In der Vergangenheit verhallte der Widerstand gegen Privatisierungen trotz ihrer Verteilungswirkungen zugunsten einer privilegierten Minderheit meist ungehört. Doch durch die Coronakrise erfährt das binäre Denken im Sinne von »Staat versus Markt« eine Renaissance. Staatlich organisierte Test- und Impfangebote sowie milliardenschwere Staatshilfen für Unternehmen wie Galeria Karstadt Kaufhof, Lufthansa und TUI beförderten zuletzt die Abgesänge auf das neoliberale Zeitalter. Von der Coronakrise als dem »letzten Sargnagel für den Neoliberalismus« (Marcel Fratzscher) ist ebenso die Rede wie vom »Coronaschock, der den Neoliberalismus in eine letale Krise stürzen« wird (Bert Rürup). Selbst Christian Lindner (FDP) verkündete im Frühjahr 2020: »Jetzt ist die Stunde des Staates. Wir brauchen ihn bei allem, was über die Fähigkeit, individuell Verantwortung zu übernehmen, hinausgeht.« (Zit. n. Heinemann 2020)
Wandel im Staatsverständnis?
Angesichts der vielen unerwarteten »Staatsbekenntnisse« und vor dem Hintergrund der erstmaligen Formation einer rot-grün-gelben Bundesregierung ist das künftige Verhältnis von Markt und Staat ins Zentrum der politischen Debatte gerückt: Für eine historische Zeitenwende spricht, dass staatliche Interventionen nun schon zum zweiten Mal nach der globalen Finanzkrise 2007ff. erforderlich wurden. Die Weltwirtschaft wäre in eine tiefe Depression geschlittert, wenn nicht in allen und für alle wichtigen Volkswirtschaften massive Konjunkturprogramme aufgelegt worden wären. So einigten sich die EU-Staaten im April 2020 auf ein Hilfspaket in Höhe von 540 Milliarden Euro. Die EU-Kommission schlug im Monat darauf einen 750 Milliarden Euro schweren Fonds zur Bekämpfung der Coronakrise vor (500 Milliarden Euro als Zuschüsse, 250 Milliarden als Darlehen an die Mitgliedsstaaten). Im Juni 2020 erhöhte die Europäische Zentralbank dann noch den Umfang ihres »Pandemic Emergency Purchase Programme« auf 1,35 Billionen Euro. Und der Deutsche Bundestag verabschiedete den zweiten Nachtragshaushalt für 2020, mit dem die geplante Neuverschuldung auf knapp 218 Milliarden Euro anstieg.
Forderung nach Verkauf des Tafelsilbers hallt unverändert nach
Doch nach wie vor deuten die meisten Politiker*innen die im Zuge der beiden epochalen Krisen gestiegene Staatsverschuldung als »Staatsschuldenkrise«, um eine strenge Austeritätspolitik für unausweichlich zu erklären. Die veränderten Spielregeln in der Eurozone könnten aber eine Zeitenwende einläuten. So verkündete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) am 20. März 2020 die Aussetzung des Stabilitäts- und Wachstumspakts mit seiner starren Drei-Prozent-Defizit-Regel, indem sie die allgemeine Ausweichklausel aktivierte und damit den Weg für nationale Ausgabenpläne ebnete. Vor diesem Hintergrund ist sich Makroskop-Redakteur Sebastian Müller (2021) sicher, dass der Niedergang der neoliberalen Ordnung bereits 2008 mit der globalen Finanzkrise begann: »Der Neoliberalismus kehrte [damals] zwar zurück, allerdings mit offenen Wunden. Er siegte, aber es war ein Pyrrhussieg.« Dass Privatisierungsverheißungen der Ernüchterung gewichen sind, ließ das Nachrichtenmagazin Der Spiegel resümieren: »Die Sehnsucht nach dem starken, schützenden Staat wächst.« (Dohmen/Jung 2020) Wird sich der Zeitgeist tatsächlich dauerhaft sicht-, hör- und spürbar wandeln? In jedem Fall scheint die Diskussion darüber, welchen und wie viel Staat wir brauchen, nunmehr zur einer bedeutenden, wenn nicht gar zur zentralen gesellschaftspolitische Auseinandersetzung zu werden.
»Impfchaos« als Staatsversagen?
Angesichts des im »Impfchaos« gipfelnden Staatsversagens ist der Optimismus, der sich hinsichtlich einer Renaissance des Staates durch die Coronapandemie herausgebildet hat, beachtlich. So etwa prognostiziert die taz-Journalistin Ulrike Herrmann (2020), dass die Coronakrise »die neoliberale Ideologie beerdigen [dürfte], die die westliche Welt seit 1980 dominiert hat«. Selbst der manchem Privatisierungsvorhaben durchaus positiv gegenüberstehende Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, Marcel Fratzscher (2020), würdigt die Hilfen für Arbeitnehmer*innen, Unternehmen, Kliniken und Schulen im Schatten der Pandemie als »alternativlos«: »Nun sehen wir: Der Staat ist die letzte Instanz, wenn es darauf ankommt.« Finanz-, Migrations- und Klimakrise hätten dies angedeutet, Covid-19 ließe die Kritik am schwerfälligen, bürokratischen Staat nun endgültig unglaubwürdig erscheinen. Und wenn das Handelsblatt einen Beitrag des ehemaligen »Wirtschaftsweisen« Bert Rürup (2020) mit »Corona und das Ende der neoliberalen Weltordnung« überschreibt, um die These zu platzieren, dass »der Coronaschock den Neoliberalismus in eine letale Krise stürzen« könnte, stehen wir demnächst womöglich tatsächlich vor einer Zeitenwende. Dies könnte dazu führen, dass staatlicher Wirtschaftstätigkeit auch von liberal-konservativen Kreisen nicht länger per se jede Legitimation abgeprochen wird.
Neoliberale »Sachzwanglogik«: Privatisierung first
Die seit Pandemiebeginn erneut zutage getretende Krisenanfälligkeit der Weltwirtschaft lehrt, dass Märkte als soziale und institutionelle Konstruktionen zu begreifen und politisch gestaltbar sind. Demnach braucht es auch im Neoliberalismus einen Interventionsstaat, um Märkte einzuführen, durchzusetzen und aufrechtzuerhalten, wie die fatalen Folgen langjähriger Privatisierungspolitik erkennen lassen. Rissen bereits die staatlichen Maßnahmen zur Bankenrettung während der Wirtschafts- und Finanzmarktkrise tiefe Löcher in die öffentlichen Haushalte, fördert die anhaltende Pandemie eine ähnlich gelagerte Entwicklung zutage. In Anbetracht von Steuermindereinnahmen in historischer Höhe bei gleichzeitiger Ausgabensteigerung steht der Staat unter Druck: Er hat mit dem größten Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland gigantische Schulden aufgenommen, um die (kurzfristigen) Krisenauswirkungen abzufedern. Allein der Umfang der im Mai 2020 beschlossenen haushaltswirksamen Maßnahmen betrug 353 Milliarden Euro; die Garantien beliefen sich auf insgesamt 819,7 Milliarden Euro. Dabei hat damals wie heute die politisch gewollte Schwächung staatlicher Steuerungsoptionen entscheidend zur Verschärfung der Krise beigetragen. So manifestierten sich in Deutschland die gesundheitspolitischen Defizite der vergangenen Jahre bereits im Frühjahr 2020. Der Mangel an Atemschutzmasken, Desinfektionsmitteln und Beatmungsgeräten in hiesigen Krankenhäusern ist wie die personelle Unterbesetzung im Pflegebereich als Ausdruck des marktorientierten Umbaus von bedarfsgesteuerten Einrichtungen der öffentlichen Daseinsvorsorge zu profitorientierten Gesundheitsunternehmen zu verstehen. In Medienberichten ist häufig vom »Stresstest Coronakrise« für Krankenhäuser die Rede und wird vor einem weiteren Abbau von Intensivbetten gewarnt. In diesem Bewusstsein gilt es, den über die Privatisierung von Krankenhäusern und Gesundheitsleistungen forcierten Wettbewerb im Gesundheitswesen endlich aufzugeben. Gesundheit lässt sich schließlich weder in Geld noch Gold aufwiegen.
Corona als Lehrstunde?
Über die Folgen für das Gesundheitswesen hinaus führt die Coronapandemie uns in nachdrücklicher Schärfe vor Augen, welche Herausforderung in den kommenden Jahren auf die öffentliche Hand noch zukommen werden. Bereits jetzt ringen deutsche Kommunen mit immensen Schuldenbergen. Allein 2020 verzeichneten die kommunalen Haushalte einen Rückgang der Gewerbesteuereinnahmen um knapp 12 Prozent (Statistisches Bundesamt 2022). Nun ist bereits in naher Zukunft mit einem horrenden Anstieg der Neuverschuldung zu rechnen. Damit wird die Coronakrise »zu einem historisch hohen Defizit und einem rasanten Anstieg der Staatsschuldenquote führen« (Gebhardt/Siemers 2020). Lediglich die gute konjunkturelle Lage vor Einsetzen der Pandemie und milliardenschwere kreditfinanzierte Hilfspakte von Bund und Ländern sichern den Kommunen gegenwärtig noch ein Mindestmaß an Gestaltungsoptionen.
Ob der Staat in der Lage sein wird, seine fiskalische Handlungsfähigkeit auch langfristig zu erhalten, ist derzeit mehr als ungewiss. Denn wenn er sich zur kurzfristigen Einhegung der Krisenfolgen in beispielloser Höhe verschulden muss, stehen andernorts vermutlich (weitere) Leistungskürzungen und Defizite bei der öffentlichen Daseinsvorsorge an. Überdies ist davon auszugehen, dass zumindest die kommunalen Steuern angehoben werden. Mancherorts ist eine signifikante Erhöhung der Grundsteuer, die auf die Mieter*innen umgelegt wird, bereits angekündigt. Dem hierzulande zu vernehmenden Lobgesang auf staatliche Handlungsfähigkeit in Krisenzeiten kann angesichts von Rekordschulden nämlich innerhalb kurzer Zeit eine Phase der Ernüchterung folgen – insbesondere dann, wenn die frisch inthronisierte Bundesregierung das Vorhaben von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) realisieren sollte, die momentan ausgesetzte Schuldenbremse schnellstmöglich wieder zu installieren.
Parteipolitische Programmatik vs. politische Realität
Es kann als wahrscheintlich angenommen werden, dass die Bundesregierung nach der Überwindung der Coronakrise zur Politik der »schwarzen Null« zurückkehren wird, die umstrittene Schuldenbremse reaktiviert und dann den Privatisierungskurs fortsetzt, um Einnahmen zur Schuldentilgung zu generieren. Zwar findet sich das Schlagwort »Privatisierung« nur ein einziges Mal im 177-seitigen Koalitionsvertrag der neuen Bundesregierung, aber die personelle Zusammensetzung in den Schlüsselministerien sowie die parteipolitischen Standpunkte der Ampelkoalitionäre stimmen wenig hoffnungsvolll. Nach wie vor findet sich auf der Website des vormals von Scholz geführten Bundesfinanzministeriums ein klares Bekenntnis zum »schlanken« Staat: »Durch Privatisierung gewinnen Staat und Unternehmen Handlungsfreiheiten: Der Bund setzt Reformpotenziale frei und die Unternehmen steigern ihre Effizienz.« Dass Bundesfinanzminister Lindner von dieser Haltung abrücken wird, steht nicht zu erwarten. Und auch die Position der Bündnisgrünen ist bestenfalls ambivalent. Zwar findet sich auch in ihrem Bundestagswahlprogramm ein eindeutiges Bekenntnis zur öffentlichen Daseinsvorsorge, aber öffentlich-private Partnerschaften werden ebenso wenig kategorisch ausgeschlossen wie der Status der Deutschen Bahn als Aktiengesellschaft. Und zur Erinnerung: Keine Bundesregierung hat mehr Privatisierungen umgesetzt als das von Gerhard Schröder und Joschka Fischer geführte rot-grüne »Reformbündnis« auf seinem »Dritten Weg«.
Dass es sich bei den coronabedingten Staatsinterventionen vermutlich nicht um ein auf Dauer angelegtes Abrücken vom Neoliberalismus handelt, wird nicht zuletzt an den Plänen zur Rückführung der zusätzlichen Staatsverschuldung deutlich: Von 2023 bis 2043 sollen die neuen Schulden zu jährlich gleichen Anteilen getilgt werden – so das überwältigende Votum des Deutschen Bundestages in seiner Abstimmung vom 11. Dezember 2020, bei der nur drei Abgeordnete mit »Nein« votierten. Die Rückzahlung der Staatsschulden erfordert indes Haushaltsüberschüsse. Wie aber soll der Staat über 20 Jahre Überschüsse erwirtschaften, wenn Steuererhöhungen weiterhin ausgeschlossen werden? In dem Fall bleibt nur ein »Weiter so« in Sachen Privatisierungspolitik. Denn Deutschlands Strategie der Leistungsbilanzüberschüsse zulasten ohnehin schon kriselnder Volkswirtschaften (insbesondere seiner EWU-Partnerländer) wird sich nicht noch zwei Jahrzehnte fortsetzen lassen, genaussowenig wird sich diese Sanierungsstrategie aufgrund des Widerstands der USA und anderer Länder auf die gesamte Eurozone ausweiten lassen. Insofern wäre die neue Bundesregierung gut beraten, die gegenwärtige Lage als Handlungsaufforderung zu verstehen, staatliche Steuerungsspielräume dort wiederherzustellen, wo sie in den vergangenen Jahrzehnten eingeschränkt wurden. Wenn selbst energische Befürworter*innen von Privatisierungsmaßnahmen wie der französische Präsident Emmanuel Macron dazu aufrufen, »die Lehren [zu] ziehen aus dem, was wir gegenwärtig durchmachen, das Entwicklungsmodell [zu] hinterfragen, in das sich unsere Welt seit Jahrzehnten verwickelt hat« (zit. n. Gutsche 2020), wäre die Coronapandemie nun wahrlich ein geeigneter Ausgangspunkt, um die kostspielige und mit Leistungskürzungen verbundene Privatisierungspolitik zu beenden und staatliche Handlungsspielräume auszubauen.
Erforderliche Einsichten in der Bevölkerung
Damit sich dem Trend zur »Vermarktlichung« eine breite Öffentlichkeit entgegenstellt, braucht es ein umfassendes Bewusstsein in der Bevölkerung dafür, dass sich eine Politik der Entstaatlichung letztlich selbst abschafft. Diese Einsicht wird sich nicht von allein durchsetzen, denn die auf den Markt als alleinigen gesellschaftlichen Regulierungsmechanismus fixierte Ökonomie findet nicht nur in einschlägigen Gazetten seit Jahren Verbreitung, sondern lässt uns überdies vergessen, dass die soziale Spaltung der Gesellschaft ihren Ursprung in einer Wirtschafts- und Sozialordnung hat, die den Interessengegensatz zwischen Kapital und Arbeit perpetuiert. Dies lässt sich insbesondere an einem Steuersystem ablesen, das Kapital privilegiert und Arbeit diskriminiert – und das damit dem Leistungsgedanken entspringende Aufstiegsversprechen der »alten Bundesrepublik« systematisch unterläuft. Hinzu kommt, dass dem globalen Finanzmarktkapitalismus eine ungleichheitsverstärkende Dynamik innewohnt. Die Vermögen zulasten des Faktors Arbeit wachsen, sodass die Suche nach rentablen Anlagemöglichkeiten der (Hyper-)Vermögenden intensiviert und der Privatisierungsdruck auf öffentliche Güter und Dienstleistungen erhöht wird. Wenn Lobbyist*innen wie die vom Arbeitgeberverband Gesamtmetall finanzierte INSM darauf drängen, die vermeintlich zu hohen Lohnnebenkosten zu senken, indem die Rente privatisiert wird, muss man auf die desaströsen US-amerikanischen, japanischen und norwegischen Erfahrungen verweisen.
Stellen wir uns also vor, es gäbe eine Mehrheit für Kreditaufnahmen und Bund-Länder-Bonds zur Finanzierung von Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge. Die Schritte aus der Pandemie könnten einen Neustart ermöglichen, bei dem Mehrheitsinteressen kapitalstarke Partikularinteressen überlagern, sodass der Ausgleich der Coronaschäden in den Fokus gerückt wird. Imaginieren wir ferner, dass die staatlichen Hilfsmaßnahmen in der Coronakrise eine dauerhafte Abkehr vom neoliberalen Zeitgeist eingeläutet haben und die gravierende Störung des Wirtschaftssystems die Rückkehr zur blinden Marktgläubigkeit versperrt, dann dürften wir hoffen, dass die unlängst viel beschworene, weltweit aufscheinende Renaissance des Staates Platz greift. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass sich die Stärke einer Gesellschaft am Wohl der Schwachen bemisst. Das Wohl der Schwachen kann aber nur bewahrt werden, wenn (über-)lebenswichtige Güter und Dienstleistungen allen Menschen zur Verfügung stehen.