Um diesen Anspruch zu verwirklichen, nennt die Verfassung Venezuelas – beispielsweise in Artikel 70 – eine Reihe weiterer Formen, mit denen Menschen ihre Möglichkeiten und Fähigkeiten entfalten können, wie etwa »Selbstverwaltung, Kooperativen aller Art […] und andere Zusammenschlüsse, die vom Prinzip der gegenseitigen Zusammenarbeit und Solidarität geleitet sind« (Harnecker 2015, 70).
Die Solidaritätsbewegung in Griechenland, die Ende 2011 entstanden ist, lässt sich als wesentliches Moment eines solchen Prozesses verstehen. Sie ist aus den Platzbesetzungen und Versammlungen im Sommer 2011 hervorgegangen und hat den Anti-Troika-Bewegungen angesichts der zunehmend spürbaren sozialen Folgen der Austeritätspolitik eine neue Gestalt gegeben. Es ging nicht zuletzt darum, die Fähigkeit der Gesellschaft, sich politisch zur Wehr zu setzen, zu erhalten.
Konkret wurden in vielen Bereichen selbstorganisierte Strukturen aufgebaut: von der Versorgung mit lebensnotwendigen Gütern über Experimente solidarischer Ökonomie in selbstverwalteten Kooperativen bis hin zu Märkten ohne Mittelsmänner. All diese Bemühungen, ob spontan oder geplant, ob gescheitert oder erfolgreich, lassen sich als Momente des schrittweisen Aufbaus politischer Macht von unten begreifen. Sie sind Anstoß und Träger eines popularen Protagonismus, der das politische Feld in Griechenland massiv umgepflügt hat. Und genau darin liegt ihre richtungsweisende Bedeutung – nicht etwa darin, dass sie für einen Staat eingesprungen sind, der unfähig war, die Menschen angemessen zu versorgen. Letzteres entspräche eher David Camerons Modell der »Big Society«, der neoliberalen Strategie, den Wohlfahrtsstaat durch die Zivilgesellschaft zu ersetzen. Diese Rolle haben die Solidaritätsnetzwerke jedoch von Anfang an völlig zu Recht zurückgewiesen.
Doch was bedeutet diese Haltung heute, nach dem dritten Memorandum? Wie geht man mit einer Regierung um, die zwar aus dem Widerstand gegen die Troika und die Memoranda hervorgegangen ist, sich nun aber gezwungen sieht, ebenjene neoliberalen Finanz- und Strukturanpassungsmaßnahmen selbst durchzusetzen? Maßnahmen, die zu einer Verschärfung der Austerität führen und die Produktivkräfte des Landes weiter schwächen. Wie verändert sich die Rolle der Solidaritätsbewegungen, wenn die Krise der sozialen Reproduktion zum Dauerzustand wird und die Hoffnung vieler Initiativen, durch die Wiederherstellung der staatlichen Versorgung wieder schnell ›überflüssig‹ zu werden, schwindet? Was heißt es, unter diesen Umständen einfach ›weiterzumachen‹ mit der täglichen Solidaritätsarbeit? Wird unter veränderten politischen Bedingungen auch der Kampf gegen die Folgen der Austerität zum business as usual? Wie lässt sich verhindern, dass die Solidaritätsnetzwerke mehr und mehr auf die Aufgabe reduziert werden, die humanitären Kosten der Memoranden abzufangen, und sie ihr Potenzial als Wegweiser, Hoffnungsträger und Motor gesellschaftlicher Veränderung verlieren? Wird der Widerstand, wird der Kampf um Veränderung vom bloßen Kampf ums Überleben absorbiert?
Das sind einige der grundlegenden Herausforderungen, vor denen die Solidaritätsbewegung seit dem ›Coup‹ der Troika im August 2015 steht. Die einende Vision, die der Diskurs der Hoffnung und die Möglichkeit eines Bruchs mit dem neoliberalen Mantra TINA (There Is No Alternative) darstellten, hat sich zerschlagen. Das hat die Bewegung demoralisiert und verunsichert und zu einer (vorübergehenden) politischen Lähmung geführt. Man bleibt der Solidaritätsarbeit treu und macht weiter, aber es gibt eine große Zurückhaltung, sich in der neuen Gemengelage politisch zu artikulieren. So riskiert die Bewegung jedoch, sich selbst auf die Funktion eines Versorgungsmechanismus zu reduzieren – genau das, was sie nie wollte.
Gleichzeitig darf man nicht vergessen, dass die Solidaritätsbewegungen ihre Aktivitäten nie programmatisch artikuliert haben. Ihre Politik bestand vielmehr darin, Prioritäten zu verschieben, um auf konkrete Bedürfnisse, veränderte Herausforderungen und Dynamiken politischer Kämpfe reagieren zu können. Es ging darum, mit der eigenen Solidaritätsarbeit die Widerstandsfähigkeit der Menschen zur stärken. Die politische und die soziale Ebene der Auseinandersetzungen wurden verschränkt: Die Kämpfe gegen Austerität und die Troika haben sich mit dem Alltäglichen, dem Persönlichen und dem Lokalen verbunden, wodurch sich zugleich die soziale Basis des politischen Kampfs verbreiterte. So sind durch Beteiligung und Selbstorganisation neue Paradigmen entstanden, die Ausgangspunkt für weitreichende politische Maßnahmen und Strukturveränderungen sein können.
Die entscheidende Herausforderung in der jetzigen Situation besteht also darin, politisches Selbstvertrauen und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen – auch wenn der Druck zunimmt und der Bedarf nach materiellen Ressourcen nicht zuletzt angesichts der Demoralisierung der Bewegung steigt. Im Kern geht es darum, den Diskurs der Hoffnung wiederzubeleben. Diese strategische Herausforderung ist aber anspruchsvoll. Sie macht möglicherweise eine Neubestimmung der Prioritäten erforderlich, die momentan von den dringendsten alltäglichen Bedürfnissen diktiert werden. Kann die Solidaritätsbewegung sich dieser Herausforderung stellen? Die Erfahrung zeigt, dass Menschen gerade dann mobilisierbar sind, wenn sie sich als Teil wichtiger sozialer Bewegungen und Ereignisse erleben, wenn sie positive Ideen und Emotionen damit verbinden. Demgegenüber wird die Mobilisierungskraft durch demoralisierende Diskurse, wie sie aktuell um das ›bloße Überleben‹ geführt werden, geschwächt. Die jüngsten Erfahrungen in der Solidaritätsbewegung mit Geflüchteten bestätigen dies: Sie haben eine große politische Relevanz und sind wichtiger Ausdruck eines popularen Protagonismus. In ihnen zeigt sich, dass Solidarität weder als Idee noch als Praxis an mobilisierender Kraft eingebüßt hat.1 Die selbstorganisierten Solidaritätsnetze haben unter Aufbietung all ihrer Kräfte die Kultur, die Erfahrungen und Strukturen gebildet, in denen sich ein popularer Wille der Massen ausdrücken kann. Dies macht die Frage umso wichtiger, was das Selbstbild dieser Bewegung ist und welche Ziele sie sich unter den jetzigen Umständen setzt.