- Das Krisenmanagement in Zypern wird ein Einzelfall bleiben. Zypern unterscheidet sich von anderen sogenannten Krisenländern. Der Anteil zyprischer Banken am Bankkapital der Euro-Zone fällt äußerst gering aus (0,38 Prozent)[iv], die Kapitalverflechtung mit Räumen außerhalb der Eurozone (insbesondere mit Russland und Großbritannien)[v] ist dagegen besonders hoch. Das Interesse der zentralen Akteure des europäischen Krisenregimes an einer umfassenden Besicherung der dort deponierten Vermögen war also vergleichsweise gering. Gleichzeitig wurde darauf spekuliert, dass sich die ökonomischen und politischen Folgen einer solchen Krisenlösung räumlich eindämmen lassen.

- Dijsselbloems Äußerungen zur Zypernkrise weisen dennoch über den Einzelfall hinaus, sie sind Ausdruck der Widersprüche eines neuen europäischen Integrationsschubs. Durch die vielen kleinteiligen Krisenmaßnahmen hindurch hat sich in den vergangenen drei Jahren ein neuer autoritär-neoliberaler europäischer Integrationsschub von oben herausgebildet, dessen Umrisse sich immer klarer abzeichnen. Dieser basiert auf zwei zentralen Säulen: der Ausweitung gemeinschaftlicher europäischer Haftungssysteme (siehe Zeitstrahl) und der Etablierung eines „Kontrollsystems autoritärer Austeritätspolitik“ (Huke/Syrovatka 2013). Beide Säulen entwickelten sich parallel, wurden jedoch kontinuierlich miteinander verzahnt. So wurden schon 2010, als sich die globale Finanz- und Wirtschaftskrise zur sogenannten Staatsschuldenkrise im Euroraum fortentwickelte, mit der European Economic Governance (auch bekannt als „Six Pack“) die ersten Elemente eines autoritären Krisenregimes verankert (vgl. Konecny 2012). Flankiert wurden sie durch die Einrichtung der Troika und der Europäischen Finanzstabilisierungsfazilität (EFSF, auch bekannt als „Rettungsschirm“, inzwischen Europäischer Stabilitätsmechanismus, kurz ESM). Mit dem Anfang 2012 beschlossenen Fiskalpakt wurden nicht nur die Kontrollmechanismen der Economic Governance verschärft und in den nationalstaatlichen Rechtsordnungen festgeschrieben, sondern auch beide Säulen der Krisenpolitik miteinander verschränkt: die Gewährung von Hilfen aus dem EFSF wurde an die Ratifizierung des Fiskalpakts gekoppelt. Die aktuelle Diskussion im herrschenden Lager der EU unter dem Titel „Towards a Genuine Economic and Monetary Union“ führt diese Strategie weiter. Einerseits sollen gemeinschaftliche Haftungsmechanismen durch die Möglichkeit direkter Bankenrekapitalisierung über den ESM, einen EU-weiten Einlagensicherungsfond sowie einen „Schockabsorptionsmechanismus“, der bei drastischen Konjunkturabschwüngen einzelner Mitgliedsstaaten greift, massiv ausgeweitet werden. Andererseits ist die Teilnahme an diesen Haftungssystemen wiederum an die Bedingung geknüpft, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten Verträge mit der Europäischen Kommission abschließen (auch bekannt als „Pakte für Wettbewerbsfähigkeit“), in denen sie sich zu tief greifenden neoliberalen Strukturreformen verpflichten. Die Politik der Troika-Interventionen soll so auf die gesamte Eurozone ausgedehnt werden.
- Der autoritär-neoliberale Integrationsschub lässt sich nicht auf Austeritätspolitik reduzieren – er ist eine langfristig angelegte strategische Antwort von herrschender Seite auf die Krisentendenzen des finanzdominierten Akkumulationsregimes. Seit den 1980er Jahren steckt der kapitalistische Verwertungsprozess in einer Überakkumulationskrise: zu viel Kapital steht zu wenigen Verwertungsmöglichkeiten gegenüber. Das überakkumulierte Kapital befindet sich daher auf der ständigen Suche nach neuen Anlagefeldern und ist dabei wegen der niedrigen Profitabilität im industriellen Kapitalkreislauf verstärkt in die Kreisläufe des Finanzkapitals geflossen (Demirović / Sablowski 2012: 18f.). Aus dieser Finanzialisierung entstanden neue Krisentendenzen: enorme Kapitalballungen in wenigen, aussichtsreichen Investitionsfeldern, die sich zu riesigen Spekulationsblasen ausweiteten und die – wie bei der so genannten dot.com-Blase Anfang der 2000er Jahre – schockartige Kapitalvernichtungen über Nacht zur Folge hatten. Das Platzen der Immobilienblase in den USA 2007 war der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung, die im Zuge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise auch den europäischen Bankensektor nachhaltig destabilisiert hat. Durch umfangreiche Bankenrettungen und die dadurch organisierte Sozialisierung der Verluste verlagerte sich diese Krise dann in die europäischen Staatshaushalte und löste neue Spekulationsdynamiken aus, dieses Mal gegen die Kreditwürdigkeit von Staaten wie Griechenland, Irland oder Portugal. Die gegenwärtige Krisenbearbeitung zielt vor diesem Hintergrund nicht alleine darauf ab, die Profitabilität des Kapitals durch Austeritätspolitik und Beschneidung sozialer Rechte wiederherzustellen, sondern verfolgt auch das Ziel, die Risiken der schockartigen Vernichtung spekulativ angelegten Kapitals und den Druck dieser Spekulationsdynamik auf die Refinanzierungsbedingungen peripherer Euro-Staaten durch weitverzweigte europäische Haftungssysteme in den Griff zu bekommen. Die Finanzierungsbedingungen für öffentliche Haushalte werden so stückweise von den Finanzmärkten entkoppelt, um diese im Gegenzug einem umfassenden technokratischen Überwachungsrahmen jenseits parlamentarischer Entscheidungsprozesse unterzuordnen. Der Konsolidierungsdruck erfolgt also nicht mehr allein marktvermittelt, sondern zunehmend über direkte autoritäre Eingriffe. Jenseits der Kürzungen von öffentlichen Ausgaben liegt der Fluchtpunkt der herrschenden Projekte zur Restrukturierung der EU also darin, die Risiken der schockartigen Vernichtung finanzialisierten Kapitals im finanzdominierten Akkumulationsregime durch ein weit verzweigtes System von ex ante Überwachungsverfahren und ex post Stabilisierungsmechanismen beherrschbar und kontrollierbar zu machen. Interessant ist, dass in diese Rekonfiguration viele ursprünglich linke Forderungen wie die nach Eurobonds[vi] Eingang gefunden haben und im verzweigten Stabilisierungssystem funktional werden sollen. Sie werden jedoch nur Schritt für Schritt im Gegenzug zur Umsetzung radikaler Sparmaßnahmen und der Abgabe parlamentarischer Kompetenzen umgesetzt.
- Die neue Integrationsstrategie führt dazu, dass sich die Konflikte um die Entwertung von Kapital in die europäischen Staatsapparate hinein verlagern. Trotz seiner zunehmenden institutionellen Festigung bleibt dieser neue Integrationsschub jedoch brüchig. Denn die grundlegende Ursache für die Krisenhaftigkeit des finanzdominierten Akkumulationsregimes – die Finanzialisierung überakkumulierten Kapitals und die daraus folgenden Widersprüche – sind weiter ungelöst. Die Ausweitung der gemeinschaftlichen Haftungssysteme verschärft daher die Konflikte darum, für welche Risiken gehaftet wird und welche Vermögen im Gegenzug entwertet werden und verschiebt sie immer stärker in die europäischen Staatsapparate selbst. Dijsselbloems Äußerungen und die darauf folgenden Reaktionen müssen vor diesem Hintergrund ernst genommen werden: In ihnen kommt zum Ausdruck, dass die Frage, welche Kapitalvernichtung durch die europäischen Haftungssysteme und die EZB aufgefangen und welche an private Investoren „zurückgedrängt“ werden, zu immer heftigeren Auseinandersetzungen im europäischen Machtblock führt.
- Auf wackligem Grund: Die neue Integrationsstrategie kann weder auf eine solide konjunkturelle Entwicklungsperspektive noch auf die Unterstützung breiter Bevölkerungsteile bauen. Die Konsolidierung dieses neuen Integrationsschubs bleibt auch deshalb brüchig, weil ihr keine konjunkturelle Erholung gegenübersteht. Die Austeritätspolitik hat nicht nur zu sozialer Verwüstung geführt, sondern auch für viele Jahre jede Aussicht auf ein neues Entwicklungsmodell in den peripheren Ökonomien der EU verstellt. Während der europäische Binnenmarkt zerstört wird, soll die Wettbewerbsfähigkeit der sogenannten Krisenländer durch Lohnkürzungen, Schwächung der Gewerkschaften und den Abbau von Arbeitsstandards, Mindestlöhnen und anderen sozialen Rechten wiederhergestellt werden. Anders als der exportorientierte, um Deutschland herum organisierte ökonomische Block haben viele Ökonomien Südeuropas jedoch kaum Produktionsspezialisierungen ausgebaut, die auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig wären. Daher ist es eine Illusion zu glauben, durch Austerität und Lohnzurückhaltung entstünde von heute auf morgen eine neue ökonomische Entwicklungsperspektive. Wahrscheinlicher ist, dass es zu einer noch stärkeren Konzentration auf wenige Produktionsstandorte innerhalb Europas kommt und sich die wirtschaftlichen Ungleichgewichte weiter verschärfen. Die Krisenursachen bleiben also ungelöst, es findet kein neuer Akkumulationszyklus statt. Weil das Kapital im Zuge der Austeritätspolitik von stärkerer Besteuerung verschont wurde, wird das überschüssige Kapital auch nicht durch die öffentlichen Haushalte absorbiert, sondern weiter spekulativ angelegt. Eine enorme Kapitalballung steht immer kleiner werdenden Investitionsmöglichkeiten gegenüber.
[iii]http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/zypern-helfer-dijsselbloem-in-der-kritik-waehle-deine-worte-weise-1.1633569
[iv] Quelle: http://www.ecb.europa.eu/stats/money/aggregates/bsheets/html/outstanding_amounts_2013-01.en.html, eigene Berechnung.
[v]http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/eu-hilfspaket-fuer-zypern-abgabe-trifft-russische-bankkunden-hart-a-889367.html
[vi] Von der Europäischen Kommission als „Stabilitätsanleihen“ bezeichnet, vgl. http://ec.europa.eu/commission_2010-2014/president/news/archives/2012/11/pdf/blueprint_en.pdf, S. 13.