Die Schuldenbremse steht seit 2009 im Grundgesetz und gilt ab 1. Januar 2020 auch für die Bundesländer. Ihre Einführung wurde damit begründet, dass sonst ein unkontrollierbarer Schuldenberg für nachwachsende Generationen drohe. Bundes- und später auch Landeshaushalte wurden darauf verpflichtet, den gesellschaftlichen Wandel und Zukunftsinvestitionen aus den laufenden Einnahmen, also ohne neue Schulden, zu bestreiten. Das ist eine irre Idee.  Man stelle sich vor, im Nachkriegsdeutschland hätte man versucht, den Wiederaufbau von Straßen und Häusern lediglich aus laufenden Einnahmen und nicht über Kredite zu finanzieren. Auch in der Privatwirtschaft klingt solch eine Idee absurd: Weder ein kleiner Industriebetrieb noch die Tech-Giganten aus dem Silicon Valley könnten ihr Geschäft ohne kreditfinanzierte Investitionen zukunftsfest ausrichten. Genau das verlangt die Schuldenbremse aber vom Staat. Selbst in wirtschaftlich guten Zeiten geht die Rechnung nicht auf. So erwirtschaftete etwa das Land Berlin in den letzten beiden Jahren einen Haushaltsüberschuss von etwa 2 Milliarden Euro pro Jahr, der Investitionsstau allein bei den Schulen wird aber auf etwa 5 Milliarden Euro geschätzt. Im Bundestag war die Haltung zur Schuldenbremse bisher übersichtlich: DIE LINKE lehnte sie ab, während sich alle anderen dort vertretenen Parteien bisher zur Schuldenbremse bekannten. Die Kritik von Linken und Gewerkschaften blieb so richtig wie folgenlos. Doch derzeit kommt Bewegung in die Sache.

Investitionsstau und Negativzinsen

Anfang des Jahres stellte der Chef des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), Michael Hüther, die bestehende Regelung zur Schuldenbremse infrage und meldete Korrekturbedarf an. Statt zur Erfüllung der schwarzen Null etwa bei den Sozialausgaben zu kürzen, würde bei für den Standort Deutschland dringend benötigten Investitionen gespart. Hüther forderte daher eine »innovations- und wachstumspolitische Öffnung der Schuldenbremse« (Reeh 2019). Laut seines im März vorgestellten Papiers soll es zukünftig einen vom Rest des Bundeshaushalts getrennten Investitionshaushalt geben, der von der Schuldenbremse ausgenommen wird. Der Rest des Haushalts würde aber weiter unter den bisher geltenden Vorgaben bleiben (Hüther 2019). Langjährige Kritiker*innen der Schuldenbremse wie Gustav Horn und Katja Rietzler vom gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) können sich in ihrer Kritik bestätigt sehen. 

Diese Debatte schlug auch ins politische Berlin durch. Im Mai diskutierte die grüne Bundestagsfraktion unter anderem auf der Grundlage eines Positionspapiers von Danyal Bayaz und Anja Hajduk (2019), Haushaltspolitiker*innen und Realos, in dem mit Verweis auf den Investitionsstau eine Korrektur der Schuldenbremse gefordert wird. Sie wollen die Schuldenbremse nicht abschaffen, sondern so modifizieren, dass in bestimmten Feldern kreditfinanzierte Investitionen möglich werden. Auch in der SPD mehren sich die Stimmen für eine Reform. In der Tat sind die Zahlen dramatisch. Laut einer Studie vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) wird seit Jahren so wenig in die kommunale Infrastruktur investiert, dass nicht einmal der von den Ökonom*innen errechnete Wertverlust kompensiert wird (Gornig et al. 2015). Das Land wird auf Verschleiß gefahren. Die propagierte Generationengerechtigkeit, mit der über Schulden finanzierte Investitionen verteufelt werden, verkehrt sich so ins Gegenteil: Wir hinterlassen unseren Kindern ein marodes Land und bürden ihnen die Kosten hierfür auf. 

Und die Situation wird immer irrer. Denn die weltweite Überakkumulationskrise führt dazu, dass es riesige Mengen an Kapital gibt, das nicht weiß, wohin, und deshalb von Investor*innen gerne in als sicher geltenden Staatsanleihen geparkt wird. Für diese »Sicherheit« sind sie mittlerweile bereit, der Bundesrepublik Deutschland Geld zu Negativzinsen zu leihen. Das heißt: Die Bundesrepublik leiht sich für zehn Jahre Geld und muss am Ende der Laufzeit weniger Geld zurückzahlen, als sie sich geliehen hat. Rechnet man die Inflation mit ein, also den realen Wertverlust des Geldes, bekommt man einen noch niedrigeren Rückzahlungsbetrag. Für einen Euro, den sich die Bundesrepublik für eine Zukunftsinvestition heute leiht, muss sie in zehn Jahren nur 90 Cent zurückzahlen – sie verdient Geld, indem sie sich Geld leiht. Oder wie es der Ökonom Südekum in einem Streitgespräch in der Zeit formulierte: »Man muss sich das so vorstellen: Da liegen 50-Euro-Scheine auf dem Bürgersteig, und wir heben sie nicht auf.« (Fuest et al. 2019) Rechnerisch ist das nicht nachvollziehbar, insbesondere wenn gleichzeitig ein massiver Investitionsbedarf besteht, der selbst von Teilen des Kapitals angemahnt wird. Die derzeit vor der Tür stehende Rezession trägt nicht zur Entspannung der Lage bei. So forderte Joachim Lang, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Industrie, eine Abkehr von der schwarzen Null, um Konjunkturimpulse für die Wirtschaft setzen zu können.

Investitionsoffensive: Fünf Dinge, die die Linke jetzt starkmachen muss

Unbestritten ist, dass der Investitionsbedarf riesig ist. Das sieht selbst die Bundesregierung so. Das von Seehofer vorangetriebene Heimatministerium wurde in ersten Reaktionen wegen des ideologischen Heimat-Framings von vielen belächelt. Zieht man jedoch den ideologischen Heimat-Klimbim ab, steht dahinter die nüchterne Einsicht, dass der Bund sich stärker in der Struktur- und Regionalpolitik engagieren muss. Oder anders gesagt: Es geht nicht um Dirndl und Lederhosen für alle, sondern um Investitionen in die Fläche. Um die Bedarfe qualifiziert zu ermitteln, hatte die Bundesregierung im Sommer 2018 die Kommission »Gleichwertige Lebensverhältnisse« eingesetzt. Die Ergebnisse wurden in einen »Plan für Deutschland« überführt und im Juli 2019 vorgestellt. Dieser Plan ist aber ungenügend und umfasst nur eineinhalb der fünf Maßnahmen und Investitionsprogramme, deren Umsetzung jetzt dringend geboten ist, um den gesellschaftlichen Herausforderungen angemessen zu begegnen. Mit Blick auf die Vorschläge für eine Reform der Schuldenbremse ist es zentral, den Begriff Investition breit zu fassen. Die Linke innerhalb und außerhalb des Parlaments sollte dazu mit einer eigenen Agenda, deren Inhalt im Folgenden kurz skizziert werden soll, für die Modernisierung des Landes streiten.

1 // Investitionen in materielle Infrastrukturen

Die Themen liegen im Grunde genommen auf der Straße: Es geht um Investitionen in eine Mobilitätswende (vor allem Bus, Bahn und Fahrrad), um die Verbesserung des allgemeinen Zustands von Straßen, Brücken und öffentlichen Gebäuden, um den Breitbandausbau, um bessere Sportplätze, Krankenhäuser, Strom- und Wassernetze und so weiter, auch in weniger dicht besiedelten Gebieten. Auch der bereits erwähnte Bericht der Kommission und der Plan der Bundesregierung nennen die meisten dieser Baustellen, wenn auch weitgehend ohne Lösungsvorschläge. Zwischen Umweltverbänden, Großkonzernen und den unterschiedlichen Parteien gibt es teils erhebliche Meinungsdifferenzen darüber, in welche Bereiche wieviel investiert werden sollte. Dass in die materielle Infrastruktur des Landes investiert werden muss, ist aber unstrittig.

2 // Kommunales Austeritätsregime beenden

Die Situation ist für viele Kommunen untragbar geworden. Wie die kürzlich erschienene Studie »Die Zukunft der Regionen« vom Institut der deutschen Wirtschaft gut herausgearbeitet hat, haben die Probleme der bankrotten Kommunen so wenig mit unfähigen Kämmerern zu tun wie die Eurokrise mit den vermeintlich faulen Griechen (Hüther et al. 2019). Die Kommunen müssen einen Großteil ihrer finanziellen Mittel für vom Bundesgesetzgeber festgelegte Aufgaben ausgeben (z. B. Wohnkosten für Hartz-IV-Bezieher*innen). Um überhaupt weitere »freiwillige Leistungen« wie Schulen, Kitas und Straßen oder Spielplätze finanzieren zu können, müssen sich die Kommunen mit sogenannten Kassenkrediten über Wasser halten, häufen Schulden an und werden damit zu »Pleite-Kommunen«. Ab einem bestimmten Niveau der Verschuldung werden sie unter Haushaltskontrolle gestellt, eine Art Troika für die Kommunen. 

Die Bundesregierung erkennt mittlerweile das Problem an, hält sich aber, was die Lösungsschritte angeht, bedeckt. Der Städtetag fordert einen Schuldenschnitt. Dieser müsste sich jedoch verbinden mit einer grundlegenden Reform, mit der strukturschwache Regionen und Kommunen – unabhängig von der Himmelsrichtung – besser ausgestattet werden. DIE LINKE hat dazu verschiedene Vorschläge gemacht. Sie fordert unter anderem eine bessere Finanzausstattung der Kommunen, die Übernahme von Kosten der Grundsicherung durch den Bund sowie die Einrichtung einer Rekommunalisierungsagentur auf Bundesebene, die Gemeinden beim Rückkauf ihrer Infrastruktur unterstützen würde. Handlungsfähige Kommunen sind für eine gute soziale Infrastruktur unerlässlich – und nebenbei bemerkt auch eine Grundvoraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Die Schuldenbremse wirkt hier auch als Demokratiebremse.

3 // Investitionen in die »grüne Null«

Fridays for Future in Realpolitik übersetzen bedeutet, ein riesiges Investitionspaket aufzulegen, um die »grüne Null«, also eine Gesellschaft mit neutraler CO2-Bilanz, möglichst schnell zu erreichen. Das ermöglicht neue Allianzen gegen die Schuldenbremse. Das Argument der Generationengerechtigkeit, mit dem Konservative und Neoliberale kreditfinanzierte Investitionen blockieren, blamiert sich an der Realität: Wem nützt es, wenn die kommenden Generationen kaum Schulden auf dem Konto, dafür aber keinen bewohnbaren Planeten mehr haben? Ein Teil der notwendigen Schritte wird bereits diskutiert, auch in Regierungskreisen, wie etwa ein Ausbau der klimafreundlichen Mobilitätsinfrastruktur. Aber es geht um mehr: Gezielte staatliche Investitionen in die energetische Modernisierung von Gebäuden würden den notwendigen Klimaschutz vorantreiben und das bisherige Geschäftsmodell einiger Vermieter, solche Modernisierungen für exorbitante Mietsteigerungen zu nutzen, durchkreuzen. Ein zügiger Ausstieg aus der Kohle darf genauso wenig am Geld scheitern wie die Quersubventionierung von klimafreundlichen Technologien und entsprechender Forschung beispielsweise zur Konversion der Autoindustrie. Diese Investitionen sind auch deshalb bitter nötig und ökonomisch sinnvoll, weil damit die anstehenden gesellschaftlichen Kosten der Klimawandel-Adaption reduziert werden könnten: etwa wenn Landstriche zunehmend unbewohnbar und dadurch gegebenenfalls neue Fluchtbewegungen ausgelöst werden, die Landwirtschaft mit starken Temperatur- und Wetterschwankungen und deshalb Ernteausfällen zu kämpfen hat, die Pflege von grüner Infrastruktur in den Städten teurer und angesichts überhitzter Städte gleichzeitig wichtiger wird.

4 // Investitionen in mehr Personal

Es ist entscheidend für eine linke Perspektive, dass es beim Thema Investitionen nicht nur um Sachinvestitionen geht, sondern auch um Personal. Ziel muss ein öffentlicher Dienst sein, der den Herausforderungen der Zukunft gewachsen ist und die bereitgestellten Milliarden auch sinnvoll verplanen und ausgeben kann. Dies ist bei der gegenwärtig absolut unzureichenden Investitionshöhe schon schwierig und eines der größten Probleme. Statt genügend Stadtplaner*innen, Architekt*innen, Förster*innen und IT-Spezialist*innen auszubilden und einzustellen, wird derzeit argumentiert, dass man ohnehin nicht mehr investieren könne. Ein gefährlicher Zirkelschluss. Und es gibt natürlich auch Bereiche, in denen mehr Personal mehr Einnahmen bringt – Stichwort: Steuervollzug. Wohlstand bemisst sich nicht zuletzt am Zustand der gesellschaftlichen Bereiche, in denen es um reproduktive Tätigkeiten und Care-Arbeit geht, etwa in Krankenhäusern, Kitas, Schulen oder in der Pflege. Wer gute soziale Infrastrukturen will, braucht mehr Investitionen auch und dringlich in diesem Bereich. Und wir müssen entsprechend den Deutungskampf darüber aufnehmen, ob Investitionen in den öffentlichen Dienst auch als solche bezeichnet werden oder ob dieser Begriff nur für Breitband oder Elektrobusse gelten soll.

5 // Investitionen in den öffentlichen Sektor statt Subventionen für private Unternehmen

Eine gesellschaftliche Investitionsoffensive muss sich mit einem Pfadwechsel verbinden, damit es nicht am Ende lediglich bei staatlicher Wirtschaftsförderung bleibt: Soziale Infrastrukturen dürfen nicht vom Profitinteresse von Privaten abhängig sein. Beim Thema sozialer Wohnungsbau hat sich mittlerweile herumgesprochen, dass es ein Irrweg ist, diese Wohnungen von Privaten bauen zu lassen. Wenn öffentliches Geld fließt, sollten die Wohnungen auch der öffentlichen Hand gehören. Das ist so einfach und einleuchtend, wie es in Deutschland leider immer noch revolutionär klingt. 

Beim Thema Mobilfunk soll laut Bundesregierung geprüft werden, ob eine staatliche Infrastrukturgesellschaft gegründet wird, um Mobilfunkmasten in jenen Gegenden aufstellen zu können, in denen sich das für private Unternehmen nicht rechnet. Der Staat darf aber nicht zum »Lückenbüßer« werden, nach dem Motto: Gewinnbringende Infrastruktur überlassen wir den Privaten, der Staat springt immer dann ein, wenn es sich um ein Minusgeschäft handelt. Eine größere öffentliche Verfügungsgewalt ist auch unter demokratiepolitischer Perspektive sinnvoll. Für die Linke verbindet sich damit die Aufgabe, eine Investitionsoffensive auch mit einer Demokratisierung der verschiedenen Lebensbereiche zu verbinden, also einer partizipativen Investitionsplanung und einer demokratischen Verwaltung der für die Daseinsvorsorge notwendigen Unternehmen und Betriebe. Die Investitionsoffensive muss auch ein demokratischer Aufbruch sein: anders leben, besser leben, mehr Demokratie wagen. 

Wesentliche Zukunftsfragen lassen sich, solange wir das Austeritätsregime der Schuldenbremse nicht hinter uns lassen, nicht wirklich angehen. Durch die aktuelle Debatte ist ein Möglichkeitsfenster aufgestoßen worden. Es wird deutlich, dass die bisherige realpolitische Perspektive der LINKEN, die Schuldenbremse lediglich punktuell und trickreich in den Ländern zu umgehen, in denen sie mitregiert (siehe z. B. »Schulbauoffensive« des Berliner Senats), nicht ausreicht, um den notwendigen gesellschaftlichen Wandel auf den Weg zu bringen. Um sie in ihrer jetzigen Form zu kippen, bedarf es einer gesellschaftlichen Auseinandersetzung darum. Und das heißt: Weil der Status quo inakzeptabel ist, muss dagegen rebelliert, müssen die Regeln der Schuldenbremse außer Kraft gesetzt oder gebrochen werden. So viel ökonomische und gesellschaftspolitische Seriosität sind wir unseren Kindern schuldig.