15. März 2017. Die Niederlanden haben gewählt. Während der befürchtete Durchmarsch der Rechtspopulisten ausblieb, waren die großen Verlierer der Wahl die Sozialdemokraten, die von 25% auf nur noch 5,7% der Stimmen abstürzten. Die sozialistische SP, die leicht von 9,65% auf 9,2% absackten, konnte nicht vom diesem Erdrutsch profitieren. Trotzdem war diese Wahl ein kleiner Erfolg für die SP, die schon im Wahlkampf durch eine große gesundheitspolitische Kampagne einen Paradigmenwechsel in der Debatte sorgte. Unter den Beschäftigten des Gesundheitswesen baute sich die SP über viele Jahre hin eine stabile Basis auf. Wie konnte das gelingen?
»Es muss anders laufen«, sagte Ron Meyer, der frisch gewählte Vorsitzende der Sozialistischen Partei der Niederlande (SP) in seiner Antrittsrede Ende 2015. „Nicht ein bisschen anders, sondern völlig anders.“ Die Wahl Meyers, der als Campaigner für die Gewerkschaftsföderation FNV erfolgreich Jugendliche für einen höheren Mindestlohn organisiert hatte, markierte den Startschuss für eine kämpferische Kampagne der SP zum Thema Gesundheitssystem. Unter dem Namen „Nationaal ZorgFonds“ (Nationaler Gesundheitsfonds) lancierte die SP ein halbes Jahr nach dieser Rede eine Initiative, die auch außerhalb der Niederlande Aufmerksamkeit verdient. Eine Viertelmillion UnterstützerInnen, verschiedene Parteien, Gewerkschaften und Bewegungsorganisationen unterzeichneten einen Aufruf zur Deprivatisierung der Krankenkassen und der Übernahme aller Kosten medizinischer Versorgung durch einen staatlichen Gesundheitsdienst. 10 000 DemonstrantInnen gingen Mitte Februar in der Hauptstadt Den Haag für die Einführung des Gesundheitsfonds auf die Straße. Auch innerhalb der sozialdemokratischen PvdA und in der größten Gewerkschaftsföderation des Landes, dem FNV, hat die Zorgfonds-Kampagne Debatten ausgelöst. Die Tierschutzpartei PvdD, die Seniorenpartei 50 Plus und die Piratenpartei haben sich hinter die Kampagnenforderungen gestellt.
Der Kampagne für einen Nationalen Gesundheitsfonds liegt eine jahrelange Vorarbeit zu Grunde. 2014 beschloss der Parteirat der SP einen Strategiewechsel. Zuvor hatte die Partei, die über etwa 10 Prozent der Sitze in beiden Kammern des Parlaments verfügt, zu einer Vielzahl von Themen kleinere Kampagnen mit begrenztem Medienecho geführt. Nun sollte es nur noch eine einzige, große und landesweite Kampagne landesweit geben. Die Analyse lautete: Wir müssen Auseinandersetzungen führen, die wir gewinnen können. Statt Abwehrkämpfe gegen neoliberale Reformen zu führen, sollte offensiv für Verbesserungen gekämpft werden um die Dominanz der neoliberalen Denkweise aufzubrechen.
Die Kampagne zum Gesundheitswesen passt genau in dieses Schema. Gesundheit ist ein Thema, von dem ein großer Teil der Bevölkerung persönlich betroffen ist. Eine Umfrage von nu.nl, der wichtigsten Nachrichtenwebseite der Niederlanden, ergab 2016, dass 63 Prozent der Befragten Gesundheitsvorsorge als wichtigstes Wahlkampfthema sahen, noch vor dem Thema Migration, auf das vor allem die rechtspopulistische PVV im Wahlkampf setzte. Zudem haben sowohl die SP als auch die Gewerkschaftsföderation FNV Erfahrungen mit Aktionen im Gesundheitsbereich. Lilian Marijnissen, die bei den Parlamentswahlen 2017 auf Listenplatz drei der SP stand, leitete die erste kämpferische Gewerkschaftskampagne des FNVs, nachdem der Gesundheitssektor in den 2000er Jahren umstrukturiert wurde. Heute ist der Gesundheitssektor einer der am stärksten neoliberalisierten Staatssektoren der Niederlanden – aber seine Umstrukturierung liegt erst zehn Jahre zurück. Durch die kollektive Erinnerung an das alte System ist eine Deprivatisierung für die Bevölkerung noch vorstellbar.
Das Gesundheitswesen der Niederlanden: Totalprivatisierung, Versicherungsoligarchie und Ausbeutung
Ab den 1980er Jahren etablierte sich in den Niederlanden die Ansicht , dass die Konkurrenz privater Krankenversicherungen den Gesundheitsbereich am besten reguliere. Eine konservativ geführte Regierung unter dem Premierminister Jan Peter Balkenende privatisierte 2006 die zuvor halbstaatliche Gesundheitsversorgung. Den Versicherungsgesellschaften wurde erlaubt, Profite zu erwirtschaften. Die Reformen führten zu einer Fusionswelle auf dem Versicherungsmarkt; mittlerweile werden 90 Prozent des Marktes von vier großen Unternehmen beherrscht. Gleichzeitig sind die Kosten für Privatpersonen enorm gestiegen. Ein Sockelbetrag für Eingriffe, Medikamente und ähnliches muss von den Patienten selbst getragen werden, dieses sogenannte „Eigene Risiko“ ist von 150 auf mittlerweile 385 Euro gestiegen. Anstatt diese Einnahmen zu nutzen, um ihre Angebote zu verbessern, machen die Krankenkassen Milliardengewinne;2014 beliefen die sich beispielsweise auf 1,9 Milliarden Euro.
Der bürokratische Aufwand hat durch die Reformen nicht abgenommen: Jeder Pflegeanbieter muss Verträge mit mehreren Versicherungsgesellschaften abschließen. Dies zeigt sich im Overhead, der Führungsetage der niederländischen Krankenhäuser. Dieser ist im Schnitt vier Prozent größer als bei Krankenhäusern in Großbritannien oder Kanada. Krankenhäuser und sogenannte Pflegeanbieter dürfen seit den Reformen Gewinn erwirtschaften und konkurrieren untereinander um Verträge mit den Krankenversicherungen, was die Verhandlungsposition der Kassen verbessert. KritikerInnen der Gesundheitsreform weisen auf die Gefahr hin, dass Krankenhäuser aufgrund der Konkurrenz dazu tendieren, medizinische Fehler systematisch zu verharmlosen, anstatt gemeinsam an Qualitätsverbesserungen zu arbeiten, weil sie Imageschäden fürchten. Außerdem entsteht eine Zweiklassenmedizin: Die Krankenkassen dürfen 'Pakete' mit unterschiedlichem Leistungsspektrum anbieten, ein günstigeres Basispaket und teurere Pakete, die Zusatzleistungen enthalten. Zusätzlich dürfen Krankenkassen den Versicherten die Möglichkeit anbieten, ihren Selbstkostenbeitrag auf bis zu 885 Euro zu erhöhen und dafür geringere monatliche Beiträge zu zahlen, was besonders für Menschen mit niedrigen Einkommen verlockend ist.
Die Arbeitsbedingungen im Gesundheitsbereich verschlechterten sich durch die Reformen drastisch. Erstens werden die Leistungen, die von den Kassen vergütet werden, in einer detaillierten Beschreibung der Behandlungsschritte für die jeweilige Krankheit, der sogenannten Diagnose Behandel Combinatie, festgelegt, dessen Vergütung zwischen Krankenversicherungen und Krankenhäusern ausgehandelt wird. Dadurch haben der Verwaltungsaufwand und der Zeitdruck beim Pflegepersonal stark zugenommen, weil jede Handlung dokumentiert und in einer bestimmten Zeitspanne erbracht werden muss. Zweitens weigerten sich die Krankenversicherungen, Tätigkeiten zu bezahlen, die nicht explizit medizinisch sind. Im Bereich der Altenpflege zum Beispiel bedeutet das, dass die AltenpflegerInnen die Reinigung der Häuser oder Einkäufe nicht mehr vergütet bekommen. Für diese Tätigkeiten, die vorher von ausgebildeten Pflegekräften durchgeführt wurden, werden jetzt oft Ungelernte, StudentInnen oder LeiharbeiterInnen eingesetzt. Aus diesem Grund sind viele Pflegeeinrichtungen sind Pleite gegangen. Die entlassenen Fachkräfte wurden von neu gegründeten Betrieben angestellt, aber zu wesentlich schlechteren Konditionen und niedrigeren Löhnen. Diese flächendeckende Unterhöhlung von Arbeitsstandards alarmierte die Gewerkschaftsföderation FNV, die für die SP ein wichtiger Bündnispartner ist. Seitens des FNVs besteht kein Zweifel daran, dass die niedrigen Löhne eine direkte Folge der Privatisierung sind, weswegen sie nicht nur Lohnerhöhungen, sondern auch eine Systemänderung im Gesundheitswesen fordert.
Organizing und Campaigning
Seit ihrer Gründung in den 1970er Jahren, zunächst als maoistische Kleingruppe, spielt das Thema Gesundheitsversorgung für die SP eine große Rolle – einige Abgeordnete im Parlament sind ÄrztInnen oder GesundheitswissenschaftlerInnen, und die SP hat verhältnismäßig viele AnhängerInnen und WählerInnen aus diesem Sektor. Als sich Anfang der 2000er Jahre die neoliberalen Reformen abzeichneten, formierte sich eine Gegenbewegung aus ÄrzteInnen, ApothekerInnen, PhysiotherapeutInnen und Beschäftigten, die Aktionskomitees bildeten, unter dem Slogan: „Zorg voor iedereen“, medizinische Versorgung für alle. Diese Komitees versuchten etwa die Schließung von Krankenhäusern zu verhindern. Die SP, die sich zu einer modernen linken Partei gewandelt hatte und mitlerweile in die Parlamente eingezogen war, unterstützte diese Kampagne und legte den Grundstein für eine langfristige Zusammenarbeit. Beim Versuch, die Einführung des neuen Gesundheitsgesetzes zu verhindern, entstand 2004 auf Initiative der SP die Kampagne Zorg geen Maarkt (Gesundheit ist kein Markt), die innerhalb von wenigen Jahren 13 000 UnterstützerInnen aus allen Bereichen der Gesundheitsversorgung fand. Mit dem Aktionsbündnis wurden Demonstrationen organisiert, Symposien gehalten, Studien erstellt und Bücher publiziert. Das Bündnis wurde von sehr verschiedenen Gruppen von Beschäftigten getragen. Neben Alten- und KrankenpflegerInnen konnten auch PsychotherapeutInnen, ÄrztInnen und ApothekerInnen angesprochen und langfristig an die Partei gebunden werden.
Nach den Marktreformen im Gesundheitswesen konzentrierte sich die SP zunächst auf den Bereich der ambulanten Pflege, in dem sich die Arbeitsbedingungen sich am dramatischsten verschlechtert hatten. Mit PflegerInnen und Gewerkschaften startete sie 2007 die Kampagne ‘Stop Uitverkoop Thuiszorg’ (Stoppt den Ausverkauf der ambulanten Pflege). Beispielhaft für die erfolgreiche Öffentlichkeitsarbeit aus dieser Zeit ist ein TV-Spot, mit dem die SP auf Missstände in diesem Bereich aufmerksam machte.[1] Der Videoclip zeigt eine alte Dame mit Gehhilfe, die sich langsam vor der Kamera auszieht. Sie sagt: „Jahrelang hat mir Conny beim Waschen geholfen. Aber Conny ist zu teuer, sagen sie. Also kommt jetzt ein Fremder. Und danach wieder ein anderer Fremder. Ich kann mich genau so gut vor den ganzen Niederlanden ausziehen.“ Durch den Tabubruch der Nacktheit kam dem Fernsehspot große Aufmerksamkeit zu, 2008 gewann er den Preis „Gouden Loeki“ für den besten Reklamespot/Werbeclip des Jahres. Die SP nutzte die Medienaufmerksamkeit, um drei Initiativgesetze zur Verbesserung der Altenpflege durchs Parlament zu bringen.