Ein gutes halbes Jahr ist seit der schweren, existenzbedrohenden Niederlage unserer Partei bei den Bundestagswahlen vergangen. Mit dem Abschneiden bei den Landtagswahlen im Saarland ist der innerparteiliche Handlungsbedarf noch einmal deutlich geworden. Eine Haltung, in der zurückgehende Zustimmung nur ungünstigen Umfeldbedingungen, der Böswilligkeit äußerer oder innerparteilicher Gegner*innen zugeschrieben wird, ohne die Frage nach eigenen Fehlern zu stellen, wird den politischen und organisatorischen Zerfallsprozess nicht stoppen können.
Zweifellos haben die großen gesellschaftlichen Fragen der letzten Jahre in der LINKEN zum Teil größere Differenzen ausgelöst und zu Polarisierungen geführt, die sich verhärtet haben. Das ist für ein »Organ der politischen Willensbildung«, sollte es nicht gelingen, die eigenen Widersprüche in einer ausstrahlungsfähige Mehrheitsposition aufzuheben, nicht gut.
Flucht und Migration, Klimawandel und Pandemie - das waren alles Themen, bei denen unsere Partei ihre innere Zerstrittenheit und Unversöhnlichkeit demonstriert hat. Selbst dort, wo Parteitage eindeutige Mehrheiten ergaben - und sei es nur für einen Formelkompromiss -, wurde dies von medienmächtigen Einzelpersonen und Strömungen unter Verweis auf den pluralistischen Charakter der Partei öffentlich bekämpft. Die Partei auf Bundesebene demonstrierte in der Regel ihre Selbstbezogenheit und Selbstzufriedenheit.
Bei den geneigten Wähler*innen musste zunehmend der Eindruck entstehen, in der Bundestagsfraktion und den Bundesgremien der LINKEN geht es im Zweifelsfall um den innerparteilichen Sieg, dabei nicht einmal in der Sache, sondern nur um Posten und innerparteilichen Einfluss. Damit hat die Bundespartei für den größten Teil ihres Wähler*innenpotentials ihre Funktion verloren. Dass dies in manchen Bundesländern (insbesondere in denen die LINKE an der Regierung beteiligt ist) noch anders ist, kann kaum beruhigen. Das Saarland hat überdeutlich gemacht: Wenn inhaltliche Blockaden und unversöhnliche Feindschaft eine Partei dominieren, führt das zu politischem Siechtum.
Der imperialistische und völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat die Krise der LINKEN weiter verschärft. Selbstverständlich ist das verglichen mit den menschlichen und politischen Verheerungen des Krieges und seiner noch kaum in Gänze abzusehenden Folgen im Weltmaßstab ein fast zu vernachlässigenswerter Kollateralschaden. Hier aber soll es die dringende Notwendigkeit verdeutlichen, dass wir als Bundespartei vor neuen Fragen stehen. Nicht nur die »Putin-Versteher« in Gesellschaft und Partei waren von dem Überfall auf die Ukraine überrascht, sondern auch die meisten »Russland-kritischen« LINKEN-Mitglieder auf allen Ebenen konnten sich das bis zum letzten Moment nicht vorstellen. So ging es auch einem großen Teil der bundesdeutschen Bevölkerung.
Dieser politische Schock öffnete ein kleines Zeitfenster, in dem tatsächlich strömungsübergreifend fast alle die völkerrechtswidrige Aggression Russlands verurteilten. Selbstverständlich bedeutete diese gemeinsame Verurteilung noch keine Gemeinsamkeit bezüglich der Antwort auf die Frage, welche Schlussfolgerungen sich anschließen müssten.
Schon nach der Bundestagswahl haben wir uns als LINKE die Aufgabe gestellt einen Verständigungsprozess zur inhaltlichen Weiterentwicklung einzuleiten, in dem es unter anderem um die friedliche Außenpolitik und einen solidarischen Internationalismus gehen soll, um einen neuen Aufbruch im Osten und den sozial-ökologischen Umbau von Wirtschaft und Infrastruktur.
Es ist dazu aufgerufen worden, die politische Funktion der Partei unter den heutigen gesellschaftlichen Bedingungen neu zu definieren, einen neuen Grundkonsens zu formulieren. Die beiden Vorsitzenden haben formuliert, »bei der notwendigen Klärung unserer Gemeinsamkeiten nicht einfach zu politischen Antworten zurückkehren, die in der Zeit des Widerstands gegen die Wendepolitik des Westens oder gegen die Agenda-2010-Politik der Nullerjahre richtig waren«. Die Frage, wie DIE LINKE 2025 aussehen will, liegt auf dem Tisch. Es wurde konstatiert, dass wir eine programmatische Diskussion brauchen, und zu Mut aufgerufen, »politische Fragen zu klären und neue Kompromisse für eine zukünftige Zeit zu finden«. Eben weil es »Zeit für eine erneuerte sozialistische Partei« ist: »Nur wenn wir uns verändern, können wir wieder Vertrauen gewinnen.«
Viele haben sich bereits an dieser Diskussion beteiligt. Aber es fehlt an einem verbindlichen, Vertrauen stiftenden Prozess. Außerdem kommt zu oft nicht der aufklärerische Grundsatz »An allem ist zu zweifeln«, von Karl Marx seiner Tochter Jenny in den Fragebogen geschrieben, zur Anwendung. Sondern es wird immer noch auf vermeintlich ewige Wahrheiten verwiesen. Das führt zur Vermeidung von Diskussionen, und dies ist eines der zentralen Probleme. Die Fähigkeit zur Selbstkritik und die Fähigkeit, eigene Schwächen zu erkennen, zu bearbeiten und zu überwinden sind ein wichtiger Schlüssel, um der Partei eine Zukunft zu geben.
Das Ziel
Zurzeit wird kaum jemand in der LINKEN widersprechen, dass »Erneuerung« nötig ist, allein: Es werden die unterschiedlichsten Dinge darunter verstanden, die widerstreitendsten Motive damit verbunden. Wo auch immer die Diskutant*innen ansetzen mögen, bei Personalfragen, bei Strategiefragen, bei Organisationsfragen, bei Kommunikationsfragen und so fort - beziehen sich mögliche Antworten immer auf ein Fundament, das darunter liegt: Wie erklären wir uns die Welt, in der wir agieren? Welches übergeordnete Motiv treibt uns an? Wie eignen wir uns mögliche Zukünfte an?
Aus guten Gründen ist nach dem historischen Scheitern des staatsautoritären Nominalsozialismus 1989/1990 innerhalb der Linken eine gewisse Skepsis gegenüber »Weltanschauungen« entstanden. Aus ebenso guten Gründen aber wird immer wieder darauf hingewiesen, dass es eine »linke Erzählung« braucht, etwas, das über Programme und Tagespolitik der LINKEN hinausreicht.
Es geht um den Horizont, auf den eine LINKE zustrebt, das Versprechen, das sie attraktiv macht, den Glutkern, der auch die Herzen jener wärmt, die sich noch nicht als Teil der Linken oder der LINKEN sehen. Es geht um eine Brücke, die unterschiedliche Formen des Wissens, der Überlieferung, der Erfahrung und des Empfindens in unserer Partei verbindet; um etwas, das Zusammenhalt über tagesaktuelle Kontroversen, über Generationenkonflikte, ja auch über machtpolitische Rangeleien hinaus schafft.
Wir gehen von den kategorischen Imperativen bei Marx aus. Es geht also darum, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist«, und für Verhältnisse einzutreten, »worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.
Die Voraussetzungen für Freiheit, Gleichheit und demokratische Kooperation sind nicht ohne die Errungenschaften der »bürgerlichen Gesellschaft« zu denken. Moderne Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte tragen immer weiter wachsende emanzipatorischen Potenziale in sich. Unter kapitalistischen Verhältnissen wurden demokratischen Beteiligungsformen und individuelle Freiheitsrechte »von unten« erstritten und abgerungen, teilweise »von oben« hervorgebracht. Sie bilden ein stets umkämpftes Feld.
Erreicht werden die politischen Ziele der LINKEN im Schoße der alten Gesellschaft, hier agieren wir um einer besseren Zukunft willen. Da, wo die Emanzipation des Individuums voranschreitet, wollen wir dies ausbauen, vorwärtstreiben und so »aufheben«. Da, wo Verhältnisse herrschen, die diese befreienden Potenziale fesseln sowie Gewalttätigkeit, Ausschluss, Ungleichheit und Naturzerstörung produzieren, setzen wir alles daran, sie zu überwinden.
Wirkliche Veränderung entsteht aus Erfahrungslernen, baut auf dem bisher Erreichtem auf, ist also tätige Praxis, nicht eine Frage des bloßen Willens. Für eine LINKE heißt das, sich nicht nur über Akte der Befreiung dieser Potenziale Gedanken machen zu dürfen, sondern auch darüber nachzudenken, wie diese Potenziale unter den falschen Bedingungen trotzdem »in richtige Richtung« weiter wachsen.
Der Weg
Die eigentlich radikale Haltung besteht darin, alle Spielräume für Veränderungen zu nutzen, zugleich aber die Begrenztheit der möglichen Teilschritte zu politisieren, ehrlich über sie zu reden: »Die Interessen von Kapital und Arbeit materialisieren sich in der kapitalistischen Eigentums- und Aneignungsordnung. Diese Struktur stellt eine Dynamik auf Dauer, die den Reproduktionsinteressen der Arbeit (sowie der Gesellschaft und der Natur) entgegensteht und erzielte Erfolge stets zum Gegenstand neuer Kämpfe werden lässt. Sollen die Ideen von sozialer Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Solidarität und Humanität nicht an dieser Struktur zerschellen, muss sie selbst früher oder später zum Objekt normativ orientierter Transformationen werden.« (Hans-Jürgen Urban)
Veränderung hat das Ziel und also heißt, dem Selbstbestimmungsanspruch der Menschen durch Erweiterung ihrer Teilhabemöglichkeiten und Eröffnung praktischer Erfahrungsprozesse gerecht zu werden. Damit rückt die umfassende gesellschaftliche Demokratisierung ins Zentrum sozialistischer Politik. Ausgehend davon werden Strukturveränderungen zu Zwischenzielen, die Ausweitung der Mitbestimmung ermöglichen; strukturverändernde Reformen in diesem Sinne verbessern nicht nur den Alltag hier und heute, sie stellen zugleich die Voraussetzung zu weiteren Veränderungen dar.
Daran misst sich sozialistische Politik: Welchen Beitrag sie dazu leisten, die Logik der privaten Aneignung des gesellschaftlich produzierten Reichtums strukturell zurückzudrängen durch die Ausweitung des demokratischen Öffentlichen, die Zurückdrängung von Marktdenken und Profitlogik zu Gunsten des Maßstab gesellschaftlicher Gebrauchswerte. Ohne die Mobilisierung von Mehrheiten für dieses Ziel wird Fortschritt, wie wir ihn denken, nicht zu haben sein.
Die notwendige sozial-ökologische Transformation, die Bewältigung des Klimawandels, der solidarische Umgang mit Flucht und Migration, die Herstellung von Resilienz angesichts von Pandemien, Naturkatastrophen und Kriegen werden sich nur mit einer Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder ins Werk setzen lassen. Und das wiederum wird sich kaum sinnvoll als linkes Projekt von oben, schulmeisternd oder gar repressiv durchsetzen lassen.
Aufklärung, Debatte und Überzeugung müssen Methode und Instrument linker Politik sein. Gleichzeitig werden Mehrheiten nicht mit fernen zukünftigen Heilsversprechen zu gewinnen sein. Unsere Ideen sollen im Hier und Jetzt schon Verbesserungen und praktische Problemlösungen anbieten.
Die Diskussion
Lange hat sich linke Politik in den kapitalistischen Metropolen eher über Abgrenzung, Distanz und Nähe zu sozialdemokratischen Politiken definiert als über eine eigne demokratisch-sozialistische Gesellschaftsvorstellung - das gilt auch für die LINKE. Entstanden unter anderem aus der Kritik zum damals neoliberalen Kurs der SPD, stand die Ablehnung der Agenda-Politik im Zentrum der Tagespolitik. Das hat viele Menschen mobilisiert, hat auf die politische Diskussion eingewirkt (Mindestlohn). Es entstand aber auch der Eindruck, SPD und Grüne seien bundespolitisch der »Hauptfeind«, während wir als LINKE landespolitisch mit ihnen koalieren.
Sicher wurden nicht wenige Fehler in den Landesregierungen gemacht und von Linken mitgetragen. Die selbstkritische Aufarbeitung der eigenen Praxis, ihrer Begrenzungen und Widersprüche, ist und bleibt Treibstoff für jede linke Formation. Genauso aber bedarf es der fortwährenden Prüfung und souveränen Selbstverständigung darüber, auf welchen Grundwerten die Politik der LINKEN gründet und welche Gesellschaftsvorstellungen eine demokratisch-sozialistischen Partei verfolgt. Hier haben wir Rückstand aufzuholen. Zu oft wurde versucht, die LINKE vor allem als linkssozialdemokratische Partei zu erzählen, welche die besseren Forderungen als die SPD stellt und deren wahre Erbin sei. Dies entpuppte sich spätestens dann als Illusion, als der Neoliberalismus als vorherrschende Ideologie schon in der Großen Koalition auf Bundesebene erodierte.
Während auf der Bundesebene die innerparteiliche Selbstblockade seit spätestens dem Göttinger Parteitag politische Weiterentwicklung und Erneuerung gebremst und erschwert hatte, entwickelte sich auf Ebene der Landesverbände insbesondere in der Auswertung von Erfolgen, Fehlern und Niederlagen in den rot-roten Landesregierungen eine produktive Diskussion. Niemand wird behaupten, dabei wurde alles richtig bedacht; aber wir sehen hier Ansätze für die vor uns liegende Diskussion über linke Politik, ihre Grundwerte, ihre Chancen und Grenzen; darüber, was die LINKE sein will und welche Funktion sie in einer Gesellschaft hat, die sich schnell und gravierend verändert.
Die Vorstellung, linke Regierungsbeteiligung könne sich darin erschöpfen Korrektiv für die SPD (oder die Grünen) zu sein hat, sich dabei schnell überlebt. Das »Warum« und »Wie« unseres Handelns macht die LINKE in Regierung ausstrahlungs- und mobilisierungsfähig. Nicht Besserwisserei und Abgrenzung, nicht das Ausruhen auf angeblichen Alleinstellungsmerkmalen, sondern die politische und gesellschaftliche Suche nach Anschluss- und Bündnisfähigkeit bringen uns voran. Sowohl bezüglich Wähler*innenstimmen als auch gesellschaftlicher Verankerung.
Das »Warum« und »Wie« sollten immer in unseren politischen Forderungen und Konzepten erkennbar und nachvollziehbar sein. In diesem Sinne steht noch vieles an Debatten vor uns. Diskussionen, in denen wir das Gute bewahren und das Bessere finden; eine Weiterentwicklung, die uns wieder stärker zusammenbringt und andere wieder neugieriger auf die LINKE macht; eine Selbstverständigung, bei der wir gewinnen können: Zukunft und Zustimmung.
Eine Gelegenheit ist der LINKE Ratschlag am 21.5., eine andere die Initiative Solidarische Linke. Und es werden sich weitere Möglichkeiten finden. Sicher aber ist: Viel Zeit bleibt uns nicht. Die Diskussionen und die daraus resultierende Praxis in den Landesverbänden mit linken Regierungsbeteiligungen werden dabei hilfreich sein.