Dieser Text ist ein vorab veröffentlichter, gekürzter Auszug aus der Studie „Machtaufbau in Tarifverhandlungen. Fallbeispiele aus den USA und Deutschland” von Jane McAlevey und Abby Lawlor, das in Kürze erscheint.

 

 


Die Art und Weise, wie Gewerkschaften Tarifverträge verhandeln, ist eine strategische Frage. Die Verhandlungen zwischen Arbeitgeber*innen und gewerkschaftlich organisierten Beschäftigten finden meistens hinter verschlossenen Türen statt. Nur selten nehmen die Gewerkschaftsmitglieder direkt daran teil, obwohl die Verhandlungen entscheidenden Einfluss auf ihr Leben haben können. In der Regel sind es Kommissionen aus nur relativ wenigen haupt- und ehrenamtlichen Gewerkschafter*innen, die die Gespräche im Namen der Beschäftigten führen. In unserer Studie „Machtaufbau in Tarifverhandlungen” zeige ich, dass es anders geht: anhand von konkreten Kämpfen, in denen es gelungen ist, massenhafte Beteiligung am Verhandlungsprozess herzustellen. Wir möchten damit zu einer tiefgehenden Diskussion über Tarifverhandlungen anregen: Wie können sie anders geführt werden, so, dass sie zum Machtaufbau beitragen und nicht demobilisierend wirken? Und welche Rolle spielen dabei die Gewerkschaftsführung und demokratische Entscheidungsfindungsprozesse? 

Mehr Macht durch offene Verhandlungen

Am Verhandlungstisch sitzt in den USA normalerweise eine kleine Kommission, die aus Vertreter*innen des unteren und mittleren Managements und deren Anwält*innen besteht, sowie aus einer gleich großen Kommission aus gewählten Vertreter*innen der Beschäftigten. Die Mitglieder dieser Tarifkommission werden üblicherweise bezahlt und sie verhandeln während ihrer normalen Arbeitszeit. Die Verhandlungsführer*innen für die Gewerkschaft sind entweder gewerkschaftliche Ehrenamtliche oder Hauptamtliche mit Verhandlungserfahrung oder von ihnen beauftragte Anwält*innen. Die meisten gewerkschaftlichen Ausschüsse, die an Verhandlungen beteiligt sind, werden nicht gewählt. Sie setzen sich aus Gewerkschaftssekretär*innen zusammen, die gemäß der Satzung in die Verhandlungsdelegation entsandt werden. Die Verhandlungen folgen typischerweise Grundregeln, die von den beteiligten Partien zuvor ausgehandelt werden. Sie schreiben während der Verhandlungen oft Vertraulichkeit vor, eine Art Maulkorb-Klausel. Die Alternative dazu ist ein Prozess kollektiver Verhandlungen, in dem die gesamte organisierte Belegschaft angesprochen oder sogar unmittelbar eingebunden wird. Hier ist radikale Transparenz der Ausgangspunkt der Verhandlungen, eine Transparenz, die die Gewerkschaft grundlegend verändern und zu einer höheren Beteiligung der Basis am gewerkschaftlichem Leben führen kann. 

Das ist umso wichtiger, da das zivilgesellschaftliche Engagement in allen Organisationen einschließlich der Gewerkschaften abnimmt. Die Unternehmen führen einen unerbittlichen Kampf gegen die Beschäftigten und deren Gewerkschaften – und zumeist gewinnen sie auch. Dieser ungleiche Klassenkampf von oben hat dazu geführt, dass in den USA nur noch elf Prozent der gesamten Arbeiterschaft und nur sechs Prozent der Beschäftigten in der Privatwirtschaft tarifgebunden sind. Seit dem Jahr 2012 hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten ein gewerkschaftsfeindliches Urteil nach dem anderen gefällt. 

Vor diesem Hintergrund ist die Art und Weise, wie Gewerkschaften Verhandlungen führen, enorm wichtig. Leider funktionieren Verhandlungen heutzutage ungefähr so wie unserer Demokratie: Den Menschen wird erzählt, dass Demokratie bedeute, alle vier Jahre den Präsidenten zu wählen. So haben die Beschäftigten nur das Recht, für oder gegen den Tarifvertrag zu stimmen, der ihnen nach langen Verhandlungen vorgelegt wird. Doch wenn sie kaum in den Prozess involviert sind, bleibt die Wahlbeteiligung tendenziell gering. Wenn man demokratische Entscheidungsstrukturen im Betrieb – oder die Demokratie in einer Gewerkschaft – absichern will, reicht dieses Vorgehen einfach nicht aus.

Das extrem gewerkschaftsfeindliche Klima hat auch dazu beigetragen, dass in den USA die möglichen verhandelbaren Inhalte bei Tarifverhandlungen im öffentlichen Dienst eingeschränkt wurden. In New Jersey wollte Gouverneur Chris Christie Lehrkräften und anderen öffentlich Beschäftigten das Recht entziehen, über die betriebliche Krankenversicherung zu verhandeln. Doch trotz dieser zunehmenden Aushöhlung der Demokratie am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft können sich die meisten Gewerkschaften noch dafür entscheiden, das zu ändern – indem sie den Verhandlungsprozess öffnen und die Beteiligung von unten erhöhen. 

Doch wie kann das aussehen? Eine Grundregel für alle Verhandlungen ist, dass jede Partei ihr Team selbst wählt. Die Gewerkschaften können ihre Verhandlungsführung also tatsächlich selbst bestimmen. Die meisten Beschäftigten interessieren sich sehr dafür, was am Ende in ihrem Tarifvertrag steht, von der Lohnhöhe bis zum betrieblichen Gesundheitsschutz. Die Tarifverhandlungen sind damit eine gute Gelegenheit, genau die Solidarität in der Belegschaft zu erreichen, die es braucht, um sich zu organisieren und zu gewinnen. Nur mit einer starken Organisierung kann man auch den immer stärkeren Versuchen des Union Busting der Arbeitgeber standhalten.

Häufig versuchen Arbeitgeber, eine Art Zweiklassensystem innerhalb eines Tarifvertrags zu schaffen, um die Solidarität der Beschäftigten zu schwächen. So genießen zum Beispiel nur die Tarifbeschäftigten alle erkämpften Vorteile und alle, die nach der Unterzeichnung des Vertrags eingestellt oder in Tochterunternehmen ausgegliedert wurden, sind davon ausgeschlossen. Diese Praxis führt zu Spaltung und verschärften Konflikten. Um solche Angebote klar zurückzuweisen, müssen sich die Kräfteverhältnisse zugunsten der Arbeiter*innen verschieben. 

Transparenz schafft Beteiligung

Während meiner gewerkschaftlichen Arbeit im privaten Gesundheitswesen des Bundesstaats Nevada habe ich äußerst positive Erfahrungen mit einer Öffnung der Verhandlungen gemacht. Wir konnten feststellen, dass es immer eine gute Idee ist, im Verhandlungsraum möglichst viele Kolleg*innen dabei zu haben. Dadurch wird es möglich, die Behauptungen des Arbeitgebers in Echtzeit zu überprüfen. Wenn Beschäftigte verschiedener Branchen und Statusgruppen vor Ort sind, lassen sich Entscheidungen zudem schneller und besser treffen. Anfänglich öffnete ich einfach den Verhandlungssaal. Später setzte ich mir das Ziel, dass jeder und jede Beschäftigte einmal bei einer Verhandlung anwesend war und sei es nur für eine Stunde während des Schichtwechsels.

In Nevada öffneten wir die Tarifverhandlungen auch für Nicht-Gewerkschaftsmitglieder. Diese Gruppe einzubinden, für die der Tarifvertrag ja auch Geltung hat, war zuerst umstritten. Unser Ziel war es, die informellen Schlüsselpersonen in der Belegschaft anzusprechen, unter ihnen viele Nicht-Mitglieder, und sie aktiv darauf aufmerksam zu machen, wie ihre Kolleg*innen über die Tarifauseinandersetzungen eine neue Gewerkschaft aufbauten. Dies ist uns auch gelungen: Nachdem die Kolleg*innen den Verhandlungsraum verlassen hatten, traten sie eine nach dem anderen der Gewerkschaft bei.

2016, knapp zehn Jahre nach meiner Arbeit in Nevada, stellte mich die unabhängige Gewerkschaft der Pflegekräfte in Pennsylvania, die PASNAP, als Beraterin ein. Ich sollte die stadtweiten Tarifverhandlungen in Philadelphia koordinieren. Der Arbeitgeber, das Albert Einstein Medical Center, hatte eine berüchtigte Union-Busting-Firma engagiert, die einer Strategie des „Teile und herrsche“ folgte. Um eine handlungsfähige Belegschaft aufzubauen, war ein neuer Verhandlungsansatz nötig. Anhand dieser Auseinandersetzung im Einstein Medical Center lässt sich beispielhaft der Prozess transparenter, großer und offener Tarifverhandlungen skizzieren. Im Folgenden nenne ich einige wesentliche Instrumente dafür.

Tarifverhandlungen von unten aufbauen

Umfragen als Organisierungsmethode und Strukturtest

Viele Gewerkschaften behaupten, sie hätten vor den Tarifverhandlungen Umfragen unter den Mitgliedern durchgeführt. In den meisten Fällen erledigen dies die Vertrauensleute, noch häufiger ist es eine anonyme Umfrage-Mail an die Mitglieder. Eine solche Form der Umfrage wird oft weder von den Gewerkschaften noch von den Beschäftigten ernst genommen. Im Rahmen eines wirklich partizipativen Verhandlungsprozesses ist die Umfrage aber der erste einer ganzen Reihe von Struktur- oder Stärketests einer Tarifkampagne. Ein Strukturtest ist eine Art Mini-Kampagne, die aufzeigt, wie stark oder schwach oder sogar inexistent die eigene Organisierung im Betrieb ist.

Damit aus einer Umfrage ein Strukturtest wird, müssen die Schlüsselpersonen unter den Beschäftigten im gesamten Betrieb Einzelgespräche führen oder Gruppentreffen abhalten, und zwar systematisch. Es muss dokumentiert werden, wer die Umfrage ausgefüllt hat, um nachvollziehen zu können, ob ein bestimmtes Partizipationsziel erreicht wurde. Solche Ziele, sei es eine einfache Mehrheit, eine überragende Mehrheit, oder eine 90-Prozent-Mehrheit, sind ein zentraler Schritt für den Prozess.

Die Umfrage sollte im Idealfall nicht anonym sein, denn sie ist eine Methode zum betrieblichen Organizing, die ausdrücklich den Beziehungs- und damit den Machtaufbau unter Beschäftigten fördern soll. Das ermöglicht einen kontinuierlichen Austausch zwischen den Beschäftigten und der zukünftigen Tarifkommission. Wenn Strukturtests so durchgeführt werden, erfahren die Organizer*innen und die Kernaktiven nach der ersten Mitgliederbefragung, welche Kolleg*innen Einfluss in der Belegschaft haben und breites Vertrauen genießen – die betriebliche Schlüsselpersonen, die sogenannten organic leaders. Diesen Prozess nennt man Leadership Identification und er ist unerlässlich, um Mehrheiten im Betrieb zu gewinnen und gute Tarifverträge durchzusetzen. 

Schließlich sind Tarifverhandlungen eine ausgezeichnete Gelegenheit, auch diejenigen für die Gewerkschaft zu gewinnen, die sich sonst nur schwer gewinnen lassen, sowie jene, die erst nach den Verhandlungen eingestellt wurden. Das ist nur möglich, wenn die Mitgliederbefragung als ein Austausch gedacht ist, bei dem die betrieblich Aktiven die wichtigsten Anliegen ihrer Kolleg*innen in Erfahrung bringen. 

Breite und repräsentative Wahlen der Tarifkommission 

Nachdem eine Mehrheit der Belegschaft die Umfrage ausgefüllt hat, sollten pro Standort oder Abteilung rotierende Wahlen durchgeführt werden. Im Einstein Medical Center haben wir die Wahlen nach Abteilungen gestaffelt. Wenn die Mehrheit in einer Abteilung die Umfrage zur Tarifrunde ausgefüllt hatte, konnte sie die Kandidat*innen für die Tarifkommissionen aufstellen. Wenn diese angefochten wurde, gab es in der Abteilung eine geheime Abstimmung über die Mitglieder der Tarifkommission. Dieser Ansatz stärkt von Anfang an das Bewusstsein dafür, wie wichtig der Aufbau betrieblicher Macht für den Ausgang von Tarifverhandlungen ist. 

Die gestaffelten Wahlen der Tarifkommission sorgten für gute Stimmung, aber auch für produktiven Wettbewerb: Die jeweiligen Abteilungen gaben die Wahlergebnisse auf Plakaten bekannt und erklärten, ihre Vertreterin*innen für verhandlungsbereit. Wo die aktiven Gewerkschafter*innen nicht auf Anhieb eine Mehrheit erzielten, sorgten die Plakate der anderen Abteilungen für einen Ansporn, starke eigene Vertreter*innen zu bestimmen.

Die Größe der Tarifkommission hängt auch von der Anzahl der Beschäftigten ab. Im Einstein Medical Center wählte eine Abteilung von 1.000 Angestellten 60 Personen in die Kommission. Alle Beschäftigten durften an den Vorbereitungstreffen und den Verhandlungen teilnehmen. Von der gewählten Kommission wurde allerdings erwartet, dass sie in allen vollen Einsatz zeigte. In den größeren Abteilungen wurden Ersatzpersonen gewählt, für den Fall, dass jemand nicht von der Arbeit freigestellt werden würde. Das ist in Betrieben mit dauerhaftem Personalmangel extrem wichtig. 

Verantwortung teilen und Beteiligung organisieren

Wer Tarifverhandlungen mithilfe von Organizing-Methoden angehen möchte, steht ständig vor der Frage, wie sich noch mehr Beschäftigte einbinden lassen. Für die Einstein-Kampagne haben wir pro Forderung eine Subkommission gegründet, ein größeres Team bestehend aus Kolleg*innen, die sich für einen bestimmten Aspekt des Tarifvertrags einsetzen. Konkret habe ich in den letzten 20 Jahren jedes einzelne gewählte Mitglied der Tarifkommission und jede*n Nachrücker*in gefragt, ob sie für mindestens einen Paragraphen im Tarifvertrag zuständig sein will. Dieses Prinzip führt dazu, dass den Kolleg*innen der Zusammenhang zwischen ihrer aktiven Teilnahme und dem Erfolg der einzelnen Tarifforderungen bewusst wird. Auf diese Weise ist es außerdem möglich, während der Verhandlungen schnell und wirksam zu reagieren. Wenn der Arbeitgeber alle Gegenvorschläge auf einmal formuliert, kann jede Subkommission die einzelnen Änderungen schnell überprüfen. 

Aktions-Teams können eine Brücke zwischen den Standorten, Abteilungen und Statusgruppen auf der einen Seite und der Tarifkommission auf der anderen Seite sein. Historisch waren solche Teams ein wichtiger Akteur bei Tarifkampagnen von unten. Interessanterweise gibt es bei Verhandlungen mit großen und offenen Verhandlungskommissionen mit vielen gewählten Mitgliedern weniger Bedarf an solchen Aktions-Teams als bei kleinen Kommissionen und geschlossenen Verhandlungen. Große und transparente Verhandlungen schaffen selbst Strukturen, die in jede Abteilung reichen und verschiedene Statusgruppen aktivieren. 

Drei Regeln im Umgang mit der Gegenseite

Bei großen und offenen Verhandlungen ist es wichtig, dass sich die Arbeitnehmerseite über den Umgang mit der Unternehmensleitung einig wird, bevor sie den Raum betritt und die Verhandlungen beginnen. Im Lauf der Jahre haben alle Tarifkommissionen, mit denen ich zusammenarbeiten durfte, drei Grundregeln dafür festgelegt. Erstens: Die Beschäftigten sollten immer ein Pokerface wahren. Zweitens: Es spricht nur der oder die gewählte Verhandlungsführer*in, es sei denn, es wurde vorher anders vereinbart. Drittens: Sollten die Beschäftigten das Wort ergreifen, mit der Verhandlungsführer*in reden oder die Unternehmensleitung aus dem Raum bitten wollen, müssen sie sich mit einem Zettelchen an die Verhandlungsführung wenden. Mit der Verbreitung von Smartphones entstand noch eine vierte Regel: Keine Fotos und Tonaufnahmen, keine Handynutzung solange der Arbeitgeber im Raum ist!

Die Beschäftigten halten diese Regeln strikt ein. In den Verhandlungsräumen ist es so still, dass man eine Nadel fallen hören kann, weil sich alle ihrer Verantwortung bewusst sind. Während der Verhandlungen im Einstein Medical Center standen immer ein paar Aktive am Eingang des Verhandlungsraums. Trat ein*e Kolleg*in ein, nahmen sie die Person an die Seite, um ihr die Regeln zu erklären und sie zu bitten, eine Einverständniserklärung zu unterzeichnen. Sollte sie nicht zustimmen, wurde sie stattdessen zum nächsten Vorbereitungstreffen eingeladen. In 20 Jahren großer und offener Verhandlungen habe ich noch nie erlebt, dass jemand diese Regeln gebrochen hat. Ein Grund dafür ist die dritte Regel, die es ermöglicht, jederzeit mit der Verhandlungsführung Kontakt aufzunehmen. So lässt sich nahezu in Echtzeit kommunizieren. Der oder die Verhandlungsführer*in kann die Beschäftigten auch bitten, ihr Anliegen selbst vorzubringen oder Falschbehauptungen der Unternehmensleitung direkt zu entkräften 

Keine Geschäftsordnung!

Genauso wichtig wie die oben genannten Regeln ist es, dass sich die Tarifkommission im Vorfeld auf eine Haltung zur Geschäftsordnung einigt. In der Regel schlägt die Unternehmensseite immer eine Geschäftsordnung für die Verhandlungen vor und erwartet, dass die Gegenseite ihr automatisch zustimmt. Doch das ist nicht zwingend. Allein die Diskussion über eine Geschäftsordnung ist im Arbeitsgesetz nicht obligatorisch, sondern fakultativ. In der Praxis wird die Geschäftsordnung jedoch von der Arbeitgeberseite instrumentalisiert. Sie wird genutzt, um Vertraulichkeits- bzw. Maulkorb-Klauseln einzuführen um den Austausch unter den Beschäftigten, mit der Presse und der Community zu unterbinden, und um einen schier unendlichen Katalog an repressiven Klauseln durchzusetzen. Darum habe ich als Verhandlungsführerin nie einer Geschäftsordnung zugestimmt und selbst keine vorgeschlagen. Auch in der Hälfte der in der Studie untersuchten Fälle wurden Geschäftsordnungen komplett abgelehnt. Die Lehrkräfte in New Jersey haben zwar einer Geschäftsordnung zugestimmt, aber umgingen die repressiven Klauseln, indem sie kurzerhand die gesamte Belegschaft zur Tarifkommission ernannten!

Räume müssen zugänglich sein

Laut Arbeitsgesetz müssen beide Verhandlungsparteien Ort und Zeitpunkt der Gespräche zustimmen. Grundsätzlich ist es sinnvoll, sie im Betrieb zu führen, wenn sie nur eine einzige Belegschaft betreffen und ein Raum zur Verfügung steht, der die ganze Tarifkommission fasst. Verhandlungen im Betrieb haben den Vorteil, dass viele Beschäftigte in ihrer Pause (unter Einhaltung der drei Regeln) im Raum vorbeischauen können. So kann eine Kolleg*in auch in ihrer Pause kurzfristig einen wichtigen Beitrag leisten. Die meisten Unternehmen versuchen den Beschäftigten die Teilnahme an großen und offenen Verhandlungen schwer zu machen. Darum gilt grundsätzlich: Verhandlungen sollten in der Nähe des entsprechenden Betriebs stattfinden oder möglichst zentral oder gut erreichbar sein, wenn die Verhandlungen mehrere Standorte betreffen. Die Verhandlungen im Einstein Medical Center fanden wie auch die meisten anderen Verhandlungen, an denen ich beteiligt war, in Gemeindesälen statt, die vom Betrieb aus gut erreichbar waren. Im Idealfall haben die Beschäftigten im Rahmen der Tarifkampagne bereits ein Mapping der Beziehungen zu ihrer Community erstellt und konnten auf diese Weise gute und bezahlbare Verhandlungsräume organisieren. 

Vorbereitung ist alles

Bei großen und offenen Verhandlungen sind einführende Schulungen, etwa zu den drei Regeln, unentbehrlich. Rollenspiele sind hilfreich: In einem Probedurchlauf spielen einige Kolleg*innen die Unternehmensleitung und versuchen wahlweise charmant oder respektlos die Tarifkommission zum Brechen der Regeln zu drängen. Die Kolleg*innen bereiten sich auf ihre eigenen Redebeiträge vor, in dem sie vor den anderen üben und ihre Nervosität abbauen. 

Es ist gut, wenn in der Auftaktsitzung nicht nur die Tarifkommission, sondern auch die betrieblichen Schlüsselpersonen, die offiziell nicht Teil der Kommission sind, der Arbeitgeberseite alle wichtigen Verhandlungsthemen vorstellen. Das können auch Aspekte sein, wo es Interessensüberschneidungen mit der Unternehmensleitung gibt. In die Präsentation können Ergebnisse der Umfragen einfließen sowie Daten und Statistiken zu den Kernforderungen. Ideal ist, wenn die Tarifkommission zu jeder Forderung eine Folie vorbereitet und klar festlegt, wer wann dazu spricht. Das vermittelt der Gegenseite den Eindruck, dass die Beschäftigten die Verhandlungen unter Kontrolle haben.

Damit sich die Beschäftigten an den Verhandlungen aktiv beteiligen können und sich nicht langweilen, müssen sie auf die Situation vorbereitet werden. Dafür ist es hilfreich, wenn man zu jeder Sitzung eine aktualisierte Paragraphen-Checkliste austeilt. So lassen sich alle Vorschläge der Verhandlungsparteien nachvollziehen und man kann gewinnt schnell einen Eindruck vom Verhandlungsstand.

Schneller sein als die Gegenseite

Wenn viele Beschäftigte die Verhandlungen begleiten, gibt es einen großen Pool an Freiwilligen mit vielfältigen Talenten. Sie lassen sich etwa nutzen, um schon während der laufenden Verhandlung einen Bericht zu schreiben. Kolleg*innen können Notizen anfertigen und in den Pausen die Stimmung im Raum per Foto festhalten. So lässt sich in nur wenigen Minuten ein Flyer gestalten, der den Verhandlungstag zusammenfasst und den man direkt im Anschluss drucken und im Betrieb verteilen kann. So schildern die Beschäftigten die Ereignisse auf ihre Weise, noch bevor der Arbeitgeber seine Kommunikationsstrategie umsetzen kann.

Durch solche Methoden kann eine Gewerkschaft die Beteiligung an den Tarifverhandlungen erheblich steigern. Ein hoher Partizipationsgrad verändert alles: Es können bessere Tarifverträge abgeschlossen werden, die Mitgliederzahl steigt, es lassen sich größere Teile eines Fachbereichs organisieren oder mehr Gewerkschaften in einer Region aufbauen. Außerdem können politische Mobilisierungsstrukturen entstehen, um die eigenen Interessen gegenüber der Politik effektiver durchzusetzen als die Gegenseite. Bei Verhandlungen geht es um Macht. Deswegen sagen viele gute Gewerkschafter*innen, dass Tarifauseinandersetzungen nicht am Verhandlungstisch gewonnen werden. In den Fallbeispielen unserer Studie stand die Beschäftigtenmacht im direkten Verhältnis zum Verhandlungserfolg.

Die eigene Macht analysieren 

Tarifverhandlungen finden nicht im luftleeren Raum statt, sondern in der realen Welt, in kleinen oder großen Communities, mit mächtigen und weniger mächtigen Akteuren. Um zu gewinnen ist es nötig, die Einbindung des Unternehmens in die örtlichen Machtstrukturen zu analysieren. Ebenso wichtig ist eine Analyse der Machtbeziehungen der Beschäftigten selbst. Wenn ihre eigenen Strukturen stark genug sind, um in den Streik zu treten, müssen sie anfangen, alle ihre Beziehungen in die Community zu mobilisieren. Nur eine mächtige und gut aufgestellte Belegschaft kann auch die Interessen der Community in Tarifverhandlungen zur Geltung bringen. 

Die Beschäftigten des Einstein Medical Center fertigten ein systematisches Mapping ihrer Rolle im Machtgefüge von Philadelphia an und erkannten zahlreiche Beziehungen und potenzielle Machtressourcen. So mobilisierten sie schon bald eine Welle der Unterstützung. Der Krankenpflegerin Joyce Rice gelang es im Alleingang, den Zusammenschluss der einflussreichsten afroamerikanischen Kirchengemeinden von Philadelphia dazu zu bewegen, einen offenen Brief an die Krankenhausleitung zu richten. Zahlreiche prominente Politiker*innen schlossen sich an und forderten die Unternehmensleitung auf, einem fairen Tarifvertrag zuzustimmen, denn sie standen damit nicht nur auf Seite der Beschäftigten, sondern auch auf der Seite von einflussreichen Glaubensgemeinschaften.

Mit neuen Strategien in die Offensive 

Tarifverhandlungen sind ein mächtiges politisches Instrument. Seit Jahrzehnten wird über die Erneuerung der Gewerkschaften diskutiert. Verstehen wir uns als Organizing- oder als Dienstleistungsgewerkschaften? Arbeiten wir Top-down oder Bottom-up? Der Prozess der Tarifverhandlung an sich bleibt in diesen Debatten meist unterbelichtet. Nur wenige aktuelle Studien beleuchten, wie Gewerkschaften Verhandlungen führen und wie sie es tun sollten. 

Aktuell drehen sich die Diskussionen eher um die in den USA scheinbar neue Idee von Flächentarifverträgen. Solche Verträge können sehr hilfreich sein, um Lösungen für fragmentierte und prekäre Branchen zu finden. Doch auch hier hängt der Erfolg maßgeblich vom Organisationsgrad der Beschäftigten ab. Ein historisches Beispiel ist die amerikanische Automobilindustrie, wo die Arbeiter*innen eine Art Flächentarifvertrag durchsetzen konnten, der sich allein auf ihre betriebliche Macht stützte. Demgegenüber stützen sich Flächentarifverträge in Ländern wie Deutschland und Schweden oft eher auf die institutionelle Macht der Gewerkschaften und vernachlässigen den betrieblichen Machtaufbau, weshalb ihre Stärke zunehmend ausgehöhlt wird.

Verhandlungen, die mit hoher Beteiligung der Beschäftigten geführt und gewonnen werden, machen deutlich, wie Beschäftigte ihre Interessen durchsetzen können. Sie lassen Solidarität lebendig werden und bauen Macht auf. Das zeigt, dass Belegschaften das scheinbar Undenkbare erreichen können, wenn man ihnen zutraut, ihre eigenen Tarifverhandlungen mitzugestalten und auch mit schlechten Chancen gewinnen können. Ob in Deutschland oder in Alabama: Wollen Arbeiter*innen ein würdiges Leben führen, müssen sie genug Macht aufbauen, um den Arbeitgeber in die Schranken zu weisen. Tarifverhandlungen sind ein zentrales Mittel dafür.