Auch wenn alles bislang noch ein Ratespiel ist: Selbst wenn wir davon ausgehen, dass die russische Wirtschaft durch die EU-Sanktionen perspektivisch stark getroffen wird, sagt das immer noch gar nichts über den Erfolg und die Effektivität der Sanktionen aus. Denn das eigentliche Ziel sollte ja nicht ein wirtschaftlicher Schaden sein, sondern ein Ende des Krieges.
Unklare Ziele
Zumindest in der Theorie. Ganz praktisch sind die EU-Sanktionen jedoch ziellos, im eigentlichen Wortsinne. Weder EU noch Bundesregierung benennen klar definierte Ziele der Sanktionen gegen Russland. Begründet werden sie in der Regel mit einer „Reaktion auf die militärische Aggression gegen die Ukraine“. Auf der Webseite des Europäischen Rates werden als solche lediglich genannt: „dem Kreml die Finanzierung des Krieges zu erschweren und der für die Invasion verantwortlichen politischen Elite Russlands spürbare wirtschaftliche und politische Kosten aufzuerlegen.“
Die Kriegsfinanzierung zu „erschweren“ wäre noch ein politisches Ziel, allerdings bleibt es vage. Dass die russischen Eliten etwas „spüren“ sollen, ist schon gar kein politisches Ziel mehr, sondern eher eine Bestrafung (für die militärische Aggression). Damit sind diese Sanktionen gar kein friedliches Mittel zur Durchsetzung des Völkerrechts. Und eine Erfolgskontrolle oder eine Bewertung ihrer Effektivität ist praktisch nicht möglich.
In der wissenschaftlichen Literatur herrscht große Einigkeit darüber, dass wirtschaftliche Sanktionen überhaupt nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sehr konkrete Ziele benannt werden und die Aufhebung der Sanktionen an die Erreichung einzelner Zielpunkte gekoppelt wird. Eine derart konkrete Kopplung von EU-Sanktionen an konkrete russische Schritte gibt es nur in einer Formulierung, die in die Präambel der Sanktionen nach dem 24. Februar 2022 aufgenommen wurde. Dort heißt es, dass die EU ihren Standpunkt erst ändern wird, wenn Russland „der vollständigen Umsetzung der Minsker Vereinbarungen in vollem Umfang“ nachkomme. Diese Formulierung stammt allerdings noch aus dem Sommer 2021, vor dem russischen Angriffskrieg und nimmt keinen Bezug auf die russische Aggression nach dem 24. Februar 2022.
Bleibt als einziges, konkret benanntes politisches Ziel die Erschwerung der Kriegsfinanzierung. Da der Krieg vom russischen Staatshaushalt finanziert wird, müssten also die wichtigsten Einnahmequellen des Kremls getroffen werden. Damit sind wir direkt bei Öl und Gas, denn ihr Export finanzierten in den letzten Jahren rund 40 Prozent der russischen Staatseinnahmen. Wenn die EU also ihr selbst formuliertes Ziel ernst nehmen würde, hätte sie direkt und sofort auf ein Öl- und Gasembargo gehen müssen. Genau das ist aber nicht geschehen, im Gegenteil, die EU-Sanktionen zielten zunächst auf die Exporte nach Russland. Durch die explodierenden Preise für Öl und Gas hat Russland 2022 wahrscheinlich eher steigende Staatseinnahmen gehabt, genauere Zahlen werden leider von der russischen Regierung nicht mehr veröffentlicht.
Das Ziel der Kriegsfinanzierung ist noch aus einem anderen Grund problematisch: Selbst wenn die Haushaltseinnahmen in Russland wegbrechen würden, stellt sich immer noch die Frage, ob der Kreml dann weniger Geld für den Krieg bereitstellen würde. Viel wahrscheinlicher wäre doch, dass zunächst an anderen Haushaltsposten, etwa im sozialen Bereich oder bei den Renten, gespart werden würde. Eine Auswirkung auf das Kriegsbudget wäre erst dann zu erwarten, wenn die sozialen Einschnitte so hoch sind, dass der Kreml Unruhen in der Bevölkerung befürchten müsste. Davon sind wir aktuell jedoch – leider – noch meilenweit entfernt.
In der Summe gibt es also kein einziges realistisches und konkret formuliertes Ziel in den EU-Sanktionsbeschlüssen in Richtung auf eine politische Veränderung in Russland. Wie in vielen anderen Fällen auch sind die EU-Sanktionen also in erster Linie als Demonstration zu verstehen, als öffentliche Dokumentation der eigenen Entschlossenheit und als innenpolitisches Signal: „Wir tun was“. Das Standardwerk über die Wirkung von Wirschaftssanktionen, „Economic Sanctions Reconsidered“ von Gary Hufbauer, Jeffrey Schott und Kimberly Elliot nennt derartige Sanktionen “expressive rather than instrumental” – eher demonstrativ als instrumentell.
Eigeninteressen gehen vor
Die EU-Sanktionen sind aber nicht nur ziellos, sie sind auch planlos. Weil am Ende vor allem nationale wirtschaftliche Interessen den jeweiligen Beschluss der EU zu einer bestimmten Sanktionsmaßnahme bestimmen. Nur zwei konkrete Beispiele:
Bis Dezember 2022 standen 1 241 russische Einzelpersonen auf der EU-Sanktionsliste. Nicht dabei war allerdings Wladimir Potanin, obwohl er der zweitreichste Mann Russlands ist und seit 20 Jahren treuer Parteigänger Putins, mit dem er auch schon mal Eishockey gespielt hat. Potanin hätte man eigentlich schon bei der allerersten Sanktionsrunde auf der Liste erwartet. Der Grund, warum er bislang von den EU-Sanktionen verschont blieb, ist recht einfach: Er kontrolliert die russische Nickelproduktion und andere wichtige Metalle und hat gemeinsam mit BASF ein große Batteriefabrik in Finnland gebaut. Die Angst von BASF und einigen Autoherstellern in Westeuropa, dass Potanin sie vom Nachschub der wichtigen Metalle abtrennen könnte, war wohl zu groß (vgl. FAZ, 31.5.2022). Bis heute. Die USA haben Potanin am 15. Dezember (!) dann endlich auf die Sanktionsliste gesetzt, in der EU ist er immer noch gern gesehener Gast. Das passiert, wenn dir das eigene Auto wichtiger ist als das Leben deiner Nachbarin.
Das zweite Beispiel glitzert. Antwerpen ist die Diamantenhauptstadt der Welt, jährlich werden mit den feinen Steinen dort 36 Milliarden Dollar umgesetzt. Es ist ein wichtiger Wirtschaftszweig und deshalb sperrt sich die belgische Regierung bis heute erfolgreich dagegen, dass russische Diamanten auch auf die Sanktionsliste gelangen. Dabei ist die Diamantenförderung in Russland teilweise in staatlicher Hand, die Einnahmen fließen also direkt in die Kriegskasse des Kremls.
Solche Beispiele gibt es zuhauf, meist sind die eigenen (oft nationalen) Wirtschaftsinteressen wichtiger als die Solidarität mit den Menschen in der Ukraine. Herausgekommen ist am Ende ein Flickenteppich an wenig zielgerichteten Sanktionen.
Als Krönung der Planlosigkeit geht die EU bei allen Sanktionen auch noch in winzigen Trippelschritten voran. Jede einzelne wird erstmal lange öffentlich diskutiert und dann mit einer langen Übergangszeit beschlossen, sodass sich die russische Wirtschaft in der Regel schon viele Monate darauf vorbereiten kann. Dabei gibt es eine klare und deutliche Erkenntnis aus den Erfahrungen mit anderen Sanktionsregimes: Sie können nur dann erfolgreich sein, wenn sie schnell und hart beschlossen werden und so die Wirtschaft des Ziellandes maximal treffen. Wer in kleinen Schritten vorgeht, erreicht gar nichts.
Was tun?
Es fehlt – mindestens seit dem 24. Februar – eine ehrliche Debatte darüber, was überhaupt sinnvolle Ziele von Sanktionen sein könnten, und wie sie zu erreichen wären. Die russische Kriegsmaschine zu stoppen wäre sicherlich ein sehr erstrebenswertes Ziel. Dazu würde auch die Sanktionierung von allen Dual-Use-Gütern gehören, also von Dingen, die sowohl militärisch als auch zivil verwendet werden können. Bislang fallen nur einige von ihnen (wie etwa Drohnen) unter die Sanktionen. Welche Nebenwirkungen ein Komplettverbot sämtlicher Dual-Use-Güter haben könnte, auch auf ärmere Bevölkerungsteile in Russland, und ob es überhaupt effektiv die Kriegsführungsfähigkeit Russlands einschränken könnte – all das sind ungeklärte Fragen, über die auch eine Linke endlich diskutieren sollte.
Bitter nötig wäre auch eine Diskussion darüber, unter welchen Bedingungen die Sanktionen wieder aufgehoben werden. Nur wenn das Zielland genau weiß, was es tun muss, um eine Aufhebung der Sanktionen zu erreichen, gibt es überhaupt eine Chance auf Erfolg.
Der Parteivorstand der Linken hat kürzlich dazu einen interessanten Vorschlag gemacht. Russland solle eine Garantie erhalten, „dass alle nach dem 24. Februar beschlossenen EU-Sanktionen in dem Moment aufgehoben werden, in dem das russische Militär sich auf seine (offiziellen) Positionen vom 23. Februar zurückzieht und damit die UN-Resolutionen umsetzt.“ Das ist ein sehr konkreter Vorschlag, sehr konkret auf die russische Aggression nach dem 24. Februar bezogen. Die Frage der Krim und der damit verbundenen Sanktionen bleibt zunächst ausgeklammert.
Doch so und nur so können Sanktionen überhaupt eine Aussicht auf Erfolg haben: Klare Ziele formulieren, zielgerichtete Sanktionen an diesem Ziel ausrichten und dem Zielland deutlich kommunizieren, wann und wie welche Sanktionen wieder aufgehoben werden. Die EU-Sanktionen leisten das alles gerade leider nicht.