Euer Buch widerspricht der These, dass sich unsere Gesellschaft in zwei politische Lager spaltet. Wenn das nicht so ist, warum ist die Polarisierungsthese dann so beliebt?

LINUS: Ich glaube, die Sorge vor Spaltung ist auch deshalb so groß, weil eine Reihe deutscher Leitideologien die Nicht-Spaltung insgeheim als Ideal voraussetzen. Da ist die konservative Idee von Gesellschaft als harmonischer und organischer Einheit und die liberale Fixierung auf den wohltemperierten Diskurs und das reibungslose Funktionieren der Institutionen. Beide sehen sich bedroht von Uneinigkeit und »extremen« Positionen, die sich nicht einhegen lassen. Hinzu kommt die wirkmächtige Erzählung, dass die Weimarer Republik an der Radikalität der politischen Ränder zugrunde gegangen sei. Darum erscheint Spaltung als ultimatives Schreckgespenst und macht gute Schlagzeilen. Die beliebteste Spaltungsdiagnose war zuletzt natürlich die eines neuen Kulturkampfs zwischen woken Eliten und konservativen Arbeitern, die aus den USA importiert wurde. Das ist zwar griffig, doch es hilft mit Blick auf Deutschland nicht weiter. Man muss genauer hinsehen.

Ihr untersucht die Konflikte in vier Arenen: im Feld der Migration, im Feld der Anerkennung bzw. »Identitätspolitik«, im Feld der Klimapolitik und schließlich der sozialen Ungleichheit, der Klassenfrage. Was zeigt sich dort?

Dass die Konflikte sozial nicht so schwarz-weiß strukturiert sind, wie es das Schema »progressive Mittelklasse versus konservative Arbeiterklasse« nahelegt. Tatsächlich sind die Unterschiede eher gradueller Natur und äußern sich eher darin, wie Angehörige verschiedener Klassen über politische Fragen reden. Es gibt auch in der Arbeiterklasse eine große Bandbreite der Einstellungen, selbst in Migrationsfragen, wo im Gros tatsächlich skeptische Haltungen überwiegen. Wirklich kohärente Weltbilder, in denen etwa eine progressive Haltung zur Migrationspolitik notwendig mit einer progressiven Haltung zu Genderfragen einhergeht, gibt es in allererster Linie unter den Gebildeten. Die Mehrheit hat eher inkohärentere Weltbilder und tritt relativ ad hoc an politische Einzelfragen heran. Hier sind moralische Intuitionen viel entscheidender als gefestigte Ideologien.

Eure These könnte leicht als eine Entwarnung verstanden werden: Ist doch gar nicht so schlimm mit dem Kulturkampf.

Es geht nicht um Entwarnung im Gesamtbild. Aber mit Blick auf die These eines brodelnden Kulturkampfs hilft uns eine gewisse Versachlichung, andere Handlungsmöglichkeiten zu eröffnen. Wenn ich an eine Zweiteilung der sozialen Gruppen glaube, verengt das die politischen Optionen ungemein: Will ich die Arbeiterklasse zurückgewinnen, dann muss ich gesellschaftspolitisch konservativ sein. Bin ich links, bleibe ich mit den Berliner Hipstern allein. Dieser Kurzschluss imaginiert sich gesellschaftspolitische Lager, wo eigentlich viel mehr Vielfalt ist. Es müsste stattdessen darum gehen, an welchen breiten Common Sense der Bevölkerung ich andocken kann. Und darum, welche Interessen, welche moralischen Intuitionen und welche Kritik es innerhalb der Arbeiterklasse gibt, die linke Politik für sie attraktiv machen kann. Man muss dabei ehrlich sein und auch sehen, dass Linke die Arbeiterklasse derzeit massiv verlieren. Aber Stereotype von einer rechten Arbeiterschaft, die der woken Mittelklasse gegenübersteht, naturalisieren diesen Zustand auf eine wenig hilfreiche Weise.

Im Buch sprecht ihr von einer »entideologisierten Mitte«. Was macht diese Mitte aus?

In allen vier Konfliktarenen lässt sich ein gewisser Konsens erkennen, ein Korridor des Akzeptierten. Gestritten wird dann vor allem darum, wie man den Konsens ausbuchstabiert. In der Migrationsfrage etwa macht eine große Mehrheit die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Migration und sieht Spracherwerb und Beschäftigung als Bedingungen gelungener Integration an. Konflikte gibt es dann vor allem darum, ob die Mehrheit der Migrant*innen legitime Gründe zum Migrieren hat oder ob die Mehrheit gut integriert ist. Und wenn nein, wer dafür die Schuld trägt: die Migrant*innen oder die Aufnahmegesellschaft. Ähnliches gilt bei der Anerkennung von Lebensweisen und Identitäten und dem Gut der Toleranz. Alle sollen machen, was sie wollen, da ist man sich eigentlich einig. Kontrovers sind dann die Grenzen der Toleranz und die Frage, ob Leute nur machen können, was sie wollen, solange sie leise sind und sich in eine gemeinsame Norm einfügen, oder ob sie diese Norm öffent­lich herausfordern und umwerten sollten.

Eure empirischen Daten wurden vor über einem Jahr erhoben. Gibt es nicht auch rasante Rechtsverschiebungen, etwa im Feld der Migration, die ihr überseht?

Ich sehe in diesen Wochen auch mit Sorge, wie sich der Migrationsdiskurs nach rechts verschiebt, unter anderem weil sich auch SPD und Grüne von der rechten Panikmache treiben lassen. Aber wir haben uns Längsschnittdaten der letzten 30 Jahre angeschaut und konnten auch in diesem Feld keinen allgemeinen Trend zur Polarisierung wahrnehmen. Die Haltungen zu Migrationsthemen sind insgesamt stabil geblieben, übrigens auch nach 2015, und waren immer ähnlich polarisiert. Gleichzeitig sehen wir einen Trend der Liberalisierung im Feld der Identitäten und Lebensformen, der so geradlinig verläuft, dass er vermutlich nicht ohne Weiteres umkehrbar ist. In den Klima- bzw. Umweltfragen sehen wir über die Jahrzehnte extreme Auf- und Abschwünge, aber keine grundsätzliche Polarisierung. Was tatsächlich zugenommen hat, ist die Kritik an sozialer Ungerechtigkeit, nur, dass sich das nicht in politischer Mobilisierung oder Wahlverhalten niederschlägt.

Wie sieht dieser Konsens in der Wahrnehmung sozialer Ungleichheit aus?

Konsens ist, dass die Ungleichheit zu groß ist. Auch, dass es einen Wohlfahrtsstaat braucht, der Lebensrisiken kollektiv absichert. Da sind neoliberale Ansichten nicht so tief eingesickert. Es ist aber auch Konsens, zwischen legitimen und illegitimen Empfängern von Leistungen zu unterscheiden. Die Figur des faulen Arbeitslosen ist eine starke Abgrenzungsfolie, die die Forderung nach Umverteilung untergräbt. Auch weil der Glaube an die Leistungsgerechtigkeit so stabil ist – gerade bei Beschäftigten in untergeordneten Posi­tionen, für die harte Arbeit ein Quell von Stolz und Anerkennung ist.

Ist das der Grund, warum es keine stärkere Empörung in diesem Feld gibt?

Der Grund liegt auch in der von Klaus Dörre beschriebenen »demobilisierten Klassen­gesellschaft«. Alle organisatorischen Kanäle der Ungleichheitskritik – Gewerkschaften, Sozialdemokratie, linke Parteien – haben enorm an Einfluss verloren. Darum gibt es wenig legitime Hoffnung, durch kollektives Handeln etwas rauszuholen. Es lohnt sich dann mehr, für ein eigenes Stück vom Kuchen zu kämpfen.

Ihr argumentiert, dass die Einstellungen nicht polarisiert sind und die Leute nicht ideologisch gefestigt. Warum dann das Gefühl, dass »Kulturkämpfe« heftiger werden?

Hier kommt das ins Spiel, was wir Trigger­punkte nennen. Dieser Begriff fängt eine Dynamik ein, die wir immer wieder in unseren Diskussionsrunden beobachtet haben: Bestimmte Themen sind emotional aufgeladen, die Stimmung kippt, es wird laut. Das sind Punkte, wo aus Sicht der Leute bestimmte moralische Grunderwartungen gebrochen und rote Linien überschritten werden. Etwa, wenn ihre Erwartung der Gleichbehandlung verletzt wird, sei es durch Diskriminierung, sei es durch vermeintliche »Sonderrechte« von Minderheiten, wie einen Gebetsraum für Muslime oder eine Extra-Schwimmzeit für trans*Personen. Ein weiterer Trigger ist das Gefühl des Kontrollverlusts, das in der Migrationsdebatte immer wieder aktiviert wird. Und es gibt die Wahrnehmung des Normalitätsverlusts und der wachsenden Verhaltenszumutungen: Man darf ja gar nichts mehr sagen, man darf bald nicht mehr Auto fahren, man will mir das Schnitzel wegnehmen etc. Darin steckt auch ein gefühlter Autonomieverlust. An Triggerpunkten werden Erwartungen der Egalität, Normalität, Kontrolle und Autonomie subjektiv verletzt. Dahinter stehen also keine kohärenten ideologischen Einstellungen, sondern normative Grunderwartungen, die auch Leute verinnerlicht haben, die gar nicht stark zu einem der politischen Pole tendieren.

Aber sind diese »Grenzüberschreitungen« nicht stark politisch und medial vermittelt, um nicht zu sagen produziert?

Absolut. Aber von Leuten, die genau wissen, wie die Leute ticken, die sie triggern wollen. Ich würde hier auf den Begriff der moralischen Ökonomie verweisen: Der marxistische Historiker E. P. Thompson hat am Beispiel der Brotaufstände, den frühen Vorläufern der Arbeiterbewegung, gezeigt, dass es jenseits eines politischen Klassenbewusstseins ein feines Gefühl dafür gab, wo die Herrschenden zu weit gingen. Die frühen Sozialisten, aber auch andere Akteure haben diese spontane Empörung politisch nutzbar gemacht. Damit will ich sagen: Triggerpunkte sind nicht an sich reaktionär oder konservativ, sie sind einfach Teil einer moralischen Tiefenstruktur. Und die kann politisch angesteuert und nutzbar gemacht werden. Im Moment gelingt das vor allem den Rechten.

Ein Befund eurer Studie ist, dass Menschen, die prekär leben, in höherem Maße wütend und frustriert sind. Sind sie stärker »triggerbar«?

Auch sehr privilegierte Menschen erweisen sich als äußerst erregbar. Ich würde eher sagen: Je weniger gefestigt die politischen Urteile sind, desto stärker fallen die Trigger ins Gewicht: Wer demobilisiert ist, erlebt Politik nur als Spiel der Trigger. Man lässt sich dann hier und da empören, winkt aber insgesamt dankend ab, weil das ganze Gerede einen nervt. Erst recht, wenn man sich als wenig handlungsmächtig erlebt, also das Gefühl hat, man werde eh nicht gefragt. Demobilisierung und Triggerdynamik gehen so Hand in Hand, vor allem in der unteren Hälfte der Bevölkerung. Interessant ist das, was wir »Veränderungserschöpfung« nennen, also die Zustimmung zu der Aussage »Es ändert sich so viel, da ist es schwer, den Anschluss zu behalten«. Dem stimmen insgesamt 44 Prozent zu, von den Arbeiter*innen rund 75 Prozent. Diese Leute nehmen in ihrem Alltag viel hin und erleben dann jede Veränderung als weitere Zumutung.

Die Rechte verspricht ihnen erfolgreich die Rückkehr zur »Normalität«. Wie erreiche ich diese Menschen von links?

Zuerst muss man sich wohl klarmachen, dass das sehr schwierig ist. Die Linke erlebt im Moment nicht einfach eine konjunkturelle Schwäche, sondern viele ihrer politischen Kanäle in die Arbeiterklasse sind kaputt. Darum muss es um einen längerfristigen Wiederaufbau linker Organisationen gehen, unter extrem schwierigen Bedingungen. Anton Jäger hat das in seinem Buch »Hyperpolitik« gut beschrieben: Warum zu einem politischen Treffen gehen, wenn ich bei Netflix alles habe, was ich brauche? Individualisierung und Entsolidarisierung machen die Organisierung schwer. Und doch zeigen uns Streiks der letzten Zeit, dass es ganz schnell gehen kann, wenn eklatante Verstöße gegen das Gerechtigkeitsempfinden mit der Hoffnung auf kollektive Handlungsmacht zusammentreffen.

Damit sich Empörung in Kritik oder gar kollektives Handeln verwandelt, braucht es politische Arbeit der Ansprache, der Übersetzung. Wie muss die aussehen?

Zuallererst muss man begreifen, dass man es in der Gesellschaft ganz überwiegend nicht mit Ideolog*innen zu tun hat, weder rechten noch linken. Zu einfache Freund-Feind-Schemata versagen also vor der Realität. Der US-amerikanische Autor Jedediah Purdy hat mal sehr treffend formuliert, es gehe nicht nur um das »Fight for someone you don’t know!«, sondern auch um das »Fight for someone you do know and don’t like!«. Menschen, die ganz anders sind als ich, sind trotzdem Adressat*innen meiner Politik – weil wir gemeinsame Interessen haben.

Aber wie genau gelingt eine solche ­Ansprache?

Sicherlich auch, indem man eigene Triggerpunkte setzt und am moralischen Common Sense der Menschen, etwa ihrer Empörung über soziale Ungleichheit, andockt. Dieser Common Sense zeigt sich erstmal negativ: mit dem Ausruf »Das kann doch nicht sein!«. Die Skandalisierung ist der Eintrittspunkt– nehmen wir den SPÖ-Vorsitzenden Andi Babler, der sich empört, dass arme Kinder kein Schulessen bekommen. Daran muss eine Vision anschließen, wie es anders gehen könnte. Und dann ist entscheidend, die Gegner zu benennen, die dem im Wege stehen, und gegen die man sich als gesamte Gesellschaft, über alle Differenzen hinweg zusammenschließen muss. Das klingt in manchen Ohren populistisch: die Gegner als Gruppen und nicht als abstrakte Verhältnisse zu benennen und auf moralische Empörung zu setzen. Grundsätzlich ist das aber der Inhalt jeder wirksamen Politik.

Was bedeutet denn »auf Mehrheiten zielen«? Sich nur an Umfragewerten orientieren?

Es heißt, die moralischen Grunderwartungen der Leute und ihre Interessen im Blick zu haben. Das ist nicht nur eine programmatische Frage, sondern eine habituelle, eine Kommunikationsfrage. Mit welchen Angeboten hole ich die Leute hinter dem Ofen hervor? Linke Politik entsteht oft, indem Aktivist*innen im Austausch mit anderen Aktivist*innen eine Programmatik entwickeln, die in ihren Ohren toll und inspirierend klingt, aber in der breiten Bevölkerung ohne jede Resonanz bleibt. Für dieses Problem muss man sensibilisiert sein und gegensteuern. Das heißt auch, ganz strategisch Forschung zu betreiben, die eigenen Botschaften auszutesten – in Haustürgesprächen, aber auch Framing-Studien oder Fokusgruppen.

Nehmen wir die Klimapolitik. Du hast den Wunsch nach Normalität und die »Veränderungserschöpfung« benannt. Gleichzeitig stellt die Klimakrise unsere Lebensweise radikal infrage. Wie addressiert man das?

Die Frage ist, was ich öffentlich nach vorn stelle. Das sollte nicht ein Ende des Wachstums sein, sondern ein Projekt des sozialen Fortschritts, das Sicherheit schafft, etwa durch Arbeitsplatzgarantien und durch Infrastrukturen, die Teilhabe sichern und den Leuten die Angst nehmen. In unseren Befragungen äußert eine Mehrheit sehr wohl ein gewisses Umweltbewusstsein, viele Arbeiter*innen empfinden aber die eher auf Konsum und Lebensstilfragen ausgerichtete »Ökologie der Mittelschicht« als bevormundend und moralisierend. Dem ließe sich eine Ökologie der Arbeiterklasse gegenüberstellen, wo der Verteilungskampf um die Ressourcennutzung im Zentrum steht. Mit einer klaren Frontstellung gegen das obere eine Prozent, das auf Kosten unserer Zukunft seine Privilegien sichert.

Muss die gesellschaftliche Linke nicht auch andere Vorstellungen entwickeln als die »Normalität« und »Sicherheit« im Bestehenden – und für eine andere Zukunft werben?

Dieses Präfigurative – Teil der Zukunft zu sein, die man vorwegnimmt – ist ein wichtiger Aspekt politischer Bewegungen, ich sehe es aber weniger als Aufgabe einer Partei, die mehrheitsfähig sein muss. Nehmen wir Bernie Sanders. Die meisten Menschen wussten: Der ist gegen die Reichen und für die einfachen Leute, und er will Medicare for all. Dass er auch Marihuana legalisieren wollte und eine progressive Migrationspolitik hatte, war politisch durchaus wichtig, aber der Mehrheit nicht präsent. Bei der LINKEN scheint aktuell nicht ausreichend deutlich, mit welcher einen Botschaft sie assoziiert werden will. Es gibt viele bunte Forderungen, aber es ist unklar, wofür sie steht, außer für das Linkssein an sich. Darum wird sie vor allem von Menschen gewählt, die ideologisch gefestigt links sind. Und das sind zu wenige. Umgekehrt liegt hier das Potenzial: Da draußen sind viele Leute mit noch relativ desorganisierten Weltbildern, aber starker Kritik an den alltäglichen Ungerechtigkeiten. Die kann man mit klaren Botschaften überzeugen.

Besteht hier nicht auch die Gefahr eines paternalistischen Verhältnisses zu den »einfachen Leuten«?

Nein, es ist nur die Einsicht, dass für die Mehrheit der Leute Politik kein Hobby ist, dem man in der Freizeit nachgeht und für das eigene Team fiebert. Sondern dass die meisten mit Politik nichts am Hut haben wollen, sich aber wünschen, dass man sich um ihre Probleme kümmert. Es ist natürlich wichtig zu betonen, dass kein großer Führer das für sie erledigen soll, sondern sich nur dann was bewegt, wenn viele zusammen an einem Strang ziehen. Aber man muss dafür nicht zur Aktivistin werden. Das – korrekte – Bauchgefühl, dass die Dinge ungerecht sind, sollte genügen, um an Bord zu sein.

 

Das Gespräch führte Hannah Schurian.