Beginnen wir mit den Fakten: Das Wohlstandsgefälle in der EU ist groß. Im Jahr 2017 lag das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in Deutschland bei etwa 40.000 Euro. Rumänien und Bulgarien waren mit rund 10.000 und 7.000 Euro weit abgehängt. Dies spiegelt sich in den Löhnen: Während etwa im Hochlohnland Dänemark durchschnittlich 25 Euro in der Stunde verdient werden, sind es in Bulgarien knapp 1,70 Euro. Die Krisenpolitik hat die Spaltung der EU verschärft: In Griechenland, Italien, Portugal oder Spanien ist das BIP pro Kopf in den letzten Jahren gesunken. Offiziell gelten 113 Millionen Menschen in der EU als arm. Ein Grund dafür ist, dass die nationalen Mindesteinkommenssysteme Armut nicht verhindern. Nur in Dänemark liegen die Leistungen nahe an der nationalen Armutsschwelle von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Bei den absoluten Sozialleistungen liegen die EU-Länder weit auseinander: Die Sozialhilfe beträgt in Dänemark rund 1.400 Euro im Monat für eine Person. Schlusslicht Bulgarien zahlt rund 22 Euro (vgl. Van Lancker 2015).
Armut und Wohlstandsgefälle zwischen den Mitgliedsländern sind Einfallstore für Sozialdumping. Viele Unternehmen nutzen den Binnenmarkt, um Arbeiter*innen aus Ost- und Südeuropa in deutschen Fleischfabriken, auf Baustellen, im Transport oder in der Pflege auszubeuten. Sie gründen Briefkastenfirmen, betrügen bei den Mindestlöhnen und hinterziehen Beiträge zur Sozialversicherung. Das führt bei vielen Menschen aus den ärmeren Mitgliedsstaaten zu dem Gefühl, sie seien EU-Bürger*innen zweiter Klasse. Gleichzeitig erleben viele auch in den reicheren Staaten eine neoliberale Politik, die ihre soziale Sicherheit bedroht. Dies befördert den Hass auf arme Einwander*innen und ist Wasser auf die Mühlen der radikal-rechten Parteien. Daraus ergeben sich zwei zentrale Aufgaben für eine linke europäische Sozialpolitik: Nur wenn a) die Lebensverhältnisse in der EU endlich spürbar nach oben angeglichen werden und b) Menschen vor Ort gleichbehandelt werden, ist der nationalistische Zerfall der EU aufzuhalten. Der Kampf um ein soziales Europa hat mindestens vier Dimensionen: den Binnenmarkt, die Euro-Währungsunion sowie die Sozialpolitik und den EU-Haushalt.
Binnenmarkt: Wettbewerb vs. soziale Rechte
Der EU-Binnenmarkt garantiert den freien Verkehr von Dienstleistungen, Waren, Kapital und Personen. Oft kollidieren diese wirtschaftlichen Freiheiten mit sozialen Rechten. Ein anschauliches Beispiel ist der Fall der lettischen Firma Laval: Im Jahr 2004 entsandte Laval Arbeiter auf eine Baustelle in Schweden und unterlief gezielt die dortigen Tariflöhne. Die schwedischen Gewerkschaften ließen sich das nicht gefallen, sondern bestreikten und blockierten die Baustelle. Laval klagte gegen die Gewerkschaften und der Fall ging vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH), der entschied, die Aktion der Gewerkschaften verstoße gegen die Dienstleistungsfreiheit auf dem EU-Binnenmarkt. Ähnliche Urteile folgten (Wiking, Rüffert, Luxemburg). Mit der Durchsetzungsrichtlinie 2014 zur Entsenderichtlinie und deren letzter Überarbeitung 2018 wurde inzwischen das Recht auf kollektive Maßnahmen und auf Tariflöhne etwas gestärkt. Die Konflikte auf dem Binnenmarkt gehen jedoch weiter. Ähnlich steht es auch in der Frage der Gleichbehandlung – diese gilt in der EU zwar für Unternehmen, nicht aber für alle Menschen. Warum gibt es etwa in deutschen Großstädten so viele Obdachlose aus Osteuropa? Bürger*innen aus EU-Ländern kommen mit der Hoffnung auf bessere Perspektiven, Arbeit oder Gesundheitsversorgung aus Regionen, in denen es weder das eine noch das andere gibt. Doch wer dann hier Pech hat bei der Arbeitssuche oder immer nur ohne legalen Status ist oder zu geringfügig beschäftigt wurde, ist in Deutschland von sozialer Unterstützung ausgeschlossen. Der Sozialstaat ist für diese Personen nicht zuständig. Die Folge ist großes menschliches Elend auf den Straßen, das von rechts erneut rassistisch gedeutet wird.
Eurozone: Korsett für nationale Haushalte, unverbindliche soziale Empfehlungen
Ein weiteres Problem für die europäische Sozialpolitik ist die Konstruktion der Eurozone, die von Beginn an problematisch war. Ohne die Möglichkeit der Währungsanpassung wirkt sich der wachsende Konkurrenzdruck direkt auf Löhne und Sozialstandards aus. Die von den Finanzministern in der Eurogruppe orchestrierte Euro-Rettungspolitik kam entsprechend einem Großangriff auf soziale Rechte gleich. Der außerhalb des EU-Rechts gegründete Europäische Stabilitätsmechanismus ESM vergab Kredite an die Euro-Länder, die sich wegen der Bankenrettungen nicht mehr am Kapitalmarkt refinanzieren konnten. In Griechenland, Spanien, Portugal, Zypern und Irland diktierte die Troika dafür den sozialen Kahlschlag: Tarifverträge wurden eingeschränkt, Mindestlöhne, Renten, Arbeitslosengeld und Krankenleistungen gekürzt, prekäre Beschäftigung wurde ausgeweitet, öffentliche Unternehmen wurden zwangsprivatisiert. Mit der Einführung des Europäischen Semesters für die Koordinierung der Wirtschaftspolitik sollte diese Politik im Grundsatz auf alle anderen EU-Länder ausgeweitet werden. Mit diesem Prozedere wird seit 2011 die Politik der EU-Länder jährlich daraufhin geprüft, ob sie die rigiden Kriterien für die Staatsverschuldung und die Regeln der makroökonomischen Koordinierung einhalten. Außerdem wird die nationale Sozialpolitik einer Prüfung unterzogen. Das EU-Parlament entscheidet dabei nicht mit. Seit 2017 ist die „Europäische Säule sozialer Rechte“ (vgl. dazu auch Sablowski in diesem Heft) die programmatische Grundlage für soziale Empfehlungen des Europäischen Semesters. Diese ist jedoch rechtlich unverbindlich. Das bedeutet, dass Verstöße gegen die Haushaltsregeln bestraft werden können, eine hohe Armutsquote in einem reichen Land wie Deutschland aber nicht.
EU-Sozialpolitik: EU-Standards im Arbeitsrecht, nicht bei der sozialen Sicherheit
Stark unterschätzt wird oft die positive Dimension des sozialen Europa. Die EU-Gesetzgeber Parlament und Rat beschließen Richtlinien, die für alle EU-Länder Mindeststandards bei den Arbeitsbedingungen festlegen – von der Arbeitszeit über den Schutz vor krebserregenden Stoffen bis hin zur Leiharbeit. Die EU-Betriebsräterichtlinie macht es möglich, dass inzwischen in 1 150 europäischen Betriebsräten in grenzüberschreitend tätigen Unternehmen Beschäftigte informiert und konsultiert werden. Darüber hinaus treffen Gewerkschaften und Unternehmensverbände als Sozialpartner auf EU-Ebene Kollektivvereinbarungen, die der Rat (ohne das Parlament) verbindlich beschließen kann. Zwei neue EU-Richtlinien aus diesem Jahr sind hervorzuheben: Die Richtlinie über die Vereinbarkeit von Berufs- und Privatleben enthält erstmals Mindeststandards für bezahlten Elternurlaub in allen EU-Ländern – wenn auch sehr niedrige. In den Verhandlungen zur Richtlinie für transparente und verlässliche Arbeitsbedingungen ist es dem Rat leider gelungen, einen weit gefassten »Arbeitnehmer«-Begriff zu verhindern. Das Problem dahinter: Niedriglöhne, geringfügige Beschäftigung und Scheinselbstständigkeit führen dazu, dass Millionen Menschen rechtlich nicht als Arbeitnehmer*innen gelten, obwohl sie abhängig beschäftigt sind. Unternehmen sparen so Steuern und Sozialversicherungsbeiträge und umgehen den Arbeitsschutz. Zumindest hat das EU-Parlament erreicht, dass neu Beschäftigte früher über ihre Arbeitsbedingungen informiert werden müssen.
EU-Haushalt: Wichtig, aber zu klein
Der EU-Haushalt beträgt zurzeit etwa 145 Milliarden Euro jährlich. Das entspricht etwa einem Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung der EU. Dies ist wenig, verglichen etwa mit dem Bundeshaushalt der USA, der 21 Prozent des BIP ausmacht. Dennoch helfen die Strukturfonds weniger entwickelten EU-Ländern, wichtige Infrastruktur aufzubauen. Der Europäische Sozialfonds (ESF), der etwa 0,3 Prozent aller Sozialausgaben in der EU ausmacht, finanziert Projekte, die Beschäftigte weiterqualifizieren oder Erwerbslose dabei unterstützen, schrittweise in Beschäftigung zurückzufinden. Angebote aus dem Europäischen Hilfsfonds für die am stärksten benachteiligten Personen (EHAP) sind oft die einzigen, die obdachlosen EU-Bürger*innen in deutschen Städten Hilfe bieten. Der Europäische Globalisierungsfonds (EGF) wiederum unterstützt Menschen, die von Massenentlassungen betroffen sind.
Linke Sozialpolitik in der EU
Linke europäische Sozialpolitik muss weitgefasst verstanden werden. Soziale Standards spielen eine entscheidende Rolle auch in der Handelspolitik, bei der Energiewende oder im alles berührenden Prozess der Digitalisierung. Besonders wichtig ist es, das Steuerdumping in der EU zu beenden: Es braucht Mindeststeuern für Unternehmen, Steuern für Digitalkonzerne und eine Finanztransaktionssteuer. Linke Sozialpolitik darf jedoch nicht nur die sozialen Rechte an sich stärken, sie muss auch die Regeln verändern, nach denen europäische Sozialpolitik gemacht wird. Das Gesetzesinitiativrecht liegt ausschließlich in den Händen der EU-Kommission. Dies bedeutet: Die Linksfraktion im EU-Parlament kann nicht auf eigene Initiative einen Vorschlag etwa für europäische Mindesteinkommen vorlegen. Das EU-Parlament muss endlich das Initiativrecht bekommen. Ein weiteres Problem: Im Bereich des Sozialschutzes beschließt der Rat einstimmig. So werden soziale EU-Mindeststandards blockiert. Dies muss geändert werden. Bei allen sozialpolitischen Entscheidungen sollte das normale Gesetzgebungsverfahren angewandt werden. Dann entscheidet der Rat mit qualifizierter Mehrheit und das EU-Parlament bestimmt gleichberechtigt mit. Dafür muss Artikel 153 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU (AEUV) geändert werden. Zudem müssen die Mittel des zukünftigen Europäischen Sozialfonds ESF+ aufgestockt werden, damit er für alle Menschen spürbar dazu beiträgt, die Armut zu beseitigen. Qualifizierung für Beschäftigte im digitalen Wandel, soziale Eingliederung, eine Garantie gegen Kinderarmut, flächendeckende Programme gegen Jugendarbeitslosigkeit, wirksame Hilfe für Obdachlose – dies ist ein Ausschnitt dessen, welche Aufgaben der ESF+ ab 2021 bekommen sollte.
Vorrang für soziale Rechte
Linke europäische Sozialpolitik sollte zwei Grundprinzipien für den Binnenmarkt verfolgen: Erstens müssen soziale Rechte stets Vorrang vor wirtschaftlichen Freiheiten haben. Bei ihrer Gewerkschaftskonferenz im Februar 2018 hat die Linksfraktion GUE/ NGL zusammen mit dem Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) die Forderung nach einem »sozialen Fortschrittsprotokoll« zu den EU-Verträgen bekräftigt. So soll der Vorrang der sozialen Rechte auf oberster rechtlicher EU-Ebene verankert werden. Es geht um das Recht auf Streik, um Tariflöhne oder soziale Klauseln im Vergaberecht. Die neue Vergaberichtlinie der EU lässt etwa den Kommunen und Ländern durchaus neue Spielräume mit Blick auf Tariftreue oder um eigene Kriterien für Vergaben festzulegen. Generell sollte aus linker Perspektive die öffentliche Daseinsvorsorge – soziale Dienstleistungen, der soziale Wohnungsbau oder die soziale Energieversorgung der Haushalte – von Liberalisierungszwängen durch das Wettbewerbsrecht, das Vergaberecht oder das Beihilferecht ausgenommen werden. Profitinteressen haben hier nichts zu suchen. Zweitens muss die Gleichbehandlung für alle Menschen gelten, die in einem EU-Land leben und/oder arbeiten. Wenn Arbeiter*innen entsandt werden, muss lückenlos das Prinzip »gleicher Lohn für gleiche und gleichwertige Arbeit am gleichen Ort« gelten, wie es seit dem Jahr 2018 in der Entsenderichtlinie enthalten ist. In diesem Sinne müsste die neue Europäische Arbeitsbehörde wirksam grenzüberschreitenden Sozialbetrug unterbinden. Briefkastenfirmen müssen verboten und konsequent verfolgt werden. Eine europäische Sozialversicherungsnummer sollte künftig verhindern, dass Arbeiter*innen ohne Sozialversicherungsschutz in andere EU-Länder entsandt werden. Dafür bedarf es hoher Standards beim Datenschutz. Darüber hinaus sollten Sozialhilfe, soziale Dienstleistungen oder berufliche Qualifizierungsangebote allen Menschen gleichermaßen zur Verfügung stehen – egal, wo sie herkommen. Die EU sollte dafür einen Mobilitätsfonds einrichten, aus dem solche Leistungen für nicht erwerbstätige mobile EU-Bürger*innen finanziert werden können. Mit der Einführung des Europäischen Semesters wurde demokratische Politik durch ein dogmatisches und bürokratisches Regelwerk ersetzt. Von daher sollte dieses gestrichen und stattdessen sollten demokratische Verfahren gefunden werden, an denen das EU-Parlament maßgeblich beteiligt ist.
Die soziale Säule muss weiterentwickelt werden, damit soziale Grundrechte in der EU individuell einklagbar werden. Erster Schritt: Die EU sollte der revidierten Sozialcharta des Europarates beitreten, wie vom EU-Parlament auf Initiative der Linksfraktion bereits gefordert. Europa braucht soziale Mindeststandards für die Sozialsysteme. Es geht um verbindliche Ziele, nicht darum, die Systeme zu harmonisieren. Die Mindeststandards sollten für verschiedene Sozialleistungen eingeführt werden, etwa für die Renten, für die Pflege oder für den Zugang zu Wohnraum und zur Energieversorgung. Eines der wichtigsten Ziele linker Sozialpolitik ist eine Richtlinie für armutsfeste Mindesteinkommen in allen EU-Ländern. Gleichzeitig sollten Mindestlöhne so koordiniert werden, dass sie überall existenzsichernd und ausreichend für eine gute Altersvorsorge sind. Angeglichen werden darf nur nach oben, so wie es einer Fortschrittsklausel entspräche: ein institutioneller Mechanismus, der festschreibt, dass sich der Anteil der Sozialausgaben am BIP (die Sozialleistungsquote) nicht verringern darf, sondern sich vielmehr innerhalb eines Korridors nach oben entwickeln soll. Bei sinkender Sozialleistungsquote in einem EU-Land käme es zu einem Konsultationsverfahren, und die betreffende Regierung müsste verbindlich Maßnahmen entwickeln und umsetzen, um das ursprüngliche Niveau wiederherzustellen. Eine gemeinsame Koordination der Sozialpolitik würde darauf ausgerichtet sein, dass Mitgliedsländer im unteren Bereich der Sozialkorridore aufsteigen. Es geht dabei nicht um einen einheitlichen Standard, sondern um die Richtung von Anpassungen mit Blick auf die wirtschaftliche Leistungskraft, die Durchschnittslöhne und die Kaufkraft im jeweiligen Land. Darüber hinaus werden ärmere EU-Länder finanzielle Hilfe brauchen, wenn sie ihre Sozialsysteme weiterentwickeln. Es geht nicht um permanente Transfers. Aber es müssen effiziente Verwaltungen aufgebaut, Mitarbeiter*innen geschult und digitale Systeme eingerichtet werden. Ein solches Modell kann natürlich nicht isoliert betrachtet werden, sondern nur im Zusammenhang mit einer koordinierten Lohn- und Tarifpolitik, einer sozialökologischen Industrie- und Dienstleistungspolitik, die gerade im Osten und Süden eine produktive Basis sichern müsste, und weiteren Ausgleichsmechanismen. Es bedarf also einer solidarischen Neugründung der Union.
Gibt es das soziale Europa?
Die Frage ist nicht ob, sondern wie: Die radikale soziale Wende kann nur auf allen politischen Ebenen gleichzeitig erkämpft werden. Die europäische Ebene wird bisher sozialpolitisch oft vernachlässigt, für nicht so wichtig erachtet oder pauschal als »neoliberal« abgestempelt. Dies ist gefährlich, denn in der europäischen Arena werden entscheidende soziale Kämpfe ausgefochten. Aber natürlich findet das soziale Europa nicht nur in Brüssel statt. Es ist überall dort, wo soziale Kämpfe stattfinden. Wenn in Belgien zum Generalstreik für bessere Renten aufgerufen wird, wenn in Frankreich Gewerkschaften oder »Gelbwesten« gegen Macrons Kürzungspolitik auf die Straße gehen, wenn die von links tolerierten Regierungen in Portugal und Spanien die Mindestlöhne erhöhen, wenn in Deutschland um gute Löhne in der Pflege gerungen wird – all das hat Auswirkungen auf Europa. Nur gemeinsam kann die plurale europäische Linke bei ihrem Kampf für eine soziale Wende in der EU erfolgreich sein.