Wie ist eure Idee für ein Gesundheitskollektiv entstanden? Was war die Kritik am laufenden Versorgungssystem?
Wir sind eine Gruppe von Menschen in Gesundheits- und sozialen Berufen – u.a. ÄrztInnen, TherapeutInnen, Pflegekräfte, Pädagogen, Sozialarbeiter – aus Hamburg und Berlin, die sich seit zirka fünf Jahren für das Projekt engagieren. Der Ausgangspunkt war die Kritik an der unzureichenden ambulanten Versorgung von Menschen ohne Papiere. Das brachte einige Aktive aus dem Medibüro Hamburg dazu, sich mit weitergehenden Fragen zu beschäftigen: Wie sieht eine gute Gesundheitsversorgung für alle Menschen, unabhängig vom Versicherungsstatus aus? Wie müssen sich die gesellschaftlichen Voraussetzungen für Gesundheit verändern? Studien der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und aus dem Public Health-Bereich haben längst gezeigt, dass Lebens- und Arbeitsbedingungen langfristig entscheidender für die Gesundheit sind als die medizinische Versorgung – und das Gesundheit wesentlich mehr ist als die Abwesenheit von Krankheit.
Im herrschenden System wird das aber völlig ausgeblendet. Hier sieht man oft den Wald vor lauter Bäumen nicht. Es gibt eine starke Orientierung auf ‚Krankheit’: der Mensch wird aus seinem sozialen Zusammenhang gelöst und in Einzeldiagnosen zergliedert. Fatal ist die ökonomische und sogar profitorientierte Ausrichtung der medizinischen Versorgung. Das führt nicht nur dazu, dass beispielsweise medizinische Studien pharmafinanziert und folglich nicht unabhängig sind; auch Pflege und medizinische Behandlung werden zunehmend der Effizienzlogik und dem Ziel der Kostensenkung unterworfen. In der ambulanten Versorgung ist die Zersplitterung ein Problem: statt einer interdisziplinären Zusammenarbeit herrscht das unternehmerische Kalkül der einzelnen Fachärzte vor.
Vor diesem Hintergrund hat sich in Hamburg das Projekt Poliklinik gebildet. In enger Anlehnung an dieses Projekt haben wir vor zwei Jahren dann das Gesundheitskollektiv Berlin gegründet. Wir wollten die Gesamtheit der sozialen Determinanten der Gesundheit in den Blick nehmen und konkrete Alternativen aufzeigen.
Inwiefern lassen sich denn diese sozialen Determinanten in einem Projekt wie eurem beeinflussen?
Vorneweg: Der von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) geprägte Begriff »Soziale Determinanten der Gesundheit« ist ziemlich sperrig. Damit gemeint sind ganz einfach alle Bedingungen, in die ein Mensch hineingeboren wird und die das Leben ausmachen: die Stadt, die sozialen Netzwerke, die Kultur- Bildungsmöglichkeiten, die Arbeits- und Umweltbedingungen und die Existenzsicherheit. Entsprechend sind die sogenannten »Gesundheitschancen« bei sozial ausgegrenzten Menschen besonders niedrig. Das zu ändern, ist kompliziert: die Gesamtheit der gesellschaftlichen Strukturen lässt sich von uns nicht so einfach umkrempeln. Lokale Verhältnisse wie Verkehrsbeeinträchtigungen oder Mietsteigerungen können wir aber sehr wohl konkret aufgreifen. Hier kann die politische Arbeit im Stadtteil ein Anfang sein, um sich über die Kommune hinaus zu vernetzen und langfristig die Bedingungen für Gesundheit zu verbessern. Wir können zudem die Ressourcen der Menschen stärken, indem wir ihre sozialen Netzwerke, ihre Möglichkeiten von Selbstorganisierung und Widerstand fördern.
Und wie soll die Arbeit des Gesundheitszentrums konkret aussehen?
Unser zentrales Anliegen ist es die Menschen im Stadtteil – neben einer sehr guten medizinischen Versorgung – auch durch politische und soziale Arbeit sowie durch Beratung und partizipative Forschung zu begleiten. Die Krankenversorgung und Pflege soll sich an den Interessen der Nutzer_innen orientieren und für alle Menschen gleichermaßen zugänglich sein – unabhängig davon, ob sie privat, gesetzlich, oder nicht versichert, ob sie illegalisiert oder asylsuchend sind. Wir begreifen die Menschen als Teil ihres sozialen Netzes und ihrer Umwelt und wollen sie dementsprechend beraten.
Wichtige Impulse liefern uns gut funktionierende Gesundheitszentren in Österreich, Belgien, Kanada oder Finnland, aber auch die spendenbasierten solidarischen Kliniken in Griechenland. Wir denken, dass politische Teilhabe und Selbstorganisierung im Gesundheitswesen möglich und notwendig sind. Konkret würde das bedeuten, dass unser Zentrum ein selbstverständlicher Teil des Stadtteils ist, eine Anlaufstelle, wo die Menschen gerne hingehen: um die Rechtsberatung oder die Behandlungsangebote aufzusuchen, um sich in selbstorganisierten Gruppen zu treffen oder einfach nur Kaffee zu trinken. Die Bedürfnisse der NutzerInnen und StadtteilbewohnerInnen sind der Ausgangspunkt, um gemeinsam ihre Lebensumstände zu verbessern.
Wie soll das Zentrum intern organisiert sein: was sind Beteiligungsmöglichkeiten von PatientInnen und AnwohnerInnen?
Wie haben uns eine kollektive Struktur gegeben, um gleichberechtigt im Team zu entscheiden, ohne Chef oder Chefin. Die PatientInnen sollen sich aktiv einbringen und das Gesundheitskollektiv als Beraterin wahrnehmen, die Optionen eröffnet und Möglichkeiten darlegt. Dafür gibt es zum Beispiel regelmäßige gemeinsame Fallbesprechungen, nicht nur zu medizinischen Fragestellungen, sondern auch zu sozialen Themen. Darüber hinaus wollen wir die Menschen aus dem Stadtteil durch ein offenes Plenum einbeziehen und die Entscheidungen des Zentrums gemeinsam mit ihnen treffen. Das betrifft auch schon den Planungsprozess: Wir wünschen uns einen »bottom-up«-Prozess und wollen die Menschen in die Entwicklung des Konzepts einbinden, u.a. durch eine Sozialraumanalyse, Ideenwerkstätten und öffentliche Veranstaltungen. Sie sollen das Projekt als ihr eigenes begreifen und mitgestalten – es geht darum, das Gesundheitssystem als Gemeingut, als common, zu entwickeln. Das wird sicher nicht einfach: echte Beteiligung zu organisieren wird eine der größten Herausforderungen. Das wird nur gehen, wenn wir alle das Zentrum als Lernprozess und Lernort verstehen. Damit das gelingt, braucht es viel Zeit und selbstverständlich auch eine stabile Finanzierung.
Und wie weit seit ihr in der Planung? Wo findet ihr politisch oder finanziell Unterstützung?
Der Schritt von der Theorie zur Praxis steht sowohl in Berlin als auch in Hamburg noch bevor. Wir sind mitten in der Konzeptentwicklung, und müssen viele offene Fragen klären. Für einige Aufgaben, die die Kräfte ehrenamtlicher Arbeit deutlich übersteigen, konnten wir finanzielle Mittel von einer Stiftung einwerben und eine feste Stelle einrichten. Politisch suchen wir die Verbindung zu Gruppen im Kiez, aber auch zu wissenschaftlichen und sozialen Akteuren, die uns in diesem Prozess begleiten wollen. Das ist uns wichtig, um die weitergehenden politischen Perspektiven im Blick zu behalten.
Das wäre die nächste Frage: So ein Zentrum ist ja gewissermaßen eine Parallelwelt im bestehenden System. Unter welchen Bedingungen ließen sich solche Zentren verallgemeinern?
Es besteht theoretisch die Gefahr, dass wir zu einer kleinen ‚Insel’ im Gesundheitswesen werden. Das passiert, wenn wir mit der konkreten Arbeit so ausgelastet sind, dass wir den Blick über den eigenen Tellerrand nicht mehr schaffen. Hier wollen wir bewusst gegensteuern, indem wir uns von Anfang an als Teil eines politischen Netzwerks verstehen – als eine Art »Poliklinik-Syndikat«. Was das genau bedeuten kann, müssen wir noch weiter entwickeln. Wir sind verwurzelt in verschiedenen linken Gruppen sowie dem Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (vdää), aber auch in internationalen sozialen Bewegungen wie dem People's Health Movement. Zudem haben wir uns über die letzten Jahre ein Netzwerk mit anderen Projekten in Europa aufgebaut, die zum Teil schon seit Jahrzehnten vergleichbare Arbeit leisten. Wir denken, das sind gute Voraussetzungen, um wirkliche Veränderungen anzustoßen und Gesundheit neu zu denken: als ein Teil des guten Lebens für Alle.
Diskutiert ihr schon über konkrete Standorte? Die Auswahl des Stadtteils wird ja einen großen Einfluss darauf haben, mit welchen Menschen und Anliegen ihr zu tun habt.
Es geht uns darum, gezielt benachteiligte Stadtteile zu unterstützen. Prekäre Lebensumstände und Probleme bei der Gesundheitsversorgung sind ausschlaggebend. So wollen wir in Berlin die Standortfrage idealerweise daran ausrichten, welche Regionen laut Sozialstrukturatlas unterversorgt sind. Allerdings ist es im Moment bekanntlich sehr zermürbend, Häuser und Wohnungen in der Großstadt zu finden. So sind wir schon von Beginn an gezwungen, die Planung auch mit Themen und Aktionen rund um ein »Recht auf Stadt« zu verknüpfen. Wir wollen auf keinen Fall wie ein Ufo in einem Kiez landen und den Menschen ihre begrenzten Freiräume wegnehmen. Stattdessen wollen wir Räume und Infrastrukturen schaffen, die für alle nutzbar sind und die NachbarInnen solidarisch in ihren Kämpfen, etwa um Wohnraum, unterstützen. In Berlin wird es erfreulicherweise immer wahrscheinlicher, dass wir unser Projekt im Rollbergkiez in Neukölln starten können. Unsere Utopie nimmt also langsam Form an!
Das Gespräch führte Hannah Schurian.
Weitere Informationen zum Projekt
Schubert, Kirsten und Renia Vagkopoulou, 2015: Futuring Health Care – Gesundheitszentren als Orte gesellschaftlicher Transformation, in: Fried, Barbara/Schurian, Hannah (Hg.), UmCare – Gesundheit und Pflege neu organisieren, Rosa-Luxemburg-Stiftung Materialien 13/2015, 41-53 Website des Projekts: www.geko-berlin.de Kontaktadresse: gesundheitskollektiv-berlin@posteo.de