»Na, dann müssen Sie da wegziehen!« – ein Satz wie eine Axt. Dabei hatte ich gerade erst begonnen zu reden, als mich der Herausgeber einer großen westdeutschen Tageszeitung damit auch schon unterbrach und so das ganze Kommunikationsdilemma zwischen West und Ost klarmachte. Welcher im Osten der Republik sozialisierte Mensch kennt ihn nicht, diesen Schlusspunkt, der die eigenen Ausführungen zu spezifischen Problemlagen des Lebens in den »schwierigen Bundesländern« (Rainald Grebe) stoppen soll. Dabei hat es noch gar nicht begonnen, das Zuhören und Begreifen einer komplexen, über die Jahre gewachsenen Schieflage nach unten, hinten und zurück. Offenbar ist da kein ernst zu nehmender Referenzraum östlich der Elbe. Sonst würde ein solcher Satz nicht so reflexhaft fallen. Und säße ich nicht mit am Tisch, könnte man auch offen darüber schweigen. Der Osten des Landes taugt in Frankfurt am Main, wo der Herausgeber zu Hause ist und die ostdeutsche Autorin zu Gast, nur als Kulisse. Für Scheingefechte in den Feuilletons. Oder vielleicht noch zur Erholung. Für Pferd und Mensch und Kind. 

Die politischen Debatten, die hier gepflegt werden, übergehen die konkreten Lebensrealitäten wachsender Teile der Bevölkerung. Im Osten, aber nicht ausschließlich dort, sondern überall, wo kein Bus fährt, kein Zug hält, kein Funksignal ankommt, nur noch Hermes- und DHL-Transporter zur Versorgung kreisen und ein Fahrrad kein ideologisches Bekenntnis, sondern ein Fortbewegungsmittel ist – unverzichtbar für die Vielen, die sich kein Auto leisten können. Gut ausgebildete Leute ziehen lieber woanders hin. Wo mehr funktioniert, wo mehr gezahlt wird, wo die Stimmung besser ist. 

Die sich durch Digitalisierung, Pandemie und Krieg immer weiter beschleunigende radikale Veränderung der Welt bestärkt das Erleben des Nicht-mehr-hinterher-Kommens. Nach außen dringen die immer gleichen Bilder verwaister Stadtzentren in bröckelnden Pastellfarben, ruinierter Bahnhöfe. Auch Menschen. Mit gezeichneten Körpern, gestalteten. Narben, Hundenamen. Müde Augen. Zahnruinen. Male des Verlierens. Die sind überall gleich. 

Die Bewohner*innen verlassener, entlegener Ortschaften sehen sich jeder Wirkmächtigkeit des eigenen Handelns beraubt und üben erneut den Schulterschluss mit den Menschenfeinden. Die mit jeder Generation wachsende Unkenntnis der eigenen Geschichte bestärkt ihre Unfähigkeit, sie zu gestalten. Ein gemeinsamer Erfahrungsraum mit den osteuropäischen Nachbarn bleibt so verschlossen. Ungenutzte Potenziale, die schon bald verschwunden sein werden. Die Angstlandschaften dagegen wachsen, werden ausschließlich von rechts bewirtschaftet, wo man die soziale Frage national beantwortet und die Sehnsucht nach Gemeinschaft zwar hart reglementiert, aber dafür möglichst niedrigschwellig bedient. Die Verlassenen versenken das Schiff. 

Der Blick zurück lässt sie wiederauferstehen, die »gute alte Zeit«, weichgezeichnet, gefühlsduselig. Jemand wie der Unterhaltungskünstler Uwe Steimle verdient damit eine Menge Geld. Namen reihen sich wie Marken einer untergegangenen Welt: Gundi. Bummi. Kettwurst. Ach. Friedenstauben fliegen tief. Wimpelchen im Wind. Retrohorror statt Erinnerungskultur. Wie sollte eine solche auch gedeihen, wenn kein Streit möglich ist? Das Kind sieht nur die Diktatur, die Mutter fand es zuweilen ganz schön und Vater hat doch schließlich für eine bessere Welt gekämpft. Welt. Da war mal was. Es hat sie doch gegeben, oder? »Kleine weiße Friedenstaube …« Rentner summen mit und denken an die Enkel in der Ferne. Drüben, im Westen. Wo ist es hin, das kulturelle Kapital? Davongerannt, vertrieben. Das kommt nicht mehr zurück. Und wenn, dann sind die Menschen nicht wiederzuerkennen. Der Graben zwischen den Generationen wird tiefer. Resigniertes Einmauern: »Was wissen DIE denn schon!« 

Der alte Nachbar in Brandenburg stemmt seine imposanten Zimmermannshände in die Hüften, blickt zum Horizont und seufzt: »Wenn erst die Freunde wieder hier sind …«. Der Putin macht das schon. Bald sei es soweit. So steht er vor mir, mit Löchern in den Schuhen. Schnee fällt sachte. Nur noch Albtraum. Und lehrt mich sein Pandemie-Paradox: »Für uns hier hat sich nüscht verändert.« Der Kontrakultur tut das keinen Abbruch: »Vollende die Wende!« »Ostdeutsche Härte!« Seid ihr noch berührbar? Ja, aber nur für die eigene Sippe. Wirklich? Wie nennt man das, wenn alle Klischees stimmen? 

»Warum tun Sie sich das eigentlich an?« In Frankfurt am Main wird nun der Wein dekantiert. Er muss atmen. Das versuche ich auch. »Warum machen Sie nicht mal was Schönes?« Der Herausgeber blickt komplizenhaft über seinen Brillenrand. Ich setze mich aufrecht. Was sagt man da? Vielleicht wegen des Schöner-Wohnen-Magazins, das ich im Zug gefunden hatte? Diesem Portrait eines erfolgreichen, westdeutschen Paars im renovierten brandenburgischen Domizil. Auf dem ehemaligen Dreiseitenhof herrscht nun Rauch- und Haustierverbot. Rustikales Ambiente, aller Spuren menschlicher Arbeit beraubt. Eingefrorene Zeit. Die Miete beträgt 999 Euro. Pro Nacht. 

Oder wegen Rosa Luxemburg? »Sieh, dass du Mensch bleibst. Mensch sein ist von allem die Hauptsache. Und das heißt, fest und klar und heiter sein, ja heiter, trotz alledem.« Ist das nicht das Gegenteil der Selbstgewissheit des Herausgebers? Und bleibt es nicht wahr? Was Wohlstand so alles anrichtet. 

Die Sonne gleißt. Abendrot auf bequemen Stühlen. Statt nach einer eloquenten Entgegnung zu suchen, erinnere ich mich an ein Gespräch am Rheinsberger Seeufer. Der klirrende Schlüsselbund. Die Schlossanlage, menschenleer und aus der Zeit gefallen, lag in unseren Rücken. Vor uns der sich rot verfärbende See. »Wie friedlich alles ist«, seufzte der Wachmann. Und: »Ich will mit keinem tauschen.« Meinem zweifelnden Blick setzte er entgegen: »Die sich für besonders schlau halten, die kapieren am allerwenigsten.« Aber manche kapieren sehr genau. Die ziehen, bauen, zementieren immer neu die alten Grenzen. 

In Frankfurt am Main hat sich der Herausgeber einem anderen Gesprächspartner zugewandt. Die Männer tauschen sich über Statistiken aus. Zahlen, die ihnen recht geben. Ich rufe mir solange weitere Gesichter ins Gedächtnis, Stimmen und bestärkende Gespräche mit Menschen, die dem Anpassungsdruck und Nichtseinwollen in den Randlagen ihre Fantasie und Kraft entgegensetzen. Denke an die Betreiberin des kleinen Cafés mit angeschlossener Pension. Ebenfalls in der Prignitz. Die hatte sich geweigert, zwei unverkennbare Rechtsradikale zu beherbergen. Trotz Flaute, knapper Kasse und der Bedrohlichkeit. »Wär’ ja noch schöner«, hatte sie nur gesagt und beherzt in einen Apfel gebissen. Der Wachmann kannte weder sie noch ihr Café. Weil er nie ausgeht. »Mit der würden Sie sich bestimmt verstehen«, erklärte ich ihm. »Die geht hier auch nicht weg. Außer, sie geht pleite.«