»Herr Markard, wie sind Sie eigentlich zur (marxistischen) Kritischen Psychologie gekommen?«, werde ich gelegentlich gefragt. Die Antwort ist: Nach 17 Semestern Psychologiestudium in Bonn, das meine vielfältigen Aktivitäten im AStA der Universität und im Marxistischen Studentenbund Spartakus begleitete, sah ich zwischen der Mainstream-Psychologie, wie ich sie studiert hatte, und meiner sonstigen Lebenspraxis einen nicht zu überwindenden Graben. Ein biografischer Zufall verschlug mich 1975 nach Berlin, und als sich dort die Gelegenheit bot, mich an der Freien Universität mit der Kritischen Psychologie zu befassen, änderte ich meine Absicht, der Psychologie den Rücken zu kehren. Stattdessen versuchte ich, meine eher pauschal-diffuse Kritik an der Psychologie wissenschaftlich(er) zu begründen. Im psychologischen Experiment – so Klaus Holzkamp, der maßgebliche Begründer der Kritischen Psychologie – ist auf den methodisch-praktischen Begriff gebracht, was die Mainstream-Psychologie generell ausmacht: nämlich, dass dort bestenfalls erfasst werden kann, wie Menschen sich unter fremdgesetzten, von ihnen unbeeinflussbaren Bedingungen verhalten, nicht aber, wie sie ihre Lebensbedingungen auch schaffen und verändern. Mit Holzkamp (1983, 25) formuliert: »Die Kritik an der traditionellen Psychologie« ist »keine bloß ›einzelwissenschaftliche‹ Angelegenheit, sondern hatte eine politische Stoßrichtung gegen die Psychologie als Herrschafts- und Anpassungswissenschaft und gegen die ›Psychologisierung‹ gesellschaftlicher Widersprüche.«

Wesentlicher aber ist, dass ich durch die Kritische Psychologie – über die Funktionskritik an der Psychologie hinaus – eine alternative psychologische Perspektive wahrnehmen konnte. Unter diesem Aspekt will ich die Frage beantworten, warum ich bei der Kritischen Psychologie geblieben bin und meine, als Psychologe Marxist (und umgekehrt) sein zu können.

In seinem Hauptwerk »Grundlegung der Psychologie« arbeitet Holzkamp die Kritische Psychologie als »marxistische Individualwissenschaft« aus, die »in dezidiertem Sinne ›Subjektwissenschaft‹« (ebd., 239) sein müsse. Was heißt das inhaltlich und was bedeutet es für die, die marxistische Subjektwissenschaft betreiben?

Den Bezug auf Marx hat Holzkamp 1977 programmatisch so begründet: Der Marxismus sei »in der Art und Weise, wie er das Verhältnis zwischen objektiver Bestimmtheit und subjektiver Bestimmung des historischen Prozesses« in den Blick nehme, die »historische Subjektwissenschaft par excellence« (ebd., 64). In diesem Kontext ziele die Kritische Psychologie als »besondere Subjektwissenschaft« auf die »Entwicklung der subjekthaft-aktiven Komponente, also der Selbstbestimmung, in der individuellen Lebenstätigkeit« (ebd.), das heißt im alltäglichen Handeln der Einzelnen. Es ist unschwer zu erkennen, dass mit dieser Formulierung auch ein spezifischer Zusammenhang von psychologischer Wissenschaft und außerwissenschaftlicher Lebenspraxis thematisiert ist.

Der kritisch-psychologische Grundgedanke der »gesamtgesellschaftlichen Vermitteltheit individueller Existenz« (Holzkamp 1983, 192ff) ist in der 6. Feuerbachthese von Marx (1845, 6) vorformuliert: »Das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.« Wie insbesondere der französische Philosoph Lucien Sève (1972) gegenüber milieutheoretischen Verkürzungen betont hat, ist nicht »der Mensch«, also der einzelne Mensch, dieses »Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse«, sondern das Wesen des Menschen ist es. Hier liegt ein antideterministisches Moment, das für die Kritische Psychologie zentral ist. Der Mensch ist nicht »Produkt« seiner Verhältnisse, wie in verkürzten Lesarten der Feuerbachthese häufig unterstellt wird, sondern das menschliche Wesen zeigt sich in den von den Menschen geschaffenen gesellschaftlichen Verhältnissen. In diesem Sinne hat marxistische Psychologie den widersprüchlichen Zusammenhang von gesellschaftlicher und individueller Reproduktion herauszuarbeiten – und dabei auch deren Naturgeschichte zu berücksichtigen, ohne gesellschaftliche Verhältnisse zu biologisieren.

Wie dieser Anspruch marxistischen Denkens in der Kritischen Psychologie zu realisieren versucht wurde, kann ich hier natürlich nicht im Einzelnen darlegen (vgl. hierzu Markard 2009 u. 2017), sondern eine dreifache Bezugnahme nur andeuten: das logisch-historische Verfahren zur Analyse und Gewinnung psychologischer Grundbegriffe, die Analyse gesellschaftlicher Denkformen und die interdisziplinäre Nutzung gesellschaftstheoretischer Arbeiten. Dass es sich dabei um einen paradigmatischen, also die Grunddenkweisen der Psychologie betreffenden Anspruch handelt, impliziert im Übrigen, dass es andere konkurrierende Realisierungsversuche – etwa im Freudomarxismus (Verbindung von Psychoanalyse und Marxismus) – gibt (vgl. dazu Markard 2016).

In der Kritischen Psychologie ist die »Zentralkategorie« die der »Handlungsfähigkeit« (Holzkamp 1983, 20), gefasst als Verfügung über die eigenen Lebensbedingungen. Handlungsfähigkeit thematisiert das Verhältnis von Handlungsmöglichkeiten und -behinderungen, und zwar vor allem unter dem Aspekt, wie diese mit Herrschafts- und Machtverhältnissen vermittelt sind. Mit Blick auf das Verhältnis von Anpassung und Widerstand interessiert vor allem die Frage, warum es für die Leute subjektiv funktional sein kann, auf die Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten zu verzichten und sich in beschränkenden Gegebenheiten nicht nur zurecht-, sondern auch mit ihnen abzufinden (»restriktive Handlungsfähigkeit«). Und es geht darum, in psychologischer Forschung und Praxis zusammen mit den Betreffenden potenziell fremd- und selbstschädigende Aspekte eines solchen Handelns und Denkens herauszufinden, mit der Perspektive einer gegebenenfalls kollektiven Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten.

Wer dies in Forschung und Praxis versucht, muss mit institutionellen Widerständen ebenso rechnen wie mit praktischen Problemen: Es ist eine der Erwartungen an die Psychologie, dass sie personale Probleme löst. Bedenkt man nun den erwähnten Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher und individueller Reproduktion und die damit verbundene Wahrscheinlichkeit, dass personale Probleme nicht unter Ausklammerung problematischer Lebensumstände zu lösen sind; bedenkt man außerdem, dass umstritten ist, was ein psychologisches Problem ist und wer einen problematischen Sachverhalt als psychologisches Problem deutet wird, dann wird klar: Die Psychologie steht vor der »in der bürgerlichen Gesellschaft strukturell niemals endgültig lösbaren Aufgabe, eine radikal gesellschaftskritische Position mit einer berufsqualifizierenden Ausbildung im üblichen Sinne [und einer existenzsichernden Praxis; M.M.] […] zu verbinden« (ebd., 25).

Trotz alledem Menschen mit ihren psychologischen Problemen nicht allein zu lassen und immer wieder zu versuchen, dem auch humanen Anliegen von Psychologie, Fremdbestimmung aufzuheben, gerecht zu werden (vgl. Knebel/Hummel 2015), macht meines Erachtens den Kern dessen aus, was »marxistisch sein in der Psychologie« heißt. Gramsci (1995, 1325) hat den Marxismus folgendermaßen gefasst: Dieser, also die »Philosophie der Praxis zielt […] nicht darauf, die in der Geschichte und in der Gesellschaft bestehenden Widersprüche friedlich zu lösen, sondern ist im Gegenteil die Theorie dieser Widersprüche selbst”. Das ist – eben auch in der Psychologie – Kern des Bezugs auf den »anstößigen« Marx, der der Kritik (in und an) der Psychologie erst ihren »Stachel« und ihre »Verheißung« verleiht (Haug 2006, 8).