Wenn im Mai 2019 das Europäische Parlament neu gewählt wird, wird auch die Erosion des europäischen Parteiensystems, wie wir es kennen, weiter sichtbar werden. Im zehnten Jahr der großen Krise ist es in den Ländern der Europäischen Union zwar mittlerweile zu einer relativen ökonomischen Stabilisierung auf niedrigem Niveau gekommen, doch die Krise führt zu politischen Umwälzungen mit weitreichenden Folgen. Dem Niedergang der dominierenden Volksparteien in vielen Ländern der Europäischen Union steht die Bildung neuer Parteien und Protestbewegungen gegenüber. Zunächst verlief dieser Aufbruch aufseiten der Linken ab 2011 hoffnungsvoll: von neuen Streikbewegungen gegen Krise und Austerität über die Besetzungen der Plätze bis hin zum Wahlsieg von Syriza. Doch jeder dieser Versuche stieß an die Grenzen einer stark institutionalisierten Macht, nicht zuletzt verdichtet in den sogenannten Europäischen Institutionen (und zuvor der Troika). Und doch: Trotz der heftigen Niederlage gegen die Troika ist Syriza noch an der Regierung, das letzte Memorandum endete im Sommer 2018. Auch wenn harte Einschnitte und Privatisierungen erzwungen wurden, konnten nichtsdestoweniger auch wichtige Akzente gesetzt werden, etwa im Gesundheitsbereich, bei der Bekämpfung von Energiearmut oder bei der Steuergerechtigkeit. Ob es zu einer zweiten Regierung unter Tsipras kommen wird, ist gegenwärtig vollkommen unklar. Die griechische Erfahrung hat viel Frustration hinterlassen. Und doch erhebt sich der Widerstand in Europa immer wieder von Neuem. Die Mobilisierung von neuen Protestbewegungen zeigt bis heute Konsequenzen. Nach der Bewegung 15M konnten im spanischen Staat Podemos und dann Unid@s Podemos entstehen und auf diese Weise alte und neue Linke in ein produktives Verhältnis setzen. Nach den großen Streikbewegungen und der Plätzebewegung Nuit Debout in Frankreich hat sich La France Insoumise mit Jean-Luc Mélenchon als neue Kraft etabliert und den Platz der führenden Oppositionspartei eingenommen. Zwar wurden die besten und nachhaltigsten Ergebnisse bisher dort erzielt, wo La France Insoumise und die Kommunistische Partei Frankreichs gemeinsam antraten. Doch das Verhältnis zwischen La France Insoumise und der alten KP-Linken ist angespannt, und spätestens seit dem Parteitag der Kommunisten Ende November 2018 ist die Trennung vollzogen. Aus der Europäischen Linken (EL) ist La France Insoumise bereits ausgeschieden, und Jean-Luc Mélenchon versucht gegenwärtig, in Europa ein zweites linkes Bündnis zu etablieren. Währenddessen zeigen die »Gelbwesten« erneut, dass sich viele Menschen in Frankreich nicht repräsentiert fühlen, durch niemanden (vgl. Balibar 2019; Chwala 2018; Bussemer 2018b). In Großbritannien mündete das Unbehagen über das Krisenmanagement in widersprüchliche Prozesse: Auf der einen Seite kam es zum Aufstieg der radikalen Rechten von UKIP und dem von ihr und dem ultrarechten Flügel der Tories betriebenen Brexit. Es drohte auch hier der Sozialdemokratie nach Jahren von New Labour der totale Absturz, analog zum dramatischen Niedergang der griechischen PASOK, der französischen Parti socialiste, der niederländischen Partij van de Arbeid oder der SPD in Deutschland. Andererseits erlebte die Labour Party mit der überraschenden Wahl von Jeremy Corbyn zum Parteivorsitzenden eine turbulente Erneuerung. Es folgten die Gründung und die Mobilisierungen der Organisation People′s Momentum sowie ein »innerparteilicher Bürgerkrieg« – vergleichbar mit den Auseinandersetzungen in der Demokratischen Partei um die Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders in den USA –, der in Großbritannien allerdings nicht mit einer (vorläufigen) Niederlage der Linken endete, sondern Anlass zu neuer Hoffnung gibt.
Hier zeichnen sich Möglichkeiten der Erneuerung der Sozialdemokratie jenseits des Neoliberalismus ab. Im Fall der britischen Labour-Partei ist es gelungen, das durch und durch neoliberale Projekt des Blairismus zu den sozialistischen Wurzeln von Labour zurückzuführen und über die Organisation People′s Momentum eine zeitgemäße Form der Zusammenarbeit zwischen Labour und mit der Partei sympathisierenden Organisationen und Bewegungen zu finden. Momentum ist eine Art Plattform und nicht in die Parteistruktur integriert, kooperiert allerdings eng mit dem Labour-Führungsteam von Jeremy Corbyn, John McDonnell und Jon Trickett. Die zahlreichen neuen Parteizugänge aus den sozialen Bewegungen stärken derzeit die Position der linken Parteiführung. Das erfolgreiche Parteiumbauprojekt zeigt jedoch seine Grenzen, wenn es um Mehrheiten innerhalb der Labour-Fraktion im Parlament geht (zur Debatte Labour und Europa vgl. Wainwright 2019). Es gibt bisher nur ein weiteres Land in Europa, in dem eine sanfte Erneuerung der Sozialdemokratie gelang: Das ist Portugal, wo es nach den (bezogen auf die Bevölkerungszahl) europaweit größten Protesten gegen die Krise zu deutlichen Zugewinnen der beiden radikalen linken Parteien Bloco de Esquerda und den Kommunisten kam, die seit 2015 eine von den Sozialisten gestellte Anti-Austeritäts-Regierung tolerieren (vgl. Candeias/Principe 2017). Auch in anderen Teilen Europas gibt es hoffnungsvolle Initiativen und Neuanfänge, ob in Slowenien und Kroatien, Polen oder Belgien, die die Rosa-Luxemburg-Stiftung in ihrer Auslandsarbeit bereits begleitet und die es weiter zu unterstützen gilt. In zahlreichen kleinen Ländern Ost- und Südosteuropas konnten neue linke Parteien wie die slowenische Levica in den vergangenen Jahren bemerkenswerte Wahlerfolge verzeichnen. Transeuropäisch, wenn auch in extrem unterschiedlicher lokaler Ausprägung, sowie international – insbesondere in den USA und Lateinamerika – zeichnet sich zudem eine neue feministische Internationale ab, mit hohem Potenzial für linke Organisierung (vgl. Wischnewski/Wolter 2019). So beteiligten sich etwa am Frauenstreik in Spanien 2018 mehr als sechs Millionen Menschen – und auch in Polen gingen zur Verteidigung von Frauenrechten – wie das Recht auf Abtreibung – in den vergangenen Jahren Hunderttausende auf die Straße. Die neu entstehende politische Landschaft ist jedoch äußerst kompliziert: Dort, wo die Rechte die EU kritisiert, sympathisiert die Linke mit Europa. Die polnische Partei Razem etwa ist proeuropäisch, weil die Rechte in Polen einen EU-kritischen, nationalistischen Kurs verfolgt und wichtige Freiheitsrechte infrage stellt. Auf dem Balkan, wo Konservative die EU für sich reklamieren und damit zugleich Arbeits-, Sozial- und Freiheitsrechte unterminieren, ist die Linke dagegen im Umkehrschluss eher EU-kritisch. Zudem ist der gegenwärtige Erfolg von feministischen Bewegungen eng an den Aufstieg der radikalen Rechten geknüpft. Denn die hat fast überall, nicht nur in Polen, den Kampf gegen Frauen- und reproduktive Rechte auf ihre Fahnen geschrieben.
Aufstieg der Rechten und neuer Autoritarismus
Vor dem Hintergrund einer verallgemeinerten und vielfältigen Kultur der Unsicherheit etablierten sich in Europa schon in den 1990er Jahren modernisierte neurechte Parteien als ungehörige Geschwister des Neoliberalismus. Dabei ist das Bild der radikalen Rechten in Europa keineswegs einheitlich. Zunächst einmal gilt: In Ländern mit einer starken Linken (etwa Griechenland, Spanien, Portugal oder Großbritannien) konnte die radikale Rechte bislang keine so große Popularität entfalten bzw. wurde stark gebremst. In Frankreich, wo der Front National kurz vor der Regierungsübernahme stand, erlebten wir danach eine in ihrem Ausmaß doch überraschende Zersetzung der Partei von Marine Le Pen, die sich inzwischen in Rassemblement National umbenannt hat und nun in den Umfragen wieder bei über 20 Prozent rangiert. In Deutschland radikalisiert sich die AfD. Entscheidend für ihre Entwicklung ist, wie sich dort ein völkisch-nationalistischer, aber eben auch ein nationaler »sozialer« Flügel mit einem radikal national-neoliberalen Flügel ins Verhältnis setzt. Dies war auch Ursache der Turbulenzen in Frankreich. Die Entwicklungen in Österreich wecken Befürchtungen angesichts möglicher vergleichbarer Entwicklungen in Deutschland und andernorts. Beunruhigend ist die Lage auch in Italien, das einst als der »europafreundlichste« Mitgliedsstaat der EU galt, insbesondere nach den letzten Wahlen. Dort regiert die von Beppe Grillo gegründete Fünf-Sterne-Bewegung zusammen mit der radikal-rechten und migrationsfeindlichen Lega um Matteo Salvini, während die zersplitterte Linke um ihr Überleben kämpft und sich neu sammeln müsste, etwa um Luigi di Magistris, Bürgermeister von Neapel, der zusammen mit anderen »Solidarischen Städten« gerade den Gegenpol zur Regierung bildet (vgl. Caccia/Mezzadra 2019). Wie in so vielen anderen europäischen Ländern gelingt es auch hier der Linken nicht, den durch die Schwäche der Sozialdemokratie entstandenen Platz einzunehmen.
Der Aufstieg der radikalen Rechten ist auch Folge eines neuen Autoritarismus mit vielfältigen Gesichtern. Die Grundlagen wurden mit dem autoritären und antidemokratischen Krisenmanagement der EU und nicht zuletzt durch die deutsche Regierung und ihre Finanzminister gelegt. Die ganz Europa aufgezwungene Autoritätspolitik ist einer der Hauptgründe für eine der gravierendsten Krisen der EU. Zum ersten Mal wird der Bestand der europäischen Integration an sich infrage gestellt. Es geht dabei gar nicht so sehr um Ausstiege nach dem Modell des Brexit, sondern um einen schleichenden Zerfall von innen, bei dem europäische Institutionen an Legitimität verlieren. In Reaktion darauf versuchen diese – wie jüngst am Beispiel der Diskussion um den italienischen Staatshaushalt sichtbar wurde –, sich autoritär Geltung zu verschaffen. Diese Vorstöße aus Brüssel werden von breiten Teilen der Bevölkerungen in den jeweiligen Ländern abgelehnt und von einer wachsenden Anzahl von Regierungen mehr oder weniger offen boykottiert. Die Mehrheit der europäischen Regierungen hält sich an dem einen oder anderen Punkt nicht mehr an die von ihnen unterzeichneten europäischen Verträge und einige vollziehen gar den offenen Bruch. Die dominanten Regierungen, allen voran die deutsche und ihre Verbündeten, brechen Verträge, um eine neue Praxis anschließend in neue Gesetze mit Verfassungsrang zu pressen. Stichwort: Fiskalpakt. In den eher »schwächeren« Staaten versuchen die Regierenden, über die Opposition zur EU Druck zu entfalten und sich zu profilieren. Das sieht man vor allem bei der Migrationsfrage oder bei der Zentralbankpolitik. Der neue Autoritarismus wird derzeit am stärksten von den autoritär-nationalistischen Regierungen in Polen und Ungarn oder von Politikern wie Trump, Putin oder Erdoğan verkörpert. Doch die Rückkehr der politischen Unternehmer bzw. des Bonapartismus beschränkt sich eben nicht auf die genannten. Macron zerstörte mit seiner Bewegung La République en Marche! gleich die beiden alten Frankreich lange Zeit dominierenden Parteien, die UMP (die ehemalige Partei von Sarkozy) und die Sozialisten (PS), während Kurz in Österreich mit seiner Liste mal eben die alte Österreichische Volkspartei (ÖVP) entkernte und den Weg für die Rückkehr der rechten Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) an die Regierung ebnete. Der Legitimationsverlust der EU ist allerdings auch Ausdruck des zunehmenden Widerwillens gegen die deutsche Dominanz in Europa. Und mittlerweile ist mit dem Erstarken der AfD auch die Stabilität in Deutschland vorüber, das politische Feld ist auch hier deutlich in Bewegung geraten.
Die europäische Linke zwischen Bewegung, Populismus und Neuformierung
Die oben genannten Umwälzungen des politischen Feldes werden nicht ohne Folgen für das Ergebnis der Wahlen zum Europäischen Parlament bleiben. Hier kann es zu heftigen Verschiebungen kommen. Die Sozialdemokratie wird laut Umfragen wohl die Hälfte ihrer Sitze verlieren, während die radikale Rechte möglicherweise auf über 21 Prozent der Sitze (inkl. PiS und Fidesz) käme. In Italien werden die beiden Parteien der radikal-rechten Regierung – die Fünf-Sterne, aber vor allem die Lega – möglicherweise sogar auf 70 Prozent kommen (vgl. Ey 2018, 2f). Diese Verschiebungen im Parlament und ohnehin schon im Europäischen Rat werden wohl direkte Auswirkungen auf die Zusammensetzung der Europäischen Kommission sowie auf Neubesetzungen etwa des Europäischen Gerichtshofes haben. Die politischen Verschiebungen in den Nationalstaaten kommen damit voll auf der europäischen Ebene an. Die Wahl findet außerdem in einem unsicheren Umfeld statt. Nicht umsonst sprechen wir vom zehnten Jahr der Krise. Die ökonomischen Folgen des Brexit werden vielleicht nicht so gravierend ausfallen, wie sie teilweise dargestellt werden, dafür dürften die Folgen für die Arbeits- und Sozialrechte von britischen und europäischen (vor allem osteuropäischen) Arbeitskräften massiv sein. Immer noch ungeklärt ist der Umgang mit Nordirland und die Frage nach dessen zukünftigem Status. In jedem Fall kann ein gelingender Brexit für andere »europamüde« Staaten Schule machen. Noch stärker sind allerdings die Bewegungen unterhalb der Nationalstaaten, die Unabhängigkeitsbewegungen von Schottland bis Katalonien, die eine andere Art von Desintegration befördern können. Fieberhaft werden vonseiten der Regierungen, zuletzt von Macron, immer wieder Vorschläge unterbreitet, um der Dynamik einer Desintegration entgegenzutreten und die europäische Integration weiter zu vertiefen. Die deutsche Regierung macht jedoch keine erkennbaren Anstalten, etwas an der gegenwärtigen Entwicklungsrichtung grundlegend zu verändern. Eine Reform der Union ist dringender denn je, aber derzeit nicht zu erkennen – und dies vor dem Hintergrund der Möglichkeit einer neuen Finanzkrise, vor der internationale Finanzinstitutionen warnen. Einig sind sich die Regierungen nur mit Blick auf den Ausbau der Sicherheitsapparate, einer Militarisierung der EU und einer stärkeren Zusammenarbeit in den Bereichen Aufrüstung, Grenzsicherung und Flüchtlingsabwehr (vgl. Oberndorfer 2019, Pflüger 2019 sowie Hunko 2019). Angesichts der Reformunfähigkeit der gegenwärtigen Regierungen der EU-Mitgliedsstaaten bedarf es der Weiterentwicklung und vor allem Sichtbarmachung linker Alternativen. Ein schlichtes »für oder gegen Europa« wird vermutlich die öffentliche Debatte im Vorfeld der Europawahlen dominieren. Für die Linke ist dies nicht so leicht. Sie ist gegen die EU, wie sie gegenwärtig ist, aber in der Haltung für ein gemeinsames Europa, konstruktiv-kritisch. Unter potenziellen linken Wähler*innen dominiert ein proeuropäisches Gefühl, gepaart mit Skepsis gegenüber den herrschenden Institutionen in Europa und einem Desinteresse an europäischen Diskursen, die an den alltäglichen Problemen der Vielen vorbeigehen.
Die Linke muss also »Europa anders machen« und anders thematisieren, näher an den Lebenswelten und Erfahrungen der Einzelnen. Dabei gilt es, die gesellschaftliche Stimmung »Europa nicht den Rechten überlassen« von links zu besetzen und mit der sozialen Frage und der Kritik an der neoliberalen Politik, die den Nährboden für den Aufstieg der Rechten bildet, offensiv zu verbinden. Leider ist die politische Linke in Europa uneinig. Die Europäische Linke (EL) ist tendenziell gelähmt, blockiert im Streit um ihre Haltung zum Euro und zur EU. Zugleich gibt es Bewegungen, die zur Formierung konkurrierender linker Projekte auf europäischer Ebene beigetragen haben und zu einer Spaltung der europäischen Linken entlang der Linie La France Insoumise, Podemos, Bloco[1] und anderer gegen die »alte Linke« führten. Ein weiteres Beispiel ist der Übergang von DiEM25 (Democracy in Europe Movement 2025) in Parteiform – dies stellt die erste Parteigründung in Griechenland konkurrierend zu Syriza dar, auch in Deutschland hat sich DiEM25 als Partei konstituiert und tritt mit ihrem Spitzenkandidaten Yanis Varoufakis an; weitere Parteigründungen in anderen Ländern werden folgen. Die innerlinken Konfliktlinien sind vielfältiger und gravierender geworden, trotz einer Annäherung auf der programmatisch-konzeptionellen Ebene. Denn es geht nicht länger nur ums Programm, sondern auch um die Parteiform, etwa um die Durchsetzung durchaus unterschiedlicher Vorstellungen links-populistischer Parteiformen mit starker Personenzentrierung gegen die bestehenden Parteiformen der Linken (vgl. Candeias 2018).