Die DGB-Gewerkschaften mobilisieren für die Teilnahme an den vom 1. März bis 31. Mai stattfindenden Betriebsratswahlen. In rund 28.000 Betrieben werden 180.000 Vertreter*innen der Beschäftigten gewählt. Eine hohe Wahlbeteiligung würde nicht nur die Legitimation der Interessenvertretung der abhängig Beschäftigten steigern, sondern wäre in Zeiten von Demokratieentleerung und autoritärer Regression auch ein Signal für beteiligungsorientierte Zukunftsgestaltung. Die Leipziger Autoritarismus-Studien haben wiederholt auf den Zusammenhang von betrieblicher, gesellschaftlicher und politischer Demokratieentwicklung hingewiesen.
Die rechtliche Landschaft ist zerklüftet. Für privatwirtschaftliche Betriebe regelt das Betriebsverfassungsgesetz die betriebliche Mitbestimmung. Im öffentlichen Dienst steckt das Personalvertretungsgesetz den Rahmen ab, in kirchlichen Betrieben gibt es »Mitarbeitervertretungen«, in sogenannten Tendenzbetrieben wie Zeitungsverlagen sind die Rechte des Betriebsrats eingeschränkt. Dass der Fortschritt eine Schnecke ist, zeigt sich gerade hier. Die letzte größere Reform des Betriebsverfassungsgesetzes liegt ein halbes Jahrhundert zurück. Sie brachte 1972 verbesserte Zugangsrechte für Gewerkschaften in die Betriebe, stärkere Absicherung der Betriebsräte, erweiterte Mitbestimmungsrechte in sozialen, personellen und wirtschaftlichen Angelegenheiten. Hinzu kamen ein besonderer Kündigungsschutz und verstärkte Fortbildungsmöglichkeiten. Die Altersgrenze für die Wählbarkeit wurde von 21 auf 18 Jahre herabgesetzt und Beschäftigte ohne deutschen Pass erhielten das passive Wahlrecht. Vieles davon war überfällig, das meiste nicht weitreichend genug, aber es gab auch Erfolge. Einer Untersuchung der IG Metall zufolge nehmen Beschäftigte mit Migrationshintergrund inzwischen anteilig genauso häufig Mandate wahr wie ›deutschstämmige‹ – ein Beispiel für Demokratiefortschritt.
Zahl der Betriebsräte ist rückläufig
Doch die Realität sieht in weiten Bereichen ernüchternd aus. Gegenwärtig gibt es nur in neun Prozent aller Betriebe, in denen ein Betriebsrat zulässig wäre, tatsächlich ein solches Gremium. Die Zahl ist leicht rückläufig; vor 20 Jahren waren es zwölf Prozent. Insgesamt arbeiten in der deutschen Privatwirtschaft rund 42 Prozent der Beschäftigten im Westen und 35 Prozent im Osten in Betrieben mit Betriebsrat. Nach den Erhebungen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit hatte 2020 lediglich jeder 22. Kleinbetrieb (bis 50 Beschäftigte) im Westen einen Betriebsrat, unter den Großbetrieben (mehr als 500 Beschäftigte) beträgt die Quote dagegen 85 Prozent.
Zu den Ursachen des Rückgangs zählt, dass durch den Strukturwandel in klassischen Branchen wie der Stahl- und Werftindustrie Standorte geschlossen, Arbeitsplätze abgebaut wurden, und sich infolgedessen die Zahl der Betriebsräte verringert hat, während gleichzeitig Tech-Konzerne häufig sowohl Mitbestimmung als auch Tarifbindung bekämpfen. Fälle von Union Busting, d.h. Bekämpfung von Betriebsratsgründungen und gewerkschaftlicher Organisierung wie z.B. beim Lieferdienst Gorillas, der online-Bank N26 oder dem Autovermieter Sixt, tragen mit zur Unterminierung und Schwächung betrieblicher Interessenvertretung bei. Und es gibt Investoren wie Elon Musk, der Mitbestimmung und Gewerkschaften für Teufelszeug hält. In dem noch im Bau befindlichen Tesla-Werk in Grünheide bei Berlin wird bereits in diesem Monat ein Betriebsrat gewählt. Mit Kalkül, denn bisher sind am Standort vorwiegend Manager und Ingenieure an Bord. Die Arbeiter*innen werden erst nach und nach angeheuert. Zum Betriebsrat jedoch darf man erst sechs Monate nach Einstellung gewählt werden. Zufall? Ganz und gar nicht. Ein vom Management besetztes und gesteuertes Gremium wird kaum die Interessen der ganzen Belegschaft vertreten.
Als 1972 über die bis heute geltende Novelle des Betriebsverfassungsgesetzes gestritten wurde, warnten Unternehmerverbände vor einer »Vergewaltigung« der Eigentümer. Die harte Gegenwehr verwunderte nicht, schließlich wurde mit der Erweiterung der betrieblichen Mitbestimmung eine »Machtfrage« aufgeworfen, so Johanna Wenckebach (2022), Direktorin des Hugo-Sinzheimer-Instituts. Wo ein Betriebsrat sei, könne die Kapitalseite »nicht durchregieren«. Um die Rechte der Betriebsräte und ihre Arbeitsbedingungen wird deshalb stets heftig gerungen. So forderte der BDA-Präsident Rainer Dulger (2022) in einem Meinungsbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Anfang des Jahres: Mitbestimmung müsse »entstaubt«, billiger, schneller und »unbürokratischer« werden. Von Demokratie, die bei politischem Bedarf doch ansonsten überall auf der Welt zu verteidigen ist, kein Sterbenswort.
Das ist nicht neu. Unternehmer, ihre Verbände und politischen Interessenvertreter*innen haben sich auf das Institut der Mitbestimmung nach dem Zweiten Weltkrieg und der Niederschlagung des Faschismus nur eingelassen, weil es galt, die Umsetzung der Forderungen nach Sozialisierung von Schlüsselindustrien und »Neuordnung« der Wirtschaft zu verhindern. Doch seit der Durchsetzung neoliberaler Regime, der sogenannten Globalisierung und verstärkt seit deren Krise lautet die Zeitdiagnose, dass Kapitalismus und Demokratie als systemisch gegensätzliche Entwicklungslogiken wieder beschleunigt auseinanderlaufen.
»Sozial-ökologische Transformation«: Betriebsräte müssen pro-aktiv eingreifen
Im Koalitionsvertrag der rot-grün-gelben Bundesregierung heißt es: »Die sozial-ökologische Transformation und die Digitalisierung kann nur mit den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern wirksam gestaltet werden.« (SPD/Grüne/FDP 2021) Das ist nicht nur in einem sozialpartnerschaftlichen Verständnis aufgeschrieben worden, sondern meint: Eigentümer und Management alleine werden es nicht hinbekommen. Das lässt sich mit der Beschäftigtenbefragung der IG Metall aus dem Jahr 2020 belegen. Mehr als die Hälfte der gut 250.000 Befragten hat darin beklagt, dass ihr Betrieb keine Strategie habe, um sich fit für die Zukunft zu machen. Das Bild vom Betrieb, der schließt, nachdem er das letzte Auspuffrohr für einen Verbrennermotor produziert hat, macht die Runde. Deshalb drängt die IG Metall, dass Betriebsräte endlich mitentscheiden müssen, wenn es um strategische Entscheidungen geht. So fordert die 2. Vorsitzende der IG Metall, Christiane Benner: »Unsere Betriebsrätinnen und Betriebsräte müssen proaktiv eingreifen können und beteiligt werden, etwa wenn es um Investitionen in Standorte, um Qualifizierung oder um zukunftsfähige Produkte geht.« (vgl. dpa 2022)
Denkt man das weiter, stößt man auf einen Programmvorrat, der auch in den Gewerkschaften lange ignoriert worden war: Wirtschaftsdemokratie.
Querschüsse von rechts
Im Vorfeld der diesjährigen Wahlen stellen die DGB-Gewerkschaften eine größere Zahl von Wahllisten fest. Dahinter verbergen sich u.a. Versuche des rechten »Zentrums Automobil«, das bereits seit Jahren vor allem in Süddeutschland zur Betriebsratswahl antritt, Betriebsräte zu kapern. Schlüsselfiguren der braunen Pseudogewerkschaft haben eine einschlägige Vergangenheit als Rechtsradikale wie der Mitbegründer Oliver Hilburger, früherer Gitarrist bei der Neonazi-Rockband »Noie Werte«. Die Gruppierung betrachtet sich als Alternative oder Opposition zu den DGB-Gewerkschaften. Bei den letzten Betriebsratswahlen vor vier Jahren gelang dem Zentrum der größte Erfolg im Daimler-Stammwerk Stuttgart-Untertürkheim, wo die Liste 13 Prozent der Stimmen erhielt. Doch insgesamt kam das Zentrum nur auf 21 Sitze an sieben Standorten: Daimler Untertürkheim, Daimler Sindelfingen, Daimler Rastatt, Opel Rüsselsheim, BMW Leipzig, Porsche Leipzig und Stihl in Waiblingen.
Bei den diesjährigen Wahlen tritt im Zwickauer VW-Werk erstmals ein »Bündnis freier Betriebsräte« an, das laut Inlandsgeheimdienst von der rechtsextremen Partei »Freie Sachsen« unterstützt wird. Neu sind auch Kandidaturen aus dem Umfeld der sogenannten »Querdenker-Bewegung«, um sich in den Unternehmen zu etablieren. So prüft die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, »ob aus der Szene von Impfskeptikern oder anderen Milieus heraus Listenverbindungen entstehen«. Diese Entwicklung treffe vor allem im Bereich der Krankenhäuser und der Altenpflege auf eine »schwierige Situation«. Es gebe rechtspopulistische Bestrebungen, »die Betriebsratswahlen für sich zu nutzen und den organisierten Rechtsextremismus in die Betriebe zu tragen«, konstatiert Kai Burmeister, DGB-Landesvorsitzender in Baden-Württemberg. Besonders besorgt den DGB der organisierte Versuch von AfD, Zentrum Automobil und Querdenkerszene, die Diskussion über die Impfkampagne in die Betriebe zu tragen, so Burmeister. Mit einem Aufruf zum Impfstreik wollen sie gegen die DGB-Gewerkschaften punkten (vgl. Schiermeyer 2022).
Der baden-württembergische Bezirksleiter der IG Metall, Roman Zitzelsberger, betont, die rechte Pseudo-Gewerkschaft betreibe eine »Pippi-Langstrumpf-Politik« – Ich mache mir die Welt, wie sie mir gefällt. „Die Rechten gaukeln den Belegschaften vor, trotz immer strengerer Klimaschutzvorgaben könne alles beim Alten bleiben in der Autoindustrie.« Dabei habe die Politik faktisch längst entschieden, dass in den nächsten beiden Jahrzehnten der Wechsel zum batterieelektrischen Antrieb komme. In Verbrennungsmotorfabriken wie in Untertürkheim kämpfe »die IG Metall gemeinsam mit den Betriebsräten erfolgreich für neue Jobs in der Elektromobilität, während die anderen nur schwadronieren.« (vgl. Theurer 2022)
»Union-Busting«: Querschüsse aus dem Arbeitgeberlager
Wahlzeiten sind auch immer Gründerzeiten für neue Betriebsratsgremien. Die Hürden sind seit der Verabschiedung des »Betriebsrätemodernisierungsgesetzes« im Juni 2021 etwas niedriger, z.B. durch verkürzte Fristen beim »vereinfachten Wahlverfahren«. Dennoch zeigen aktuelle Fälle von »Union Busting«: Nach wie vor stößt die Gründung von Betriebsräten vor allem in mittelständischen Unternehmen und Start-Ups auf erbitterten Widerstand. Eine Erhebung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung aus dem Jahr 2020 liefert Hinweise darauf, dass schätzungsweise jede sechste Betriebsratsneugründung behindert wird.
Die Geschäftsführungen sind dabei recht kreativ: Mal zerlegen sie die Firma in kleine Teile, um einen Betriebsrat zu verhindern. Oder sie drohen mit Insolvenz und anschließender Neugründung. Von ihnen beauftragte spezialisierte Anwaltskanzleien schüchtern Kandidat*innen ein, betreiben Mobbing und leiten fadenscheinige Kündigungen ein.
Der Autovermieter Sixt, ein weltweit agierendes Unternehmen mit 7000 Beschäftigten, aber keinem einzigen Betriebsrat, steht für die Gewerkschaft ver.di exemplarisch für »Union Busting«. Bei Versuchen, an den Flughäfen in Frankfurt und Düsseldorf Betriebsräte zu gründen, wurden mehrere Initiator*innen mit fristlosen Kündigungen konfrontiert, aus den Wahlen wurde nichts.[1] Sixt begründete den Rauswurf jeweils mit persönlichen Verfehlungen der Betroffenen (vgl. dpa 2022).