Ihr arbeitet aus einer befreiungstheologischen Perspektive an Möglichkeiten der gesellschaftlichen Veränderung. In eurer Praxis spielen auch Formen des zivilen Ungehorsams eine Rolle. Wie nehmt ihr die Debatte um zivilen Ungehorsam und staatliche Repression wahr?
JULIA: Die Protestform des zivilen Ungehorsams hat eine größere Selbstverständlichkeit bekommen. Viele Menschen, nicht nur Linke, finden es inzwischen legitim, Sitzblockaden als Protestmittel einzusetzen – sei es bei Naziaufmärschen oder bei den Massenaktionen von »Ende Gelände«. Mit »Fridays for Future« sind auch neue Formen entstanden – etwa der Schulstreik für das Klima. Auch in der feministischen Bewegung hat sich der Frauen*streik als internationale Praxis entwickelt.
Gleichzeitig sehen wir eine gewisse Stagnation: Sitzblockaden werden zwar immer ›professioneller‹ durchgeführt, es fehlt aber manchmal an Kreativität und Mut, auch neue Formen zu ausprobieren. Die Frage ist, wie sich Menschen in diesen Praxen so ermächtigen, dass daraus Selbstorganisierungsprozesse entstehen können, wie dort Erfahrungen gemacht werden, die ermutigen, einen Schritt weiterzugehen. Das wäre eine Radikalisierung im positiven Sinne: Dass wir mit unserer Kritik an die Wurzeln gehen, die strukturellen Ursachen der Probleme aufdecken und beginnen, diese grundlegend zu verändern.
BENEDIKT: Ja, oft gibt es eine starke Fokussierung darauf, was in der bürgerlichen Presse und Öffentlichkeit positive Resonanz findet. Das ist aber nur ein Aspekt von zivilem Ungehorsam: Es geht auch um die Unterbrechung des Status quo und darum, als Bewegung das Bewusstsein zu entwickeln, dass man dazu kollektiv in der Lage ist. Das hat etwas mit Selbstermächtigung zu tun. Ob etwas erreicht wurde, kann man also nicht einfach daran messen, ob es tolle Bilder in der Presse gab oder ob wir eine Minimalforderung durchsetzen konnten.
Auch der Umgang mit staatlicher Repression wird oft vor allem juristisch bestimmt: Wie ist es möglich, die Repression möglichst gering zu halten? Das ist verständlich, gleichzeitig braucht es auch einen politischen Umgang. Repression weist auf die Widersprüche hin, die diesem Staat inhärent sind: ein Gewaltmonopol, das Polizist*innen erlaubt, legal Dinge zu tun, die bei anderen als Straftat gelten; Gesetze, die darauf zielen, die bestehende Wirtschaftsordnung und das Recht auf Eigentum zu verteidigen; dass es zwar erlaubt ist zu sagen, was die Ursachen der Probleme sind, aber verboten, daran etwas zu verändern.
Als sozialistische Linke haben wir es ja mit dem Problem zu tun, ein strukturelles Gewaltverhältnis überwinden zu wollen. In den Protesten in den USA nach dem Mord an George Floyd stand auf vielen Transparenten »We’re not starting a race war – we’re trying to end one«. Wie denkt ihr das Verhältnis von Gewalt und Gegengewalt?
JULIA: Tatsächlich wird meistens nicht zwischen struktureller Gewalt, die die Grundlage der kapitalistischen Gesellschaftsordnung bildet, und Gegengewalt unterschieden. Die Befreiungstheologie hat sich mit dieser Unterscheidung schon in den 1970er Jahren auseinandergesetzt. Um es mit den Worten des brasilianischen Bischofs Dom Hélder Câmara zu sagen:
»Zunächst möchte ich festhalten, dass es eine Gewalt gibt, von der sich jede andere Gewalt herleitet: die Gewalt Nummer eins – die Gewalt der Ungerechtigkeiten, die überall bestehen, die Gewalt der Unterdrückung. Die meisten meinen nämlich, wenn sie von Gewalt sprechen, bereits die Gewalt Nummer zwei – die Reaktion der Unterdrückten, den Aufstand der Jugend gegen die ursprüngliche Gewalt.«1