Lange Zeit galten in Ostdeutschland die Großwohnsiedlungen – umgangssprachlich Plattenbau-Gebiete – als rote Hochburgen. Vormals die PDS und später die LINKE konnten hier nach 1989 vielerorts überdurchschnittliche Wahlergebnisse erzielen. Das schafften sie vor allem, in dem sie im Milieu einer DDR-Funktions- und Arbeiter*innenelite Stammwähler*innenschaft aufbauten, verbreiteter Unzufriedenheit ein Ventil boten und bei den Alltagsproblemen der Menschen Präsenz zeigten. Trotz teils widersprüchlicher Einstellungsmuster bei den Wähler*innen, fortschreitender Segregation zwischen der „Platte“ und anderen Stadtteilen sowie rechter Dominanz in manchen Straßenzügen hatte das System meist funktioniert.

Doch diese Zeiten sind vorbei. Längst hat sich die AfD als neue ostdeutsche „Protestpartei“ etabliert, die gesellschaftlichen Zusammensetzung der Plattenbau-Viertel deutlich verändert und auch bundesweite Polittrends haben alte Gewissheiten erschüttert. Exemplarisch steht dafür das Ergebnis der LINKE-Bundestagsabgeordneten Petra Pau: Fast 20 Jahre lang konnte sie das Direkt-Mandat im Berliner Stadtbezirk Marzahn-Hellersdorf gewinnen. 2021 jedoch wurde sie vom CDU-Konkurrenten Mario Czaja geschlagen. Auch in anderen Plattenbauvierteln waren zuletzt ähnliche Tendenzen zu sehen.

Die LINKE scheint mit ihrer Plattenbau-Strategie vielerorts an Grenzen zu stoßen. Gleichzeitig gibt es weiterhin kaum linke außerparlamentarische Initiativen, die sich längerfristig in Neubau-Gebieten engagieren. Projekte wie etwa das Solidaritätsnetzwerk „SoLeRo – Solidarisch leben Rostock“ sind meist vereinzelt oder nur temporär. Explizite Organizing-Ansätze wie die Sammlung von Unterschriften 2021 unter anderem in Berlin-Marzahn durch die Kampagne „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ bleiben die Ausnahme. Alle progressiven Akteur*innen in der Platte stehen so vor großen Herausforderungen.

Doch wie haben sich die Rahmenbedingungen in ostdeutschen Plattenbauvierteln genau geändert? Wo finden sich innovative Ansätze? Und was wären Voraussetzungen für eine nachhaltige linke Politik und die Aktivierung der Bewohner*innen? Eine Spurensuche.

Leipzig-Grünau

Der Leipziger Stadtteil Grünau hatte seit den 1990er Jahren rund 50 Prozent seiner Einwohner*innen verloren, im vergangenen Jahrzehnt jedoch wieder etwa 10 000 Menschen dazugewonnen – zum Großteil waren dies prekär Verdrängte aus anderen Stadtvierteln und Menschen ohne deutschen Pass, die in anderen Teilen Leipzigs keine Wohnung mehr bekommen konnten. Die LINKE ist mit dem Bundestagsabgeordneten Sören Pellmann relativ stark vor Ort verankert, die AfD hat zugleich 2017 bei der Bundestagswahl in einigen Plattenbauzügen deutlich über 30 Prozent der Stimmen gewonnen, zuletzt konnte die SPD Boden gut machen.

„Linke Politik in Grünau steht aktuell wesentlich vor der Herausforderung, die eigene Zielgruppe neu zu bestimmen“, sagt vor diesem Hintergrund der Stadtforscher Paul Zschocke. Zschocke forscht am Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung in Frankfurt am Main zur Veränderung politischer Einstellungen durch Stadtentwicklungsprozesse und engagiert sich im Verein Engagierte Wissenschaft, der die Publikation „Leipziger Zustände“ herausgibt. Der Knackpunkt: Viele der neuen Bewohner*innen seien nicht stimmberechtigt und daher für die Parteipolitik im engeren Sinne „offenbar weniger interessant“.

Die Zugezogenen träfen zugleich rassistische Anfeindungen, in denen sich aber auch Unzufriedenheit mit der städtischen Entwicklung ausdrücke. „Dies umfasst zum Beispiel den Verlust von zentralen Infrastrukturen und die wahrgenommene Konkurrenz um diese, die schlechte Verwaltung von Wohnraum oder die Bewirtschaftung von Wohnraum zum reinen Profitinteresse“, sagt Zschocke. Häufig könnten die alteingesessenen Bewohner*innen nur im „Sprechen über Ausländer*innen“ diese Probleme artikulieren, weil linke Politikmaßnahmen in diesen Feldern „schon seit zwei Jahrzehnten an neoliberalen Prinzipien gescheitert“ seien.

Das Milieu der „Alteingesessenen“ – oftmals eher links-sozialdemokratische Wähler*innen – empfinde gleichzeitig die durch Gentrifizierung angetriebene Veränderung der Stadtteilzusammensetzung als „Kontrollverlust“ und rufe daher nach „Ordnung, Sicherheit und Überschaubarkeit der Verhältnisse“, – was nicht selten auch auf rassistische Weise artikuliert werde. „Ein Ansatz könnte sein, bestehende Abgrenzungen innerhalb der Bewohner*innen zu überwinden und Politik entlang von Problemen in ihrer sozialen Dimension oder der Stadtentwicklung zu machen, unabhängig vom Pass- und Aufenthaltsstatus“, so Zschocke. Zudem sollte laut dem Forscher die Politik eher dazu aktivieren, eigene Interessen zu vertreten als Forderungen an „professionelle Politikmanager*innen“ zu delegieren. „Gebraucht würde eine Partei der sozialen Bewegung anstatt einer Partei, die zuerst auf ihre Klientel schaut.“

Insgesamt stehe für Zschocke linke Politik in Großwohnsiedlungen wie Grünau vor der Herausforderung, historisch gewachsene Ressentiments gegenüber „den Anderen“ zu überwinden – „auch in den eigenen Reihen“. Dies benötige auch eine neue Ansprache. „Manche Politiker*innen wollen am liebsten gar nicht über Menschen mit internationaler Geschichte sprechen – oder sie bleiben bei ihnen nur Objekte von Problembeschreibung.“ Viel zu oft sehne man sich dazu auch in linken Ansprachen in „sichere Zeiten zurück, die Halt und Orientierung“ geboten hätten. „In unserer Forschung nennen wir diese Reaktionsmuster regressive Politisierung – und das gibt es auch von Links“, so Zschocke.

Abseits von Parteienpolitik sind es derzeit vor allem öffentlich geförderte Projekte der Jugendarbeit, die progressive Ansätze in Grünau umsetzen. Das soziokulturelle Zentrum „Heizhaus“ etwa bietet pädagogische und sportliche Angebote; das Projekt „Perspectives Leipzig“ setzt sich für Migrant*innen ein; „Greater Form“ will Jugendliche bei Reflexionsprozessen unterstützen. Von etwa 2007 bis 2009 gab es dazu den Versuch, das autonome Jugendzentrum „Bunte Platte“ zu etablieren, doch aufgrund von permanenter Nazigewalt, Zerwürfnissen und dem Wegzug von Jugendlichen scheiterte das Projekt.

„Explizit solidarische und auf Nachbarschaftspolitik gerichtete Initiativen sind mir darüber hinaus nicht bekannt“, so Zschocke. Vermutlich seien das „Wissen und kulturelle Kapital“ für eine solche Form der Politik im Stadtteil wenig vorhanden. „Was nicht heißt, dass ein Versuch scheitern würde“, betont der Forscher. Die vor Ort gut ausgestattete soziale Arbeit könne diese Lücke aber nicht füllen. „Die soziale Arbeit ist in Grünau fachlich oft gut und zunehmend auch sensibel gegenüber den unterschiedlichen Hintergründen der Bewohner*innen – sie ist aber zumeist nicht politisierend und zielt nicht auf kollektive Interessenselbstvertretung.“

Chemnitz, Fritz-Heckert-Gebiet

Das Fritz-Heckert-Gebiet war einst – wie ebenfalls die anderen Ost-Neubaugebiete aufgrund der vergleichsweise guten Ausstattung – eines der beliebtesten Wohnquartiere im ehemaligen Karl-Marx-Stadt. Auch hier kam es dann ab Mitte der 1990er Jahre zu einem massiven Einbruch der Bevölkerungszahl, die sich erst Mitte der 2000er Jahre wieder etwas stabilisieren konnte. Die LINKE hatte bei den mittlerweile anders benannten Orten bei der Bundestagswahl 2021 Zweitstimmenanteile von 11 bis 14 Prozent, die AfD erreichte zwischen 21 und 27 Prozent. Generell scheinen die Ausgangsbedingungen für linke Politik hier schlechter als etwa in Leipzig-Grünau zu sein.

Öffentlich bekannter wurde das Stadtviertel durch die Aktivitäten der rechten Terrorvereinigung NSU. „Der NSU und sein weitverzweigtes Unterstützer*innenumfeld fand im Fritz-Heckert-Gebiet ideale Bedingungen nicht nur zum Untertauchen, sondern ebenso zum offenen Ausleben neonazistischer Aktivitäten“, sagt Dominik Intelmann, der an der Goethe-Universität Frankfurt am Main am Institut für Humangeographie zu lokalen Entstehungsbedingungen politischer Hegemonien am Beispiel von Chemnitz forscht und kritische Stadtrundgänge im Fritz-Heckert-Gebiet organisiert. „Die Bedingung dafür war – verursacht durch die Implosion des Realsozialismus – ein gesellschaftliches Vakuum, in dem sich fortan nur noch alle um ihre ‚eigenen Probleme‘ kümmerten“, so der Forscher. Viele Anwohner*innen hätten sich in diesem Zug aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen, Gefühle von Verbitterung und die Wahrnehmung eines fortlaufenden Niedergangs sich verbreitet. „Jugendliche, die danach hier aufgewachsen sind, haben das Fritz-Heckert-Gebiet dann nur noch als ‚Schlafstadt‘ wahrgenommen“, so Intelmann – ein Ort, wo man übernachtet, aber nicht lebt.

Doch welche Perspektiven zeigen sich? Auch der Humangeograph betont die Möglichkeiten, die sich durch den Zuzug neuer Bevölkerungsgruppen ergeben. „Seit 2015 kommen Menschen in das Viertel, die das gesellschaftliche Trauma der Nachwendejahre nicht erlebt haben und die gesellschaftliche Stigmatisierung des Plattenbaugebietes noch nicht kennen“, sagt Intelmann. Dies könne auch von Vorteil sein. „Im besten Fall nehmen sie sich die Freiheit, das Viertel anders zu bewerten und sich den öffentlichen Raum unbeschwerter anzueignen.“ Dies könne dann vielleicht ein „Türöffner“ sein, damit auch andere Anwohner*innengruppen dies ebenso tun. Die Menschen, die neu in das Viertel kommen, müssten aber auch unterstützt werden, damit sie nach einigen Jahren nicht wieder gehen.

Grundsätzlich verweist Intelmann auf die Bedeutung von öffentlichen Räumen für einen Wandel: „Damit sich eine lokale progressive politische Kultur herausbilden kann und diese dann auch weitergegeben wird, braucht es Räume – an diesen mangelt es im Fritz-Heckert-Gebiet stark.“ Schutzräume und gesellschaftliche Nischen seien jedoch eine Grundvoraussetzung, um Engagement im und Identität mit dem Viertel zu schaffen. „Im Fritz-Heckert-Gebiet weichen viele Menschen für ihr soziales Leben in die Innenstadt aus und eignen sich dort die Räume an – oder sie ziehen um“, so der Forscher. Positive Beispiele gebe es trotzdem immer wieder vereinzelt: Der Leiter des lokalen Einkaufcenters „Vita-Center“ habe etwa während der Corona-Pandemie Jugendlichen einen Raum zur freien Verfügung gestellt. Andere Jugendlichen hätten in den vergangenen Jahren versucht, einen Techno-Club aufzubauen – auch, wenn das Projekt letztlich gescheitert sei. „Man muss solche Beispiele mit der Lupe suchen, aber es gibt Versuche von Jugendlichen, selbst etwas auf die Beine zu stellen und es gibt Menschen, die diese Selbstorganisierungsprozesse unterstützen – beides braucht Unterstützung.“

Zudem könnten mitunter auch Institutionen flexibel eingesetzt werden – in Kombination mit lokaler linker Stärke. „Die einzigen wirkungsvollen Mobilisierungen der vergangenen Jahre waren die gegen den Stadtumbau Ost, also den geförderten Rückbau und Abriss von Infrastruktur“, sagt Intelmann. Das habe Unruhe und Kontrollverlust bei den Menschen verursacht, die bleiben wollten. Die Basisorganisierung sei dann teilweise durch das lokale Quartiersmanagment unterstützt und von der Bürgerinitiative Morgenleite/Markersdorf-Nord geprägt gewesen, in der anfangs die PDS und später die LINKE eine wichtige Rolle gespielt hätten.

Der Forscher verweist mit Blick auf seine eigenen Erfahrungen bei den kritischen Stadtrundgängen aber auch darauf, dass es zwar wichtig sei, mit den Menschen vor Ort gemeinsam zu kämpfen und diese dabei nicht „zu verschrecken“ – gleichzeitig sei es aber auch wichtig, Momente der Ermächtigung für die Menschen zu schaffen, die früher aus diesen Vierteln „fliehen“ mussten. Ein Rundgang mit etwa 150 Menschen im Fritz-Heckert-Gebiet im Rahmen einer Veranstaltung der Initiative NSU-Tribunal sei für viele Teilnehmer*innen ein „erhebender Moment“ gewesen. „Es ist nicht zu unterschätzen, entsprechende Anlässe zu schaffen, um etwa unter sicheren Bedingungen Anti-Nazi-Sprüche zu rufen“, sagt Intelmann. Ehemalige Anwohner*innen könnten dadurch zumindest für einen Augenblick den Raum erhalten, um in angstbesetzten Orten „Kindheitstraumata zu bearbeiten“.

Generell stehe jeder Organizing-Versuch in der „Platte“ vor Herausforderungen: „Man muss ein dickes Fell haben, da Rassismus häufig artikuliert wird und soziale Probleme kulturalisiert werden“, so Intelmann. Aus Gesprächen mit Sozialarbeiter*innen habe der Forscher gelernt, wie wichtig es dann sei, nicht nur Aufklärung zu betreiben, sondern eben auch die richtige Sprechweise zu finden. „Man muss den Leuten ein Angebot für eine Deutung ihrer Geschichte machen, die Erfahrungen nicht durch Kulturalisierung erklärt, sondern mit der politischen Ökonomie – und sie müssen sich in den Worten dabei wiederfinden.“ Zudem müsse man sich auf eine verbreitete Resignation einstellen. „Die Art und Weise, wie sich jahrelang um die Plattenbaugebiete gekümmert wurde, war entmündigend und entfremdend und heute können und wollen viele Menschen sich die öffentlichen Räume nicht mehr aneignen.“ Sie würden keinen Resonanzraum mehr für sich sehen und auch keine Erwartungen mehr an politische Akteure stellen.

Torgau, Stadtteil Nordwest

Die richtigen Worte finden und trotz allem aktiv auf die Menschen im Plattenbau zugehen, war auch das Ziel von Philipp Rubach: Der Sonderpädagoge und Gründer der ehemaligen Initiative „Aufbruch Ost“ trat als parteiloser Direktkandidat für die LINKE zur Bundestagswahl 2021 an. Rubach, Jahrgang 1996, zog über Wochen mit einem jungen und engagierten Team während des Wahlkampfes durch Nordsachsen, einen Flächenwahlkreis mit knapp 200 000 Einwohner*innen. Einen gezielten Fokus legte der Leipziger hierbei auf die Plattenbausiedlung „Torgau-Nordwest“, eine frühere Linkspartei-Hochburg. Mit seinem Team organisierte er hier einen Haustürwahlkampf. Ein Organizing-Experte der LINKEN aus Berlin hatte das Team dabei beraten und war auch vor Ort. Der Großteil der Aktiven kam wiederholt aus Leipzig über 50 Kilometer angefahren, Mitglieder aus Torgau hatten sich aber auch beteiligt.

Trotz aller Mühen zu Fuß und mit Lautsprecherwagen – die Abschlussveranstaltung der LINKEN wurde kaum besucht. Die Linkspartei erreichte lediglich 7,5 Prozent der Zweitstimmen (–7,2 Prozent), während die AfD 27,2 Prozent einfuhr (+0,3 Prozent). Rubach holte als parteiloser Direktkandidat noch 8,0 Prozent der Erststimmen.

„Wir hatten es letztlich aufgrund verschiedener Bedingungen nicht geschafft, das Ruder herumzureißen“, sagt Rubach im Nachhinein. Die wesentlichen Gründe seien ein zu kurzer Zeitrahmen für das Engagement gewesen, fehlende Verankerung vor Ort, lange Anfahrtswege, unzureichende Ressourcen, eine hohe Resignation unter den Bewohner*innen im Viertel sowie ein genereller Bundestrend, der es der LINKEN schwermachte und potenzielle linke Wähler*innen eher zur taktischen Wahl der SPD ermutigte.

„Das hätte nur der Auftakt sein können für ein größeres Projekt“, sagt Rubach mittlerweile. Für eine erfolgreiche Kampagne im Plattenbau brauche es eine langfristige kontinuierliche Arbeit vor Ort, lokale Verankerung und eine bekannte Person als Bewerber*in, ein klares Thema für die Mobilisierung sowie Erfolgsaussichten, dass man Ziele auch umsetzen könne. Dies müsse man bei allen linken Politikansätzen in Großwohnsiedlungen berücksichtigen.

Die Bedingungen im ostdeutschen Plattenbau für aufsuchende politische Arbeit seien dabei alles andere als einfach. „Das sind dicke Bretter, die hier zu bohren sind“, betont Rubach. In vielen Ortsverbänden wie in Torgau mangelt es zuvorderst an Basismitgliedern, die in einem ressourcenintensiven Wahlkampf unterstützen können. Dazu seien die bestimmenden Themen in den Gesprächen mit den Anwohner*innen eben meist auf den ersten Blick keine sozialen. „Für die Menschen ging es viel um den Wunsch nach Ordnung, Sicherheit und einen Umgang mit Migration – hier braucht es gute Antworten von uns“, sagt er. AfD und CDU bestimmen medial den diskursiven Rahmen – obwohl es in Torgau-Nordwest durchaus soziale Bedürfnisse gibt und auch einige Migrant*innen aus dem Viertel prekär in der Fleischindustrie arbeiten.

Dazu habe es selbst bei Menschen, die den Forderungen der LINKEN positiv gegenüberstanden oder früher die Partei gewählt haben, nun oft große Skepsis an deren Fähigkeit zur Umsetzung gegeben. „Es war nicht klar, warum man uns gerade jetzt wählen sollte, dazu fehlte es an Drive und Aufbruchsstimmung“, so Rubach. Vielleicht könne es laut dem Pädagogen helfen, mitunter eine Kampagne unter anderem Label zu starten, um Menschen abzuholen, die generell für linke Ideen offen sind, aber der LINKEN kritisch gegenüberstehen. Gegen grundsätzliche gesellschaftliche Stimmungen anzuarbeiten, sei aber auch nur bedingt möglich. „Manche ehemalige Genoss*innen hatten die Seiten gewechselt. An die ranzukommen, war kaum noch möglich.“

Rubach betont, dass der Gedanke an eine größere Verbreitung von aufsuchender Organisierungsarbeit im ostdeutschen Plattenbau zwar verführerisch sei, aber man auch die realen Bedingungen im Blick behalten müsse. „Wenn ich jetzt empfehlen würde, dass alle hier nur noch Organizing-Projekte machen sollen, wäre das schlicht verrückt“, sagt der Pädagoge. Letztlich sei der Erfolg stark von lokalen Ressourcen und Erfahrungswerten abhängig – und auch von dem Vorhandensein eines attraktiven Projekts, das in Medien und Öffentlichkeit präsent ist.

Berlin Neu-Hohenschönhausen

Das Berliner Neubaugebiet Neu-Hohenschönhausen hat rund 57 000 Einwohner*innen. Traditionell hat die LINKE hier eine gute Verankerung und im übergeordneten Bundestagswahlkreis Lichtenberg mit Gesine Lötzsch eine bekannte Kandidatin. In den vergangenen Jahren ging jedoch die Zustimmung für die LINKE auch hier sukzessive zurück. Bei der Abgeordnetenhauswahl vom Februar 2023 konnte erstmals die CDU massiv dazugewinnen und holte mit die besten Werte der Konservativen in ganz Berlin, gefolgt von der AfD. Die Wahlbeteiligung war mit 52,8 Prozent auffallend niedrig im Stadtvergleich. Noch stärker als in anderen Neubaugebieten gibt es eine hohe Anzahl von Alleinerziehenden, zudem überdurchschnittlich viele Transferleistungs-Empfänger*innen.

Thomas Stange versuchte unter diesen Bedingungen über Bildungsarbeit zu einem positiven Wandel im Viertel beizutragen. Die vergangenen vier Jahre hatte er das Projekt „Platte Machen für Hohenschönhausen“ geleitet. Das von der Landeszentrale für politische Bildung geförderte und an die Netzwerkstelle Licht-Blicke angebundene Programm strebte an, Menschen, die sich entweder nicht mehr von der Politik repräsentiert fühlten oder keinen Zugang zu Politik hatten, mit aufsuchender Bildungsarbeit abzuholen. Menschen sollten vor Ort zu Reflexionsprozessen angeregt werden.

Verschiedene Methoden hatte das Projekt dafür ausprobiert: Es gab ein Open-Air-Kino – auch mit „leichten Filmen“, eine Plakatkampagne gegen Rassismus, Spaziergänge zu historischen Orten oder Diskussionsveranstaltungen mit öffentlichen Personen wie dem Rapper Romano oder dem Soziologen Steffen Mau, am häufigsten zu Themen mit DDR-Bezug. Zum 50. Geburtstag der „Wohnbauserie 70“, dem wichtigsten Neubautyp der DDR, gab es eine Feier. Das Video-Projekt „Menschen im Kiez“ stellte in Kurzporträts lokale Ehrenamtliche vor. „Für erfolgreiche Bildungsprozesse erreicht man am besten Leute aus verschiedenen gesellschaftlichen Blasen, dazu ist es hilfreich, wenn Menschen wiederkommen oder es eine kritische Masse gibt, die das Fortlaufen des Projektes ermöglicht“, sagt Stange. „Auch, wenn einzelne nicht mehr kommen.“

Nach vier Jahren Projektlaufzeit blickt der Bildungsarbeiter auf gesammelte Erkenntnisse zurück: „Wir haben zu viele verschiedene Themen bespielt“, sagt Stange selbstkritisch. Der Plattenbau sei relativ anonym, es sei schwer, sich innerhalb von wenigen Jahren einen Namen zu machen und unter verschiedenen Angeboten herauszustechen. „Wenn man mit einem Thema verbunden wird, ist es leichter, für die Menschen, daran anzuknüpfen.“ Dabei sei es auch wichtig, immer wieder die Bindung an den Stadtteil in der Bildungsarbeit aufzugreifen. „Denn wenn den Leuten der Stadtteil egal ist, setzen sie sich hier auch nicht ein“, sagt Stange. Eine wiederkehrende Herausforderung stelle zudem bei allen Aktivitäten die Infrastruktur des Viertels dar: Es fehlten Möglichkeiten zum Treffen und Verweilen, eine „Aufenthaltsqualität fernab von den Parks am Rand des Stadtteils“ – eine Voraussetzung für die Etablierung von Initiativen.

Ein großes Projekt von „Platte Machen für Hohenschönhausen“ war die Durchführung einer Umfrage zu politischen Einstellungen, an der rund 500 Menschen im Sommer 2022 teilnahmen. Die Anwohner*innen hätten ein starkes Gerechtigkeitsgefühl, aber gleichzeitig auch ein tendenziell autoritäres Verständnis von Gleichheit, fasst Stange die Ergebnisse zusammen. „Viele Leute sind genervt, wenn jemand eine vermeintliche Extrawurst haben will und mit eigenen Bedürfnissen heraussticht“, so Stange. Während früher die PDS und die LINKE mit der Adressierung von Gerechtigkeitsfragen und einer „Kümmerer“-Strategie erfolgreich war, sei es aktuell die CDU in Verbindung mit ihren Themen und einer Kopie der „Kümmerer“-Strategie, doch auch die AfD greife auf eine entsprechende Inszenierung zurück.

Aus Sicht der politischen Bildungsarbeit müsse es dabei eher darum gehen, diesen Politikansatz generell zu überwinden. „Die Menschen brauchen demokratische Wege, wo sie unter transparenten Bedingungen wirklich etwas verändern können“, sagt Stange. „Wenn es offizielle Angebote der Partizipation oder Informationsveranstaltungen vor Ort gibt, wissen die meisten im Viertel doch oftmals nicht, ob die eigene Beteiligung überhaupt irgendein Gewicht hat.“ Politik zu machen und sich für etwas einzusetzen, müsse attraktiv und erfolgversprechend erscheinen.

Der Bildungsarbeiter empfiehlt darüber hinaus allen Initiativen, die vor Ort wirken wollen, sich auch selbst von einem rein defizitären Blick loszusagen: „Die DDR-Neubaugebiete sind heute die gemischtesten Stadtteile, die es in den Großstädten noch gibt, und das betrifft sowohl die soziale Frage genauso wie die Herkunft und Fragen des Lebensstils“, so Stange. Diese Stadtteile seien damit „Labore“, wo man sehen könne, wie sich gesellschaftliche Probleme auswirken auf Menschen, die nicht in verschiedenen Blasen jeweils nur unter sich bleiben. „Das schafft zwar Konflikte, kann zugleich aber auch eine wirklich solidarische Nachbarschaft entstehen lassen.“ 

Lehren ziehen 

Es zeigt sich bereits seit Längerem, dass die vermeintlichen alten Hochburgen linker Politik stark umkämpft sind. Noch besitzen linke Akteure in Plattenbaugebieten jedoch Ressourcen und Verankerung. Vor allem die traditionsreichen und vergleichsweise gut ausgestatteten LINKE-Parteibüros könnten Ausgangspunkt von Organizing-Bemühungen werden, würden sie als ein dafür entsprechender Ort wahr- und ernstgenommen. Auch darüber hinaus sind wertvolle Erfahrungen in politischer Organisierungs- und Bildungsarbeit vor Ort vorhanden – es lohnt sich, sie zu finden und systematisch aufzubereiten, um spezifische Strategien für den ostdeutschen Plattenbau zu entwickeln. Der Einsatz neuer Methoden und die Berücksichtigung von Erfahrungen wie der hier vorgestellten können dabei helfen, gegen den schmerzlichen Trend im Ost-Neubau anzukämpfen.