESKALATIONSKONTINUUM

Quelle: Heitmeyer u.a. 2020: 59

Legitimationsbrücken

Die Darstellung dieser Bedrohungsallianzen lenkt den Blick auf die Verbindungen zwischen den rechten Milieus. Problematisch sind vor allem die Brücken zwischen den Schalen, über die Legitimationen von „außen“ nach „innen“ transportiert werden (siehe Abb. 2).

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ABBILDUNG 2: LEGITIMATIONSBRÜCKEN IM ESKALATIONSKONTINUUM

Quelle: Heitmeyer u.a. 2020: 67

Die Bielefelder Langzeitstudie „Deutsche Zustände“ (2002 bis 2012) sowie die Bielefelder und Leipziger “Mitte-Studien” (seit 2014) zeigen, dass Einstellungen gruppenbezogener Menschfeindlichkeit von beunruhigend großen Teilen der Bevölkerung vertreten werden. So kommt die jüngste “Mitte-Studie” zu dem Ergebnis, dass bei knapp neun Prozent der Bevölkerung Fremdenfeindlichkeit und bei gut drei Prozent Antisemitismus beobachtet werden kann (Zick u.a.: 121 ff.). Darüber hinaus zeigt sich, dass viele dieser Einstellungen nicht nur bei denjenigen verbreitet sind, die sich am rechten Rand des politischen Spektrums verorten, sondern auch bei solchen, die der gesellschaftlichen „Mitte“ zugerechnet werden.

Diese Einstellungsvorräte machen sich die Akteure des autoritären Nationalradikalismus für ihre Zwecke zunutze. Sie dienen als Rechtfertigung für ihre Feindbilder. Auch Menschen mit entsprechenden Einstellungen, die zum Beispiel nicht mit der AfD sympathisieren oder sie wählen, tragen zu diesem Legitimationsfundus bei, da sie das gesellschaftliche Klima prägen, aus dem die Partei ihre politische Legitimation zieht. Charakteristisch für dieses Politikkonzept ist die Betonung eines autoritären Gesellschaftsmodells („Law and Order“), die Überhöhung des Nationalen („Deutschland den Deutschen“) und radikale Forderungen insbesondere im Umgang mit Fremden und Andersdenkenden (z. B. die von Björn Höcke in Anlehnung an Sloterdijk geforderte „wohltemperierte Grausamkeit“ gegenüber Geflüchteten, also die konsequente Rückführung von geflüchteten Personen).

Dabei grenzt sich das autoritär nationalradikale Milieu an einer „Gewaltmembran“ (Heitmeyer 2018: 270 ff.) vom systemfeindlichen Milieu ab. Einerseits wird Gewalt als politisches Mittel offiziell abgelehnt, andererseits wird mit Begriffen wie „Umvolkung“ operiert sowie mit verschwörungsideologischen Erklärungen, die Legitimationsbrücken zu Motiven der „Tat“ bauen. So ist die Aussage Björn Höckes auf dem Kyffhäusertreffen am 23. Juni 2018, vor die Wahl gestellt „Wolf“ oder „Schaf“ zu sein, müsse man sich für die Rolle des „Wolfs“ entscheiden, ein kaum versteckter Aufruf zu Gewalt.

Bei gewaltaffinen Personen kommen diese Botschaften an. Kann Gewalt als Notwehr gegen den „Untergang des deutschen Volks“ legitimiert werden, bedarf es nur noch passender Gelegenheiten, sie anzuwenden. In der polizeilichen Kriminalstatistik werden diese Gewalttaten – sofern sie zur Anzeige gebracht werden – als „politisch motivierte Kriminalität – rechts“ registriert. Der massive Anstieg rechtsextremistischer Gewalt in den Jahren 2015 und 2016, als insbesondere die AfD öffentlichkeitswirksam gegen die Zuwanderung geflüchteter Menschen agitierte, muss als Hinweis auf einen solchen Zusammenhang gelesen werden.

Die politische Heimat dieser Akteure ist das systemfeindliche Milieu. Hier verbinden sich ganz im Sinne der Definition von Rechtsextremismus Ideologien der Ungleichwertigkeit mit der offenen Akzeptanz und Anwendung von Gewalt. Entsprechend machen etwa die Funktionäre der Partei Die Rechte keinen Hehl daraus, nach der „Machtübernahme“ politische Gegner*innen zur Rechenschaft ziehen zu wollen. Sie kündigen wenig subtil an: „Wir hängen nicht nur Plakate!“ Das erklärte Ziel ist die Abschaffung der offenen Gesellschaft und der parlamentarischen Demokratie, die politischen Mittel die verbale, mithin die physische Gewalt.

Dabei legitimieren rechtsextreme Gruppierungen die Gewalt gegen Angehörige markierter Gruppen zum einen mit ideologischen Ausgrabungen aus der Zeit des Nationalsozialismus, wenn beispielsweise Juden als Feindbild markiert werden („Wer Deutschland liebt, ist Antisemit!“). Zum anderen bedienen sie sich aus dem Milieu des autoritären Nationalradikalismus, insbesondere an (ethnopluralistischen) Konzepten intellektueller Eliten der Neuen Rechten („Jedem Volk sein Land!“). Mit Verweis auf die Mobilisierungserfolge der AfD und PEGIDA können sie behaupten, im Interesse des „deutschen Volks“ zu handeln.

Erfolge können die Akteure des systemfeindlichen Milieus bisher vor allem im ländlichen und kleinstädtischen Raum, insbesondere in Ostdeutschland erzielen, wo die gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und die Zustimmung zur AfD stark und das zivilgesellschaftliche Engagement gegen Rechtsextremismus schwach ausgeprägt sind (Heitmeyer u.a. 2020: 184 ff.). Empirisch lässt sich dies etwa an den Brandanschlägen nachzeichnen, die meist in Dörfern oder Kleinstädten verübt wurden, wo sich die Täter in einer stillschweigend wohlmeinenden sozialen Umgebung wähnten.

Die Normalisierung von Gewalt im systemfeindlichen Milieu bildet wiederum Legitimationsbrücken zur nächsten Schale, dem klandestinen rechtsterroristischen Planungs- und Unterstützungsmilieu. Es ist ausgestattet mit Vernichtungsabsichten gegenüber gesellschaftlichen Gruppen aus dem Fundus der gruppenbezogenen Menschfeindlichkeit, insbesondere jedoch gegen Juden und Muslime, weil mit ihnen die Bedrohung des „deutschen Volks“ verbunden wird, sowie Vertreter*innen des Staats, die als „Volksverräter“ markiert werden. Das Ziel ist der Systemumsturz am „Tag X“, um den vermeintlichen „Untergang des deutschen Volks“ abzuwenden. Dazu benötigt das klandestine Planungs- und Unterstützungsmilieu keine weiteren ideologischen Legitimationsbrücken, sondern liefert vielmehr „Brücken zur Tat“ in Form „erfolgreicher“ Vorbilder, strategischer Konzepte, konkreter Planungen, finanzieller und materieller Ressourcen, einschließlich der Beschaffung und Bereitstellung tödlicher Waffen. Die darin eingeschriebene Botschaft ist: „Der Krieg hat begonnen!“

Die terroristischen Vernichtungsakteure setzen schließlich mit allen persönlichen Konsequenzen Pläne zur Ermordung Angehöriger markierter Gruppen und politischer Gegner*innen in die Tat um. Legitimiert sehen sie sich selbst dabei durch eine Mischung von Ideologien der Ungleichwertigkeit, Verschwörungsideologien und Feindbildern, die sich von „innen“ nach „außen“ durch das Eskalationskontinuum bis in die Mitte der Gesellschaft zurückverfolgen lassen. Allein die Vernichtungsakteure sind verantwortlich für ihre Taten, aber jede und jeder Einzelne, die oder der Ideologien der Ungleichwertigkeit toleriert, ist verantwortlich dafür, es soweit kommen lassen zu haben. Auf diesem Hintergrund sollten die in Teilen der Bevölkerung verbreiteten Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit äußerst beunruhigen, stellen sie doch, wie gezeigt, eine ernstzunehmende „Mobilisierungsreserve“ dar.

Autoritäre Versuchungen

Was aber sind die Ursachen der Einstellungen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit auf der äußersten Schale des Analysemodells? Empirisch kann immer wieder gezeigt werden, dass diese Einstellungen in einem engen Zusammenhang mit ökonomischen, sozialen und politischen Strukturveränderungen stehen, die individuell als Verunsicherung erlebt werden. Zur näheren Erklärung sollen hier drei theoretische Zugänge exemplarisch hervorgehoben werden (Heitmeyer 2018):

Ein Ausgangspunkt ist das Konzept der „kapitalistischen Landnahme“ von Klaus Dörre (2009). Demnach dringt der autoritäre Kapitalismus nach und nach in ursprünglich nicht kapitalistisch organisierte Bereiche wie das Gesundheitswesen oder den Bildungssektor vor. In der kapitalistischen Verwertungslogik spielt es Dörre zufolge keine Rolle, ob und wie gut es einer Gesellschaft gelingt, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu integrieren. Große Teile der Bevölkerung sähen sich in ihrem Status bedroht, fühlten sich nicht mehr als gleichwertig anerkannt und hätten den Eindruck, die Kontrolle zu verlieren (ebd.).

Neben diesen Gruppen mit Statuspanik deutet sich zudem die Herausbildung einer neuen Klasse der Überflüssigen durch die anhaltende technische Umwälzung der Digitalisierung an (Heitmeyer 2018: 125). Die Unbestimmtheit der gesellschaftlichen Entwicklung, die durch die Corona-Pandemie noch verschärft wird, kann dazu führen, dass Wutpotenziale wachsen. Das führt über kurz oder lang zur Erosion des Vertrauens und zu Unzufriedenheit mit dem politischen System, da Teile der Bevölkerung das Gefühl haben, von der Politik nicht mehr wahrgenommen zu werden. Auch schwindet das Vertrauen, dass die Regierung willens und in der Lage ist, soziale Ungleichheit zu bekämpfen. Dadurch verändert sich der Blick auf das politische System, im Sinne einer Demokratieentleerung (ebd.: 177–196). Dies hat weitreichende Konsequenzen, da ein Vakuum entsteht, das darauf wartet, anderweitig gefüllt zu werden.

Ein zweiter Zugang setzt anomietheoretisch an. So geht etwa Helmut Thome unter Rückgriff auf die kapitalismuskritische “Institutional Anomy Theory” von Steven F. Messner und Richard Rosenfeld (1994) davon aus, dass ein übergriffig empfundener Kapitalismus Gefühle des Kontrollverlusts über die eigene Biografie sowie ein Normen verletzendes Verhalten befördern kann. Die engen Zusammenhänge mit gruppenbezogen-menschenfeindlichen Einstellungen sind in verschiedenen Studien wiederholt nachgewiesen worden (so z. B. bei Hüpping 2006: 86–100).

Schließlich kann als dritter Zugang auch Ulrich Bröcklings (2007) Konzept der „Ökonomisierung des Sozialen“ herangezogen werden, das sich in dem politisch propagierten Leitbild des „unternehmerischen Selbst“ manifestiert. Gemeint sind hier Bestrebungen, die Aufgaben des Wohlfahrtsstaates in die Verantwortung der Einzelnen zu verlagern. Daraus ergeben sich ökonomistische Einstellungen, die fremde oder schwache Gruppen vorrangig nach deren Nützlichkeit, Verwertbarkeit und Effizienz bewerten, was wiederum zu gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit führen kann.

So unterschiedlich die drei theoretischen Zugänge auch sind, sie alle unterstreichen die problematischen bis zerstörerischen Auswirkungen des neoliberalen Kapitalismus auf die Integrationsqualität der Gesellschaft und auf die Demokratie. Sie bilden den Kontext, in dem sich die beschriebenen autoritären Versuchungen und rechte Bedrohungsallianzen herausbilden. Sie reagieren auf den Verlust sicherheitsstiftender Koordinaten, auf sozialen Abstieg oder die Angst davor und auf Kontrollverluste (Heitmeyer u.a. 2020: 51). Zusammen mit der ohnehin bereits existierenden gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit (Hüpping 2006: 94) vergiften sie das gesellschaftliche Klima und treiben Prozesse der Polarisierung und Spaltung voran. Wahlpolitisch blieben sie so lange ohne Konsequenzen, wie es keinen politischen Ort für sie gab. Mit der autoritär-nationalradikalen AfD steht seit 2015 jedoch ein solches Angebot bereit.

Dieser Text basiert auf dem Buch Rechte Bedrohungsallianzen, das im Oktober 2020 im Suhrkamp-Verlag erschienen ist.

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