Nehmen wir mal an, ich bin seit einigen Jahren politisch engagiert und habe von diesem Masterstudiengang für AktivistInnen gehört: Warum sollte ich mich dafür interessieren?
Die Menschen, mit denen wir arbeiten, bringen bereits ein solides Grundwissen darüber mit, wie Aktivismus in sozialen Bewegungen funktioniert. Sie wissen, warum sie sich als AktivistInnen betätigen, meist innerhalb einer ganz bestimmten Bewegung. Es ist häufig so, dass die Leute sich nur in ihrer eigenen Bewegung gut auskennen. Dabei halten sie einen Großteil von dem, was sie machen und wie sie es machen, für selbstverständlich. Sie folgen bekannten Routinen und lassen bestimmte Möglichkeiten und Handlungswege außer acht. Oft wird das natürlich noch durch die Tatsache verschärft, dass sie in einer Organisation aktiv sind, für die sie sich entschieden haben, bevor sie sich einen Überblick über das ganze Spektrum an Möglichkeiten verschafft haben.
Es gibt viel Neues zu lernen, wenn man viel Zeit mit Menschen verbringt, mit denen man zwar sonst nichts zu tun haben würde, mit denen man nun aber im Bereich sozialer und politischer Bewegungen aktiv ist. Damit meine ich sowohl die StudentInnen als auch die DozentInnen. In diesem Kurs geht es vor allem darum, voneinander zu lernen, zum Beispiel wie Menschen in anderen Bewegungen, Ländern und politischen Traditionen aktiv sind und was sie daraus für die eigene Arbeit mitnehmen können.
Innerhalb einer Bewegung läuft man Gefahr, in bestimmte Denk- und Handlungsmuster gedrängt zu werden, was oft zu verfahrenen Situationen oder zu Burn-out führt. Oft tun die Leute in einer bestimmten Situation immer wieder das Gleiche, also das, was sie können und als richtig erachten. Um ihre Ziele zu erreichen, versuchen sie so produktiv wie möglich zu sein, und setzen sich zunehmend unter Druck. Häufig führt das zu Auseinandersetzungen und Krisen, und oft geht es nur noch darum, die Organisation vor dem Zerfall zu bewahren.
Da hilft es, sich ein Jahr lang halbwegs von der eigenen Bewegung loszulösen. Das heißt, du studierst zwei Tage die Woche, bist aber trotzdem noch in einer Bewegung aktiv. Das verschafft dir einen gewissen Abstand, und du kannst darüber nachdenken, wie du das, was du machen willst, mit deinen Zielen und den Mitteln zu ihrer Umsetzung vereinbaren kannst.
Wie bist du auf die Idee gekommen, und wie hat alles angefangen?
Zum Teil denke ich, weil die Bewegungen in Irland nicht wirklich auf eigene intellektuelle Produktionsmittel zurückgreifen können. Ein Großteil des für AktivistInnen relevanten Wissens wird an Universitäten produziert. Diese Universitäten bilden die Studierenden jedoch zum Umgang mit Eliten aus: MedienexpertInnen, die mit Mainstream-Medien umgehen sollen, RechtsexpertInnen, Politikund FinanzierungsexpertInnen usw. Im Fall von Irland arbeiten die meisten dieser ExpertInnen in Organisationen, die von staatlicher Finanzierung abhängig sind (gelegentlich auch von Stiftungen oder Kirchen). Sie werden also dafür bezahlt, dass sie mit den Eliten zusammenarbeiten.
Das ist ein großes politisches Problem für unsere Bewegungen und für viele ein Hindernis dafür, in einer Bewegung aktiv zu werden. Es kommt zur Professionalisierung, aber es werden keine organisatorischen Fä- higkeiten geschult. Viele Leute lernen im Rahmen ihrer Ausbildung die Achtung sozialer Rechte und der Menschenrechte, ohne dass ihnen nahegelegt wird, dass solche Rechte überhaupt erst durch Massenbewegungen möglich wurden. Rechte sind dann einfach etwas, was in UN-Erklärungen oder politischen Initiativen der EU formuliert wird. Das trägt sicher dazu bei, diese Rechte den Eliten gegenüber zu rechtfertigen, aber es dient nicht dazu, Menschen zu mobilisieren. So werden wir die Dinge nicht ändern und die Regeln nicht umschreiben können. Wir spielen dann einfach weiter nach ihren Spielregeln und bleiben in politischer Hinsicht erschreckend abhängig von ihrem Wohlwollen.
Daher wollten wir einen Raum schaffen, in dem Bewegungen ihr Wissen selbst definieren und sich gegenseitig fragen, welches Wissen ihren Zielen dient. Nicht in der Form, in der es Hochschulen oder Organisationen präsentieren, sondern so, dass es für uns als AktivistInnen relevant ist. Aufgrund der Krise ist der Ruf nach einem solchen Raum deutlich lauter geworden. Natürlich können wir nicht einfach auf ältere Modelle zurückgreifen.
Stattdessen brauchen wir eine viel breiter angelegte Strategie, die Fragen aufgreift wie: Wie gründen wir eine Organisation? Welche Art von Organisation sollten wir gründen? Wie bauen wir sie von der Basis aus auf, sodass sie sowohl nachhaltig als auch radikal ist? Wenn eine Organisation von den Eliten abhängig ist, kann sie in Krisenzeiten nicht gleichzeitig nachhaltig und radikal sein. Angesichts dieser Situation wollten wir eine alternative Ausbildungsmöglichkeit schaffen.
Es passiert oft, dass AktivistInnen enttäuscht sind, wenn sie mit wissenschaftlicher Forschung zum Thema soziale Bewegungen in Berührung kommen. Manche Studien sind nur auf Beobachtung ausgerichtet und äußerst deskriptiv. Was können AktivistInnen von eurem Studiengang erwarten?
Ja, es gibt solche Forschung zu sozialen Bewegungen, zum Beispiel im US-amerikanischen Mainstream, aber auch in Europa und in anderen Ländern. Darüber hinaus stehen in vielen anderen Kontexten – ein Beispiel ist die Zeitschrift Interface, bei der ich selbst mitmache – AktivistInnen im direkten Dialog mit TheoretikerInnen, die zum Thema arbeiten und versuchen, Probleme aus der Praxisperspektive zu beleuchten.
Auch wir definieren uns als überwiegend praxisorientierter Studiengang, genauso wie die Bereiche Architektur und Krankenpflege oder auch sehr konservative Bereiche wie internationale Beziehungen, in denen weithin anerkannt wird, dass praktisch tätige Menschen wichtige Wissensquellen sind und daher ein Dialog stattfinden muss. Einzelne Personen sind sowohl im praktischen als auch im Forschungsbereich aktiv, was natürlich beiden Bereichen zugute kommt. Auf der einen Seite das praktische Lernen und auf der anderen die Reflexion. Das ist kein Gegensatz.
Unser Ansatz berücksichtigt die Frage, ob das vermittelte Wissen aktiven StudentInnen hilft, über das hinauszudenken, was sie bereits wissen. Jeder, der sich mit dem Thema Aktivismus beschäftigt – zumal im Rahmen eines Master-Studiengangs –, bringt ein gewisses Grundverständnis mit.
Eine umfassendere Reflexion ist aber etwas, was hart erarbeitet sein will. Gerade in Krisenzeiten ist es wichtig, einen Raum zu haben, in dem nicht sofort Entscheidungen getroffen werden müssen, die gewaltige Folgen haben – sowohl für unsere Kampagnen als auch für die Menschen, mit denen wir uns solidarisieren.
Welche StudentInnen nehmen an dem Programm teil?
Sie kommen aus verschiedenen Kontexten, zum Beispiel aus antikapitalistischen Netzwerken der globalisierungskritischen Bewegung, aus Organisationen, die in ländlichen Gegenden Bildungsarbeit oder in Arbeitervierteln Stadtteilarbeit machen. Es kommen auch FeministInnen, GewerkschafterInnen, AktivistInnen, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Außerdem LGBTAktivistInnen, Menschen aus verschiedenen radikalen linken Organisationen, HausbesetzerInnen, UmweltschützerInnen, OrganizerInnen aus migrantischen Communities. Es waren auch schon einige radikale KünstlerInnen bei uns. Sie setzen sich zwar alle in der einen oder anderen Form für Gleichheit und soziale Gerechtigkeit ein, haben aber vollkommen unterschiedliche Meinungen dazu.
Diese Vielfalt ist enorm wichtig. Wenn du viel Zeit mit Menschen verbringst, lernst du ihre Arbeit zu respektieren. Du kannst dir ein besseres Bild von den Problemen machen, mit denen sie zu kämpfen haben. Und du lernst verstehen, was sie mit ihren Aussagen meinen und wie du dich mit ihnen solidarisieren oder sie zur Zusammenarbeit motivieren kannst.
Wie im Neoliberalismus häufig zu beobachten, werden unsere Bewegungen zu einem Sammelsurium subkultureller Nischen. Mit größeren Zusammenschlüssen, mit echten Bündnissen tun wir uns schwer. Statt die Denk- oder Herangehensweisen der anderen zu schätzen, konzentrieren wir uns darauf, die Unterschiede zu betonen.
Wenn wir lernen wollen, Netzwerke aufzubauen, dann geht es gerade um Menschen, die anders sind als wir. Gemeinsam mit ihnen können wir eine viel stärkere gesellschaftliche Kraft bilden. Das ist also einer der großen Vorteile unserer Arbeit. Wir müssen ein besseres Gefühl dafür bekommen, dass wir unsere Ziele nur erreichen können, wenn wir uns zusammenschließen.
Kannst du uns die Grundsätze der Bildung von unten noch näher erläutern? Welche Personen stehen für diese Tradition?
Einige der Ideen stammen von Antonio Gramsci. Er hat sich viel mit dem Unterschied zwischen dem sogenannten »Alltagsverstand« und dem »gesunden Menschenverstand« beschäftigt. Beim Alltagsverstand geht es darum zu wissen, welche Äußerungen im Alltag akzeptabel sind. Da ist viel hegemoniale Macht im Spiel. Der »gesunde Menschenverstand« bezeichnet dagegen das praktische, aber oft unausgesprochene Verständnis, das Menschen zum Beispiel in Bezug auf ihre Erfahrungen mit Klassen- oder Geschlechterbeziehungen entwickeln. Es geht darum, wie den Problemen einer von Herrschaft bestimmten Gesellschaft begegnet werden kann, was bestimmte Dinge tatsächlich bedeuten. Gramsci ging es vor allem darum, den »gesunden Menschenverstand« auszubauen, aber nicht im avantgardistischen Sinn einer Schaffung des richtigen Bewusstseins. Es geht auch nicht um Bücherwissen, sondern die Frage ist: Worin besteht der »gesunde Menschenverstand«, den Menschen im Rahmen ihrer täglichen Kämpfe in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen entwickelt haben?
Paulo Freire ist eine weitere Person. Er wurde bekannt für seine Alphabetisierungsprogramme für arme Bäuerinnen und Bauern in Brasilien und anderen Teilen der Welt. Er beschäftigte sich also nicht mit gebildeten AktivistInnen der Arbeiterklasse. Freire unterscheidet radikale Bildung von der »Bankiers-Methode« (sein Begriff für die vorherrschende Unterrichtsmethode), bei der davon ausgegangen wird, dass SchülerInnen wie ein leerer Behälter sind, in den man Wissen hineinpumpen kann.
Es gibt unglaublich viele Nichtregierungsorganisationen, AktivistInnen und linke Parteien, die genau diesem kritisierten Modell folgen, meist in guter Absicht und von einem durchaus humanen oder gar emanzipatorischen Standpunkt aus. Sie denken sich: Wenn nur andere Menschen wüssten, was ich über das Thema weiß, dann wären sie auch wütend und würden das Gleiche tun. Und das stimmt natürlich nicht. Dann fragen sich die Leute, warum sich ihnen niemand anschließt und wo das Problem liegt.
Freires Modell geht davon aus, dass die Menschen nicht dumm sind. In einem bestimmten Bereich ihres Lebens haben sie Dinge besser durchdacht und viel von ihren Mitmenschen gelernt, um mit schwierigen Situationen zurechtzukommen. Übertragen auf soziale Bewegungen bedeutet das, dass AktivistInnen bei ihren unmittelbaren, täglichen Handlungen in der Tat genau wissen, was sie tun. Es geht darum, von dem auszugehen, was du weißt und kannst, um dich auf dieser Grundlage kritisch mit dem auseinanderzusetzen, was andere Menschen tun oder denken. Ausgehend von der eigenen Erfahrung schaffst du einen sicheren Raum, in dem es in Ordnung ist, manche Dinge nicht so gut zu können. In vielen aktivistischen Kontexten sind wir zu sehr damit beschäftigt, unsere politische Tradition, unsere Bewegung oder unsere Organisation zu verteidigen, sodass wir am Ende überhaupt nichts dazulernen.
Welche Kompetenzen nehmen die AbsolventInnen dann mit in ihre Bewegungen?
Das hängt davon ab, wie viel Erfahrung sie mitbringen. Für manche ist es mitunter schwer vorstellbar, selbst Aktivistin oder Aktivist zu werden. Vor allem dann, wenn Freunde und Familie behaupten, dass dich die Realität früher oder später einholt, du einen Job finden musst usw. Du musst lernen, dich ernst zu nehmen, und erkennen, dass Leute, denen du enormen Respekt entgegenbringst, also die anderen Studierenden, das Gleiche tun wie du. Du triffst Menschen aus anderen Generationen, und manchmal musst du den Übergang von deinen ursprünglichen, vielleicht in deiner ersten Bewegung formulierten Zielen hin zu einem weiter gefassten Selbstverständnis als AktivistIn wagen. Es geht also darum, besser zu verstehen, dass Bewegungen einen Lebensweg bestimmen können.
Alle, die bereits in einer bestimmten Organisation aktiv sind, sollten eine viel umfassendere Sicht auf den Aktivismus bekommen und die Frage »Was machen wir hier?« in mancher Hinsicht entspannter und flexibler angehen. Sie sollten sich von den gerade anstehenden Problemen nicht zu sehr beeindrucken lassen und eher den Gesamtkontext ihrer Arbeit im Blick behalten, also tiefgründiger und radikaler werden in dem Sinn, dass die Organisation und die Aktivitä- ten einem umfassenderen Ziel dienen. Das Mittel ist nicht der Zweck.
Wenn wir uns immer wieder nach dem Grund unserer Arbeit fragen, wird auch die eigene Arbeit angenehmer. Ein dritter Vorteil ist, dass einige der Studierenden neue Formen des Aktivismus kennenlernen, die für sie passen.
Ich wünschte, wir hätten so etwas auch in Deutschland. Gibt es Bereiche, in denen ihr euch verbessern wollt?
Da würde ich zwei Dinge nennen. Das erste ist das Problem der Finanzierung. In Irland wurden die Stipendien für Aufbaustudien gekürzt. Das ist jetzt natürlich keine gute Werbung für uns, aber die Leute sollten wissen, dass Gebühren anfallen und die verfügbaren Stipendien nicht ausreichen. Wir haben derzeit viele Studierende, die finanziell schlecht gestellt sind, und wir versuchen unser Bestes. Auch StudentInnen in finanziellen Notlagen haben das Studium erfolgreich abgeschlossen. Wir finden unsere Wege im System, aber es ist ein denkbar schlechtes System.
Ein anderes Problem, vor dem wir manchmal stehen, ist die Frage, wie wir die individuellen persönlichen Entwicklungen nutzen können, um Bündnisse aufzubauen. Den AbsolventInnen unseres Studiengangs ist am Ende bewusst, wie wichtig Vernetzung ist. Ich denke aber, dass wir noch mehr tun können, um den Aufbau von Bündnissen noch umfassender zu fördern. Nur wissen wir noch nicht genau, wie wir das anstellen sollen. Wir leben in einer sehr individualisierten Welt, und für einige ist es schon ein großer Schritt, das ›Wir‹-Gefühl in einer Organisation zu verinnerlichen. Dann ermutigen wir sie, dieses ›Wir‹-Gefühl auch auf die Ebene der gesamten Bewegung zu übertragen. Nur: Wie können wir über dieses Gefühl hinaus die Zusammenarbeit verschiedener Bewegungen erreichen?
Du machst diese Arbeit jetzt schon das fünfte Jahr. Meinst du, dass dein Netzwerk aus ehemaligen Studierenden in zehn oder 15 Jahren eine Art Oligarchie von AktivistInnen sein könnte, die aufgrund deiner Ausbildung großen Einfluss auf die Bewegungen in Irland ausübt?
Ich denke, es ist eher anders herum: Einige der besten AktivistInnen haben sich für diesen Studiengang entschieden. Ich würde mir Sorgen machen, wenn ich wüsste, dass wir eine solche Oligarchie aufbauen. Ich denke allerdings, dass wir mit unserem Studium eine breitere Beteiligung an Bewegungen und einen Austausch zwischen ihnen fördern. Wenn es Massenmobilisierungen gibt, wie zum Beispiel derzeit in einigen europäischen Ländern oder im Rahmen von Projekten wie den Alternativgipfeln oder Blockupy, dann können wir dazu beitragen, einen Schritt in die richtige Richtung zu gehen. Ich denke aber nicht, dass wir diesen Prozess in irgendeiner Form ersetzen können, und ich würde mir wirklich Sorgen machen, wenn Hochschulen oder TheoretikerInnen dies versuchen würden. Das hat bekanntlich hässliche Folgen. Dennoch ist es schwer, inmitten einer Massenmobilisierung wirklich solide und dauerhafte Bündnisse zu schaffen. Je mehr Grundsteine durch kleinere Projekte wie unseren Master-Studiengang gelegt werden, desto besser verstehen wir die jeweils anderen Bewegungen und Communities – vor allem dann, wenn wir gemeinsam unter großem Druck schwierige Dinge anpacken und dabei ein viel stärkeres ›Wir‹-Gefühl entwickeln.
Das Gespräch führte Wim Windisch. Aus dem Englischen von Cornelia Gritzner.
Mehr Informationen: zum Studiengang und ein von ehemaligen Studierenden erstellten Video