Seit einiger Zeit wir darüber debattiert, ob die LINKE zur Akademikerpartei geworden sei und ihr ursprüngliches Klientel, „die kleinen Leute“ oder gar die Arbeiterklasse, sich weitestgehend von ihr abschiedet hätten. Nicole Gohlke hat dazu einen längeren Text beigetragen, der gekürzt auch im Neuen Deutschland als Beitrag zur Diskussion um Sahra Wagenknechts letzte Buchveröffentlichung „Die Selbstgerechten“ erschienen ist.

Sie löst die sachlichen Probleme dieser Debatte aber m. E. kurzschlüssig auf: Aufgrund des Lohnarbeiterstatus der meisten akademisch Qualifizierten unterscheiden sich diese in ihrer Position auf dem Arbeitsmarkt nicht mehr von den anderen Lohnarbeiter*innen. Die Industriearbeiterschaft sei weitestgehend verschwunden, die Erbringung von Dienstleistungen sei dominant und die Anzahl akademisch Qualifizierter habe im Vergleich zur mittlerweile dezimierten Industriearbeiterschaft deutlich zugenommen. Auch Akademiker*innen starteten längst nicht mehr mit dem Versprechen aus vergangenen Zeiten auf gut bezahlte Stellen ins Berufsleben, sondern landen in der Regel ebenfalls in Lohnarbeitsverhältnissen. Wie viele andere seien sie gezwungen, ihre Arbeitskraft zu Markte tragen und dies vielfach in prekären Arbeitsverhältnissen. Im Gegensatz zu qualifizierten Facharbeiter*innen, die häufig nicht nur über einen sicheren, unbefristeten Job verfügen und besser bezahlt würden, hätten Menschen mit einem akademischen Abschluss dies oftmals nicht. Schlussendlich, Akademiker*innen arbeiten im Lohnarbeitsverhältnis und gehören somit objektiv zur Arbeiter*innenklasse. Dies gelte es für linke Klassenpolitik produktiv zu machen, denn „nur so kann aus objektiv gemeinsamen Interessen der Angehörigen einer „Klasse gegenüber dem Kapital“ eine „Klasse für sich selbst“ (Gohlke 2021, 19) werden. Aus diesem Grunde können sie keine unterschiedlichen Interessen gegenüber Nicht-Akademikern mehr haben, die man gegeneinander ausspielen könnte oder sollte.

Wer ist die Arbeiter*innenklasse?

Der mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel einhergehende Wandel des Arbeitsmarktes ist sicher nicht zu bestreiten. Bereits in den frühen 1960er Jahren kam es zum Ausbau insbesondere von Fachhochschulen und technischen Fakultäten an Universitäten. Ab Beginn der 1970er Jahre folgte dann im Zusammenhang mit der Entwicklung des Sozialstaates der massive Ausbau gesellschafts- und sozialwissenschaftlicher sowie geisteswissenschaftlicher Bereiche an den Universitäten. Letzeres führte auch dazu, dass der Anteil der weiblichen Studierenden deutlich zunahm, auch bekamen vermehrt Menschen, die ihr Abitur über den zweiten Bildungsweg erlangt haben, Zugang zu akademischer Ausbildung.

Fanden naturwissenschaftlich qualifizierte Akademiker*innen und Ingenieur*innen schon immer überwiegend in industriellen Bereichen ihre Einsatzfelder, so befinden sich die Arbeitsfelder der Anderen vorwiegend in staatlichen und öffentlichen Institutionen sowie im Dienstleistungsbereich. Mit anderen Worten, bis auf die Beamt*innen im Staatsapparat, befand sich die Mehrzahl der Akademiker*innen schon immer in Lohnarbeitsverhältnissen.

Doch macht allein das Merkmal Lohnarbeit alle Beschäftigten gleichermaßen zu Mitgliedern der Arbeiterklasse mit gleichen Interessen? Nach Karl Marx sind das Kapital-Arbeit-Verhältnis, das Klassenverhältnis und der Klassenbegriff nur als relationale zu verstehen. Das heißt, die eine Seite kann nicht ohne die andere bestehen und ihr Verhältnis zueinander ist das eines Kampfes. Gekämpft wird um die Erzeugung und Verteilung des gesellschaftlichen Mehrproduktes, das als Mehrwert und Profit erscheint. Alle Stationen, wo Menschen mit der Planung von Produkten, ihrer Herstellung, ihres Vertriebes und ihres Verkaufs beschäftigt werden, gehören also zur Arbeit*innenklasse. Alle Menschen, die zur Arbeiter*innenklasse gehören sind also auch Lohnarbeit*innen. Doch umgekehrt gilt das nicht. Wer in öffentlichen Betrieben oder im nichtkommerziellen Dienstleistungssektor arbeitet ist zwar lohnabhängig, zählt aber in einer strengen Lesart nicht zur Arbeiter*innenklasse, da Beschäftigte in diesen Bereichen nicht mit Produktion und Realisierung des Mehrwerts befasst sind. Sie zählen zur lohnabhängigen „Zwischenschicht“. Für die Zuordnung zur Arbeiter*innenklasse oder zu Lohnarbeiter*innen ist also die Stellung in der Produktion- und Reproduktion des Kapitalverhältnisses entscheidend und nicht die Qualifikation. Doch aus der objektiven Zuordnung zur Stellung im gesellschaftlichen Produktionsprozess ergeben sich noch keine subjektiven Orientierungen, denn diese lassen sich eben nicht rein ökonomisch bestimmen. Hier kommt der soziale Raum ins Spiel und welche politischen und ideologischen Positionen die Angehörigen der gesamten Lohnarbeiter*innenklasse dort jeweils einnehmen.

Klassenlage statt Habitus

Was also die Arbeiter*innenklasse mit den Mitgliedern der Zwischen- oder Mittelklasse eint, ist sicherlich das Lohnarbeitsverhältnis. Doch in welche Richtung sich letztere bewegen, ist damit noch nicht geklärt. Akademisch qualifizierte Lohnabhängige, die Positionen im mittleren Management einnehmen, orientieren sich in der Regel vermutlich eher in Richtung ihrer Arbeitgeber, dem Kapital. Auch speist sich das neue Kleinbürgertum, welches sein politisches Zuhause bei den GRÜNEN gefunden hat, aus dieser Gruppe. Festhalten lässt sich, dass allein eine akademische Qualifizierung wenig darüber aussagt, in welchen Arbeits- und Lebenssituationen sich Akademiker*innen nach ihrer Ausbildung wiederfinden werden, denn dazu ist diese Gruppe viel zu differenziert, sowohl hinsichtlich des Inhalts Ihrer Qualifikation und beruflichen Position, als auch hinsichtlich ihrer sozialen Herkunft. Gegenwärtig sind es insbesondere Menschen mit geistes- und sozialwissenschaftlichen Qualifikationen, die sich in prekären Arbeitsverhältnissen oder in der Arbeitslosigkeit wiederfinden.

Es kann daher davon ausgegangen werden, dass sich die Arbeitsmarktsituation des vor allem in den Dienstleistungsberufen angewachsenen akademischen Prekariats, dessen Berufsverläufe sich oftmals durch Kettenarbeitsverträge auszeichnen, den Berufsverläufen der Mitglieder der Arbeiter*innenklasse angeglichen hat, die unter vergleichbar prekären Verhältnissen ihre Arbeitskraft verkaufen müssen. Doch entsteht aus dem für beide Gruppen gleichermaßen vorhandenen Wunsch nach sicheren und gut bezahlten Jobs auch zwangläufig eine gleiche gesellschaftliche Klassenlage? Die Mitglieder der Arbeiter*innenklasse sind auf Grund ihrer Stellung im Produktions- und Verwertungsprozess, ob nun akademisch qualifiziert oder nicht, unmittelbar an die Dynamik des Kapitalverwertungsprozesses gebunden, die sich gegenwärtig besonders in technisch-organisatorischen Transformationsprozessen und höherer Arbeitslosigkeit ausdrückt. Die damit verbunden gesellschaftlichen Folgewirkungen wirken sich nur mittelbar auf die Arbeitssituation und den Arbeitsmarkt im öffentlichen Dienstleistungsbereich und Non-Profit-Sektor aus.

Der entscheidende Unterschied zwischen akademisch und nichtakademisch qualifizierten Beschäftigten ist nicht in ihrer unmittelbaren Zuordnung zu den sozialen Klassen und gesellschaftlichen Arbeitsbereichen zu suchen. Entscheidend ist vielmehr, wie sich die objektiven Veränderungen in den jeweiligen Arbeitsbereichen auf die gesellschaftlichen Positionen der Lohnabhängigen auswirken und welche sozialen und qualifikatorischen Ressourcen den betroffenen Menschen zur Verfügung stehen, die daraus entstehenden Problemlagen zu bewältigen. Nicole Gohlke führt auf dieser Ebene als zentrales Unterscheidungsmerkmal den Begriff des unterschiedlichen „Habitus“ an, der einem gemeinsamen Handeln von Akademiker*innen und Nichtakademiker*innen entgegenstünde, um gemeinsame Interessen zu entwickeln. Doch sind es nicht nur unterschiedliche, milieuspezifische Verhaltensweisen, die von Bedeutung sind. Ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal sind die weit darüber hinausreichenden unterschiedlichen Ressourcen: Die an die allgemeine und berufliche Qualifikation gebunden Kompetenzen, sich in der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt gegenüber denjenigen durchzusetzen, die darüber nicht verfügen. So ist es gerade in Dienstleistungsberufen mittlerweile der Fall, dass für mittlere Führungsposition, die vormals noch fast ausschließlich von Fachkräften mit beruflicher Ausbildung und einem mittleren allgemeinen Qualifikationsniveau eingenommen wurden, aktuell ein Bachelor-Abschluss verlangt wird. So reicht die dreijährige Qualifikation einer Gesundheits- und Krankenpflegerin heute vielfach nicht mehr aus, um eine Leitungsposition zu besetzen. Die reine Berufsausbildung wird hinsichtlich der Möglichkeiten des beruflichen Aufstiegs zunehmend zur Sackgasse.

Jedoch sind es nicht allein die beruflichen Qualifikationen, die einen Konkurrenzvorteil darstellen, hinzukommen noch informelle Fähigkeiten, die darüber hinausgehen, wie etwa Mehrsprachigkeit, Studium und Praktika im Ausland und nicht zuletzt die Fähigkeit sich selbst zu inszenieren.

Interessen verbinden, nicht Identitäten

Die große Herausforderung von „Klassenpolitik“ ist es, von den realen Unterschieden in der Lebenssituation der Mitglieder der Lohnarbeiter*innenklasse auszugehen, sowie von ihren Potenzialen zur Bewältigung alltäglicher Lebenssituationen. Diese stehen in einem jeweils besonderen Verhältnis zum dynamischen Wandel ihrer Arbeits- und Lebenswelt. Von zentraler Bedeutung ist es deshalb, nicht nur die Arbeit, also das Lohnarbeitsverhältnis, „sondern alle Aspekte der Lebensweise, der klassenspezifischen Praktiken der verschiedenen Gruppen in den Blick zu nehmen. Andernfalls setzt sich nur die Erfahrung einer besonderen Gruppe durch und verallgemeinert sich.“ (Demirovic 2018, 52)

Welche Gruppen und „sozial-moralischen Milieus“ in der öffentlichen Wahrnehmung dominieren, hängt vermutlich auch davon ab, wie sie sich im sozialen Raum darstellen und in welcher Form sie ihre Ressourcen einsetzen, um Konfliktlagen nicht nur zu benennen, sondern mit ihnen alltagspraktisch, wie auch politisch, umzugehen. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Industriearbeiterschaft. So kommt der Historiker Lutz Raphael in seiner Untersuchung über drei Jahrzehnte De-Industrialisierung, bei der Deutschland im Vergleich zu Großbritannien und Frankreich noch deutlich weniger betroffen ist, zu dem Ergebnis, dass sich industrielle Arbeits- und Lebenswelten in „Randzonen“ zurückgezogen haben. Die Auflösung ehemals kompakter sozial-kultureller Milieus führte dazu, dass Problemwahrnehmungen und Erfahrungen von Industriearbeiter*innen „unsichtbar“ wurden. „Sie sind jedoch in deutlicher kultureller, sozialer und ökonomischer Distanz zu den besserverdienenden Mittelschichten der akademischen Berufswelt.“ (Raphael 2018, 472) Dies bedinge einen „komplexen Wettlauf um symbolische Anerkennung von Lebensstilen und Konsumangeboten“. Den Industriearbeiter*innen „fehlten die nötigen Bildungstitel, um eigenen Vorlieben allgemeine Geltung als Ausdruck legitimer Kultur zu verschaffen, und gleichzeitig sahen sie sich mit einem permanenten Prozess der Umwertung und Neuaneignung populärer Kulturformen durch die akademische Mittelschicht konfrontiert. Und sie sind auf der Verliererseite geblieben, solange keine politische Umdeutung die Spielregeln verändert.“ (Raphael 2018, 747f)

Diese empirischen Befunde zeigen, dass es um Sichtbarkeit und Repräsentation von Gruppierungen und sozialen Milieus geht und den mit ihnen verbundenen politischen und ideologischen Positionierungen. Von daher ist es gerade in der aktuellen Debatte dringend geboten, klassenanalytisch die objektiven Veränderungen in Arbeits- und Produktionsprozessen daraufhin zu untersuchen, wie sich diese auf die handelnden Menschen auswirken. Mit welchen Problemlagen sind sie konfrontiert, welche Formen von Widerständigkeit entstehen in Betrieb und Gewerkschaft, zu welchen politischen und ideologischen Formen der Repräsentation kommt es in den jeweiligen Klassenfraktionen und sozialen Milieus? Diese Aufgabe lässt sich nicht dadurch erledigen, in dem lediglich auf die scheinbar gemeinsamen ökonomischen Interessen und Marktpositionen verwiesen wird, wie dies Nicole Gohlke tut. Die nur geringe Verankerung der Partei DIE LINKE im Arbeiter*innenmilieu lässt sich nicht dadurch kompensieren, dass sich nun alle akademisch qualifizierten Mitglieder, egal, wo sie tätig sind, ein proletarisches Mäntelchen umhängen, nach dem Motto: Wir alle sind Arbeiter*innenklasse! Dies führt nicht zu einer wirklich verbindenden Klassenpolitik. Denn dabei sollte es nicht um die Verbindung unterschiedlicher „Identitäten“ und Mentalitäten in der Partei gehen, sondern darum, unterschiedliche Interessen in der Klasse der Lohnarbeiter*innen „sichtbar“ zu machen. Dies ist eine Voraussetzung dafür, sie politisch aufzugreifen und in eine gemeinsame Strategie einzubeziehen, in der ihr spezifischer Gegensatz zum Kapitalinteresse aufgegriffen und sichtbar wird.

Verbindende Klassenpolitik in Umbruchzeiten

Die Suche nach einem strategischen Ansatzpunkt kommt gegenwärtig nicht um die allerseits beschworenen Herausforderungen des öko-sozialen Wandel herum, verbunden mit einer Transformation des kapitalistischen Wachstums- und Produktionsmodells. So weist etwa Hans-Jürgen Urban, Vorstandsmitglied in der IG Metall, darauf hin, „dass die Tertialisierung der Arbeit die Ökologisierung der industriellen Wertschöpfung nicht ersetzen, sondern dass eine taugliche öko-soziale Transformationsstrategie Gute Arbeit in allen Wirtschaftssektoren anvisieren muss“ (Urban 2019, 197).

Die umfassenden und komplexen Dimensionen des gegenwärtigen digital und ökologisch getriebenen Transformationsprozesses reichen also weit über einzelne Branchen hinaus und betreffen mehr oder weniger alle Positionen der Lohnarbeiter*innenklasse. Doch kann sich eine politische Strategie dabei nicht allein daran orientieren, soziale Leitplanken für alle einzufordern, auch wenn gerade diese für alle Teile der Lohnarbeiter*innenklasse zumindest zur Absicherung ihres Lebensstandards das Verbindende sind. Von zentraler Bedeutung wäre es darüber hinaus, die sozial-ökologische Gestaltbarkeit von Arbeit und Produktion deutlich zu machen, die eine Praxis der umfassenden Neuorganisation beruflicher Praxis und der Bewertung von Positionen intendiert. Um dies in einer realisierbaren Perspektive zu denken, ist eine klassenanalytisch fundierte strategische Priorisierung auf Seiten der LINKEN erforderlich. So ließen sich zentralen Bruchstellen des gegenwärtigen kapitalistischen Wachstumsmodells identifizieren, um sie dann hinsichtlich ihrer klassenpolitischen Bedeutung zu bewerten. Es könnten zum einen die damit verbundenen objektiven Bedrohungspotenziale sichtbar werden. Zum anderen ist es erforderlich, die widerständigen Praxisformen, die sich aus den Folgewirkungen des gesellschaftlichen Transformationsprozesses ergeben, zu gewichten und in Beziehung zu den objektiven Problemlagen zu setzen, als subjektiv-praktische Dimension, die es in die strategische Orientierung aufzunehmen gilt.

Die gegenwärtigen Transformationsprozesse reichen jedoch weit über den betrieblichen Rahmen hinaus und verweisen auf eine Verbindung mit Machtressourcen im gesellschaftlichen Bereich. Durch Allianzen mit zivilgesellschaftlichen Akteuren im regionalen Bereich ließen sich Räume schaffen, in denen im Zusammenhang mit betrieblichen wie außerbetrieblichen Transformationsprozessen millieu-, status- und berufsgruppen-übergreifende Verständigungsprozesse möglich wären. Somit könnte ein Rahmen entstehen, in dem der Erfahrungsreichtum Beschäftigter aus industriellen Branchen im Umgang mit bisherigen industriellen Transformationsprozessen produktiv in die Suche nach Lösungen im gesellschaftlichen Raum eingebracht und auch sichtbar werden könnte. Derartige Prozesse regional oder vor Ort zu initiieren oder zu unterstützen in Verbindung mit gewerkschaftlichen und betrieblichen Initiativen wäre ein sinnvoller und strategisch weiterführender Ansatz für die LINKE im Sinne einer verbindenden (Klassen-)Politik.