Das zentrale Versprechen von Obamas Wahlkampf war die Reform des US-Gesundheitssystems. Sie ist aus mehreren Gründen der entscheidende Baustein seiner Reform agenda. Die Gesundheitsversicherung befindet sich erstens an der Schnittstelle mehrerer Krisenprozesse. Zweitens berührt sie grundlegende gesellschaftliche Fragen, an denen sich die Philosophie des Neoliberalismus und solidarische Ökonomiekonzepte grundsätzlich voneinander unterscheiden. Obama hat sich dabei klar in das Lager derjenigen gestellt, die Gesundheit als ein Grundrecht ansehen. Dafür sieht er den Staat zumindest als letzten Garanten in der Pflicht. Schließlich ist die Gesundheitsreform drittens der erste Test der neuen Regierung, an dem sich die Tragfähigkeit der charismatischen Herrschaft Obamas insgesamt entscheiden wird.
Die zivilisatorische Errungenschaft kollektiver Sicherungssysteme gegen die Lebensrisiken in kapitalistischen Gesellschaften ist in den USA dramatisch unterentwickelt. Erst mit Roosevelts New Deal entstand Mitte der 1930er Jahre ein schwaches soziales Netz der Arbeitslosen-, Invaliden- und Rentenversicherung, das in den folgenden 30 Jahren durch zusätzliche Sozialleistungen für die Armen ergänzt wurde. Eine universelle Krankenversicherung entstand in der Zeit des New Deals nicht (vgl. Cohn 2007). Stattdessen entwickelte sich im Kontext des Fordismus ein arbeitsplatzgebundenes Gesundheitssystem, das im Rahmen der »Great Society« 1965 durch eine Krankenversicherung für Arbeitslose/Arme (»Medicaid«) und Rentner (»Medicare«) staatlich ergänzt wurde. Im Zuge der neoliberalen Konterrevolution geriet dieses sozialstaatliche Rumpfgebäude unter Druck. Mehr und mehr Lebensrisiken wurden auf die arbeitende Bevölkerung abgewälzt.
Die hegemoniepolitische Konstellation
Eine Folge dieser amerikanischen Sonderentwicklung ist ein mit europäischen Verhältnissen kaum zu vergleichendes Maß an sozialer Unsicherheit. So zeigte eine Studie der Harvard University 2007, dass in gut drei Fünfteln aller Fälle nicht die Arbeitslosigkeit für Insolvenzen von Privathaushalten verantwortlich war, sondern (plötzliche) Krankheit und entsprechende Behandlungskosten. Dabei waren in 80 Prozent der Fälle die Betroffenen formell sogar irgendwie krankenversichert (vgl. etwa Himmelstein et al. 2009). Eine weitere Untersuchung ergab, dass etwa 1,5 Mio Familien jährlich ihre Häuser durch Zwangsversteigerungen verlieren, weil sie die Kosten für ihre Gesundheit nicht mehr schultern können (vgl. Robertson et al., 2008). Gleichzeitig verschränken und multiplizieren sich die zahlreichen Lebensrisiken miteinander. Da für die Mehrheit der US-Arbeiterklasse (2008: 176,3 Mio. bzw. 58,5 Prozent der Bevölkerung insgesamt, vgl. US Census Bureau 2009, 28) die Krankenversicherung an den Arbeitsplatz gekoppelt ist, ist der Verlust des Arbeitsplatzes häufig gleichbedeutend mit dem Verlust der Krankenversicherung. Mit dem Übergang zu den atypischen, prekären Beschäftigungsverhältnissen im Neoliberalismus hat sich die soziale Unsicherheit hinsichtlich der Gesundheitsfrage dramatisch verschärft. Dies gilt verstärkt für die aktuelle Krise. Mit der schon im Herbst 2009 trotz schuldenbasierter Konjunkturerholung die 10-Prozent-Marke überschreitenden Arbeitslosigkeit (jobless growth bzw. jobless ›recovery‹) erhöhte sich der Bevölkerungsanteil ohne Krankenversicherung noch einmal auf 15,4 Prozent bzw. 46,3 Mio. Menschen (vgl. US Census Bureau 2009, 28). Hinzu kommen die so genannten Unterversicherten – rund 25 Mio. Erwachsene – deren Zahl zwischen 2003 und 2007 besonders dramatisch um 60 Prozent angestiegen ist. Auffallend ist, dass der Anstieg der Unterversicherten stark mit der Prekarisierung der mittleren Einkommensschichten korreliert. Für die Bevölkerungsgruppe mit einem Einkommen von 200 Prozent oder mehr der landesweiten Armutsgrenze (etwa 40 000 US-Dollar pro Haushalt) verdreifachte sich im selben Zeitraum die Zahl der Unterversicherten (vgl. Schoen et al. 2008).
Das ist hegemoniepolitisch äußerst relevant. Die Entwicklung der letzten Jahre hat damit die Grundlage für eine breite gesellschaftliche Reformbewegung gelegt, die die Form eines Mitte-Unten-Bündnisses annehmen könnte. Das zeigt sich auch an den unzähligen Umfragen der letzten Jahre, die belegen, dass es eine breite gesellschaftliche Unterstützung für die Einführung eines nationalen Gesundheitssystems gibt. Obama hat in seiner Krisenpolitik die Vision eines Übergangs zu einer postneoliberalen Ordnung auf grünkapitalistischer Akkumulationsgrund lage entworfen. Ob dies gelingen kann, hängt von der Entstehung und institutionellen Verankerung eines solchen Mitte-UntenBündnisses ab. Dieses Bündnis wäre ein historischer Wendepunkt in der politischen Geschichte des Neoliberalismus in den USA, der wohl nur mit der Entstehung der NewDeal-Koalition in der letzten Weltwirtschaftskrise zu vergleichen wäre.
Um das zu verstehen, muss man sich kurz die Spezifik des autoritär-marktliberalimperialistischen Projektes vergegenwärtigen, das bei allen Schattierungen den Neoliberalismus von Reagan bis Bush jr. gekennzeichnet hat. Dieses Projekt beruhte auf Grenzziehungen zwischen den prekarisierten, aber leistungs- und nach oben orientierten Mittelschichten und den entkoppelten Armen. Damit war der Neoliberalismus von einem mehr oder weniger stabilen Mitte-ObenBündnis gekennzeichnet. Erleichtert wurde die Entstehung dieses Bündnisses vor dem Hintergrund der geschichtlichen Sonderentwicklung der USA. Dazu gehören neben dem entsolidarisierend wirkenden Radikalindividualismus v.a. die spezifischen Formen der ›Rassisierung‹ und Ethnisierung sozialer Klassenauseinandersetzungen. Im Neoliberalismus wurde hierbei die Anrufung »arm« weitgehend gleichbedeutend mit »schwarze oder hispanische Transferleistungsbezieher«, während »Mittelschicht« und »hard-working Americans« gleichbedeutend wurde mit »ver- ängstigte weiße Mittelschicht«. Als Katalysator dieser Spaltung diente die »Entsozialdemokratisierung« der Demokratischen Partei1, die sich ähnlich wie in den meisten Ländern Europas in zunehmender Wahlenthaltung und im Aufstieg des Rechtspopulismus niederschlug2. Ideologischer Kohäsionsfaktor zwischen Oben und Mitte war dabei die US-Variante der autoritären Leistungsideologie, der »producerism«3, der die Entsolidarisierung zwischen Unten und verängstigter Kleinbürgermitte möglich werden ließ. Gelänge es Obama nun, mit Hilfe seines zentralen Reformwerks ein solches Mitte-Unten-Bündnis zu schmieden, wäre das ein historischer Wendepunkt in der Geschichte der USA. Gleichzeitig ist angesichts der Zentralität der Gesundheitsreform für das Obama-Projekt davon auszugehen, dass von der Entstehung und Befestigung eines solchen Bündnisses im Rahmen der Gesundheitsfrage (oder im Umkehrschluss seiner erneuten Spaltung durch die politische Rechte und die Gegner der Gesundheitsreform) das Gelingen oder Scheitern des Obama-Projekts insgesamt abhängt.