Mario Candaias' 15 Thesen zur Strategie der Linken haben eines bereits bewirkt: Sie haben eine dringend notwendige Strategiedebatte innerhalb der gesellschaftlichen Linken angestoßen, bei der die allgemeine Analyse der aktuellen Entwicklung der Krise des globalen Kapitalismus mit konkreten Fragen der politischen Intervention und einer linken Partei in Deutschland in Zusammenhang gebracht wird. 


Die Thesen von Mario Candeias und die Repliken von Ines Schwerdtner und Andreas Fisahn kreisen dabei vor allem um die Frage, inwieweit noch von einer offenen gesellschaftlichen Situation gesprochen werden kann. Während Mario Candeias zwar Widersprüche und Konflikte innerhalb und außerhalb des grün-kapitalistischen Projekts benennt, sieht er dessen hegemoniale Stellung für die kommenden Jahre oder sogar Jahrzehnte dennoch als relativ gesichert an. Andreas Fisahn verweist dagegen sowohl auf die Dynamik des rechten Hegemonieprojekts, dass den fossilen Kapitalismus bis aufs Äußerste zu verteidigen versucht, als auch auf die progressiven Potenziale das grünen Kapitalismus, dessen Staatsinterventionismus über den Kapitalismus selbst hinausweisen könnte. Ines Schwerdtner geht ebenfalls davon aus, dass die Chancen für eine linke Offensive in der gegenwärtigen Situation eher zunehmen, sofern eine reale Praxis der Klassenpolitik, die an Arbeitskämpfen und gewerkschaftlicher Organisierung anknüpft, entwickelt werden kann.

Keine »offene Situation«

Die Frage ist: Bestand zu Beginn der gegenwärtigen vierten großen Krise des globalen Kapitalismus, die mit der internationalen Finanzkrise 2008 ihren Anfang nahm und die auf die großen Krisen nach 1873, 1929 and 1973 folgt, überhaupt eine "offene Situation"?


Zwar schien der Neoliberalismus damals diskreditiert, ein keynesianischer Paradigmenwechsel unvermeidbar. Doch die neoliberalen Konzepte, Institutionen und sie tragenden Kräfte, die von der neoliberalen Internationalisierung des Kapitals profitierten, saßen fest im Sattel. Nachdem die Banken gerettet waren, wurde in der Eurokrise eine neue Welle neoliberaler Strukturpolitik eingeleitet. Sie gipfelte in der Erpressung der griechischen Linksregierung durch die Europäische Zentralbank im Sommer 2015. Tatsächlich hat es mehr gebraucht als eine globale Finanzkrise, um den Neoliberalismus zum Straucheln zu bringen. Erst der kombinierte Effekt der Pandemie, der immer deutlicher werdenden Verknappung natürlicher Ressourcen, der sich auch im globalen Norden materialisierenden Kimakatastrophe und der Eskalation geopolitischer und ökonomischer Konflikte mit Russland und China führt nun zu einer Konstellation, in der die politischen Leitsätze der letzten Jahrzehnte das erste Mal ernsthaft zur Disposition gestellt werden können.


2008 war die Situation zwar noch dahingehend offen, als dass ein katastrophenartiger Verlauf des Klimawandels, der nun nicht mehr verhindert, nur noch abgemildert werden kann, theoretisch noch aufzuhalten gewesen wäre. Theoretisch,­ denn die realen Kräfteverhältnisse waren damals von einer sofortigen sozial-ökologischen Industriekonversion, die es gebraucht hätte und die es auch heute noch braucht, um die Emissionen drastisch zu senken, himmelweit entfernt. Das Argument lässt sich auf eine krisentheoretische Ebene verlängern und zuspitzen: Insgesamt ist es irreführend, in einer organischen Krise von einer "offenen Situation" zu sprechen. Zwar entsteht eine chaotische Zwischensituation, die Antonio Gramsci folgend als "Interregnum" bezeichnet werden kann. Dieses kommt dadurch zustande - und darin liegt der organische Charakter der Krise begründet - dass die politisch und ökonomisch Herrschenden zwar nicht mehr in der Lage sind, mit ihren Narrativen und politischen Werkzeugen die Krise in den Griff zu bekommen, dass sie aber zeitgleich noch stark genug sind, um Alternativen zu verhindern. Das Interregnum ist also nicht offen, sondern im Gegenteil machtpolitisch stark verengt. Eine offene Situation entsteht erst dann, wenn alternative Projekte über eine ausreichende materielle Basis verfügen, um sich durchzusetzen und zu stabilisieren.

Zweite Phase der organischen Krise

Was wir derzeit beobachten können, ist sowohl eine Vertiefung des Interregnums (das heisst den etablierten politischen Kräften entgleitet das Krisenmanagement zunehmend, während sie politische Alternativen in zunehmend autoritärer Weise bekämpfen), als auch die beschleunigte Herausbildung von Tendenzen zur  Überwindung des Interregnums. Diese Tendenzen benennt Mario Candeias mit dem erstarkenden grün-kapitalistischen Projekts, das mit dem Aufstieg des chinesischen Kapitalismus, geopolitischen Konflikten und einer selektiven Deglobalisierung einhergeht. Dieser Prozess ist nicht abgeschlossen, er steht an seinem Anfang. In einem Luxemburg-Artikel vom Frühjahr 2022 spreche ich von einer "zweiten Phase" der organischen Krise, die durch eine qualitativen Intensivierung und Beschleunigung der Krise(n) gekennzeichnet ist: "Standen wir bisher am Anfang der vierten großen Krise des Kapitalismus, treten wir nun möglicherweise in eine zweite Phase der Krisendynamik ein. Diese ist durch vermehrte geopolitische Konflikte und Blockbildungsprozesse gekennzeichnet, die wiederum die ökonomische Krise und die Krise der Demokratie vorantreiben. Das Verhältnis von Kontinuität und Bruch in der Transformation des globalen Kapitalismus in seiner organischen Krise lässt sich dabei nicht vorhersehen."


Wir stehen heute also ebensowenig vor einer völlig offenen Situation wie 2008. Die ökologische Krisendynamik, die Verwertungsbedingungen des Kapitals und die geopolitische Ausgangssituation bestimmen den politischen Handlungskorridor. Jedoch verändert die Krise des globalen Kapitalismus ihr Gesicht, sie wird immer mehr zu einer sich beschleunigenden Transformation des globalen Kapitalismus und seiner politischen Regulierung. Die intensivierte Krisen- und Transformationsdynamik hat widersprüchliche Auswirkungen auf die Ausgangsbedingungen linker Politik, was die unterschiedlichen strategischen Einschätzungen erklärt. Gefahren einer "pro-kapitalistischen" Verschließung des Diskurses, sei es durch "liberale" oder durch rechte Kräfte, nehmen ebenso zu wie die Möglichkeiten einer neuen Kapitalismuskritik und einer post-neoliberalen Gouvermentalität.

Gibt es einen Paradigm Shift? 

Im reformorientierten ThinkTank-Umfeld rund um Grüne und SPD ist schon länger von einem wirtschaftspolitischen "Paradigm Shift" die Rede. In einer Anfang des Jahres veröffentlichten Studie des ThinkTanks Forum for a New Economy wird nachgezeichnet, wie insbesondere in internationalen Organisationen wie der Weltbank oder der OECD marktfundamentalistische Ansichten nach und nach relativiert wurden. Sowohl Andreas Fisahn als auch Ines Schwerdtner verweisen in ihren Repliken zurecht auf die neue industriepolitische Ausrichtung der USA und der EU. Tatsächlich steckt hinter dieser staatsinterventionistischen Wende ein Potential für linke Politik, auch wenn – und das scheint Anlass für Mario Candeias' pessimistische Thesen zu sein – sich diese Wende vor allem vor dem Hintergrund der Erschließung neuer Akkumulationsfelder und einer neuen ökonomischen Blockkonfrontation abspielt und damit stark durch imperialistische Strategien geprägt ist. Das Problem in der jetzigen Situation ist jedoch, dass die politischen Kräfte und wirtschaftspolitischen Konzepte noch zu unterwentwickelt sind für eine Intensivierung der neuen kapitalistischen Planung und der kombinierten Entwicklung post-kapitalistischer Formen ökonomischer Planung. Stattdessen müssen wir uns immernoch mit einer FDP herumschlagen, die in der aktuellen haushaltspolitischen Debatte auf einen Sparkurs setzt und das industriepolitische Rad zurückdrehen möchte. 


Die Vergabe von Millionensubventionen und -krediten an private Konzerne vor dem Hintergrund der nun so oder so anbrechenden kapitalistischen Transformation öffnet Tür und Tor für die Rückkehr zu den wirtschaftspolitischen Debatten der 70er Jahre. Die Sozialdemokratie stand damals in der Krise des Keynesianismus vor der Entscheidung, ob sie vor marktliberalen Konzepten einknicken oder aber eine programmatische Radikalisierung in Richtung stärkerer Investitionslenkung und Wirtschaftsplanung anstreben sollte. Es würde daher eher darum gehen, im Gegensatz zur Formulierung von Andreas Fisahn, das "Alte im Neuen" überhaupt erst wiederzuentdecken. Es geht um die Konkretisierung der ökonomischen Programmatik, die seit Beginn der Krise 2008 vage geblieben ist.  Über notwenige Formen der sozialen Umverteilung durch Kapitalbesteuerung und Vermögensabgaben hinaus geht es um eine konkrete Gesamtstrategie für den Umbau der Ökonomie - um Preiskontrollen, Kapitalverkehrs- und Investitionskontrollen, Investitionsplanung, Industriekonversion, Vergesellschaftung und schließlich um den Aufbau post-kapitalistischer Formen demokratischer ökonomischer Planung. In der oben zitierten Studie des Forum for a New Economy, die einen bereits stattfindenden ökonomischen Paradigmenwechsel diagnostiziert, fehlen diese Forderungen (mit Ausnahme des Preiskontrollen-Ansatzes von Isabella Weber). Weder das reformorientierte TinkTank-Umfeld um Grüne und SPD (der sogenannte "New Economy Space"), einschließlich der gewerkschaftsnahen Institute, noch Grüne und SPD selber werden diese Konzepte von sich aus aufnehmen und hegemoniefähig machen. Stattdessen müssen sie aus der gesellschaftlichen Linken, aus gewerkschaftlicher Basisorganisierung sowie aus sozialen Bewegungen und parteipolitischen Initiativen heraus entwickelt und eingebracht werden. Die Debatte um die Zukunft LINKEN setzt genau hieran an.

Die LINKE als radikale Wirtschaftspartei

Der Fokus auf eine radikale ökonomische Programmatik entlang von Umverteilung, Vergesellschaftung und Planung markiert den Kompass für eine Neuausrichtung (oder "gar disruptive Neugründung") der LINKEN. Natürlich ist die LINKE nicht immun gegen die Angriffe im sogenannten “Kulturkampf” und milieubedingte Widersprüche ihrer gesellschaftlichen Basis, die von einer solchen ökonomischen Programmatik wegführen. Doch in allen aktuellen Diskursen und Themen, ob Krieg, Inflation, Migration oder Klima, lässt sich ein klassenpolitischer Standpunkt – für ökonomisch Schlechtergestellte und die lohnabhhängige Klasse in ihrer Verschiedenheit, gegen Konzerne und Reiche – sichtbar machen, ohne sich auf mediale Spielchen einzulassen, die von Umverteilungsfragen ablenken sollen. Dazu ist es durchaus hilfreich, sich taktisch zu verhalten in Bezug auf bestimmte Programmatiken, die in der Öffentlichkeit als "Extrempositionen" gebrandmarkt sind, um Scheindebatten um 'Wokeness' und angebliche Arbeiter*innenferne zu unterbinden. 


Es gibt ein reales Wähler*innenpotenzial, das durch verschiedene Milieus verläuft und an einer weitereichenden Umverteilungspolitik interessiert sind, ohne dafür Migrationskritik und Offenheit gegenüber Verschwörungstheorien mit einzukaufen. Opposition zum politischen Establishment lässt sich auch anders haben als mit Kritik am Gender-Sternchen: nämlich mit einer radikalen ökonomischen Programmatik, die auch vor Vergesellschaftung zur Lösung sozialer Probleme und zur Beschleunigung des notwendigen ökologischen Umbaus nicht zurückschreckt.

Ohne Spaltung geht es nicht weiter 

Ein solcher verbindender linker Ansatz, der linke Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik strategisch klug miteinander vermittelt, kann sich ohne eine Spaltung der Linkspartei allerdings gar nicht erst herausbilden. Er verhält sich oppositionell zum Wagenknecht-Projekt, das moderate linke Sozialpolitik mit moderat rechter Kulturpolitik verbinden möchte. Dass es der "sozialkonservativ-oppositionellen Gruppe" (Raul Zelik) rund um Sahra Wagenknecht darum geht, reformerische Sozialpolitik mit Migrationskritik und konservativer Kulturpolitik zu kombinieren und eine sozial-konservative Partei nach dem Vorbild der dänischen Sozialdemokratie zu etablieren, wurde bereits bei der Gründung von "Aufstehen" offen kommuniziert. Die Spaltung ist seitdem bereits angelegt und in Vorbereitung. Dass die Inkompatibilität dieses Ansatzes mit der pluralen LINKEN und einer verbindenden Klassenpolitik nicht von Anfang an klar gesehen wurde und bis heute zentristische Kräfte in der Partei versuchen, das Unvermeidliche aufzuhalten, hat der Partei stark geschadet und das Zeitfenster für einen echten Neuanfang empfindlich schrumpfen lassen. 

Populäre Klimapolitik als Klassenprojekt

Doch auch wenn die Abspaltung des Wagenknecht-Projekts in der zweiten Jahreshälfte 2023 am Konturen gewinnen sollte, stellt die Nutzbarmachung der oben beschriebenen kapitalistischen Transformation für linke Politik im Rahmen einer radikalen ökonomischen Programmatik durch die Rumpf-Linkspartei noch lange keinen Selbstläufer dar. Es wird auf konkrete politische Initiativen und Konzepte ankommen, die in der Lage sind, durch die kulturpolitischen Nebelkerzen im öffentlichen Diskurs durchzudringen und harte verteilungspolitische Debatten anzustoßen. Naheliegenderweise wird sich die LINKE zur Bundestagswahl hin auf eine populäre Wirtschafts- und Klimapolitik ausrichten müssen, die radikale Klima- und Sozialpolitik miteinander verbindet. Privatjets verbieten, Bahnpreise halbieren, Übergewinne enteignen, Wohnungs-, Energie- und Nahrungsmittelpreise kontrollieren und deckeln – es muss ökonomisch schlechter Gestellten ersichtlich werden, dass radikale Klimapolitik zwar Einschnitte bedeuten, aber teilweise auch Verbesserungen mit sich bringen kann und dass Reiche und Konzerne noch härtere Einschnitte hinnehmen müssen. 

Der Impuls muss aus der gesellschaftlichen Linken kommen

Die entsprechenden Bausteine – radikale ökonomische Programmatik, taktisch kluge Vermittlung linker Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik, populäre Klimapolitik – müssen dabei auch von außen, in der gesellschaftlichen Linken entwickelt und von der Partei die LINKE aufgenommen werden. Durch solch einen Prozess der von außen mit vorangetriebenen inneren Erneuerung wird sie auch für enttäuschte Grünen- und SPD-Wähler*innen, die die LINKE bisher aus habituellen Gründen nicht wählen konnten, wählbar. Der offene Brief gegen die Ernennung von Klaus Ernst zum Vorsitzenden das klimapolitischen Ausschusses, oder auch – ohne direkten Bezug zur LINKEN – der unter anderem von Herbert Grönemeyer initiierte offene Brief zur Kritik an der Migrationspolitik der Ampel, weisen in die richtige Richtung.