Kunst und Black Liberation

I. In seiner Rede für den I. Kongress schwarzer Schriftsteller und Künstler in Paris 1956 widmet sich der antikoloniale Theoretiker, Psychiater und Aktivist Frantz Fanon (1925–1961) dem Wechselverhältnis von Rassismus und Kultur. Auch wenn er der kulturellen Produktion im engeren Sinne in dem Text wenig Aufmerksamkeit schenkt, lässt er doch keinen Zweifel an deren Relevanz im Hinblick auf strukturelle Unterdrückung. »In der Literatur, den bildenden Künsten, den Gassenhauern, den Sprichwörtern, den Gewohnheiten, den patterns schlägt sich der Rassismus immer von neuem nieder, entweder in der Absicht, ihn zu verdammen oder ihn zu banalisieren.« (Fanon 1956) Für bestimmte kulturelle Produktionen sei der Rassismus sogar konstitutiv, für die Musik stellt Fanon lakonisch fest: »Ohne Unterdrückung und ohne Rassismus kein Blues.« (ebd.) (…) Während Fanon hier bereits verschiedene künstlerische Praktiken durchspielt, taucht in den gesellschaftstheoretischen Texten Schwarzer linker TheoretikerInnen und AktivistInnen aus den USA zunächst die Musik auf – und wesentlich weniger die bildende Kunst. Das ist selbstverständlich auf die Geschichte der Sklaverei, die Schwarze Diaspora und die Rolle zurückzuführen, der Musik als häufig einzig mögliche Kulturproduktion dabei zukam. »Die Freiheit, zu malen, Skulpturen zu machen, den Geist durch das Tun zu erweitern, gab es nicht« (Walker 1974) schrieb die Schriftstellerin Alice Walker (*1944). Das Schwarzsein bzw. die soziopolitische, rassialisierte Zuschreibung zur Gruppe der Schwarzen fundiert auch die gelebten Erfahrungen und ihre potenziellen Effekte wie das Kunstmachen und -rezipieren. Hier sind allerdings zwei Anmerkungen einzuschieben. Erstens ist der Hinweis auf die Musik beschreibend und nicht festschreibend gemeint – auch wenn beides häufig kaum zu unterscheiden ist. Die Betonung des Unterschieds ist dennoch wichtig, denn die Kombination der Zeichen Schwarzsein und Musik als Konnotationskette war nicht selten Bestandteil rassistischer Stereotypisierungen. Zwar gab es auch wirksame Versuche, Schwarze Musikgeschichte als Geschichte von Ermächtigungen zu schreiben – zu denen etwa das Buch Blues People (1963) des Poeten und Aktivisten Amiri Baraka (1934–2104) gehört. Aber die die Verknüpfung von Schwarzsein und Musik ist ambivalent. Schon Fanon schreibt, es sei »keine Utopie, wenn man annimmt, daß in 50 Jahren der Jazz als abgehackter Aufschrei eines armen verflochtenen Negers nur noch von Weißen verteidigt werden wird, die als einzige an dem erstarrten Bild einer bestimmten Verhaltensweise, einer bestimmten Form der Négritude festhalten werden.« (Fanon 1981) Und die bildende Künstlerin und Kunstkritikerin Michele Wallace konstatiert dreißig Jahre später aus dem gleichen Grund im Kontext ihrer Auseinandersetzung mit Schwarzer Kunst und Black Popular Culture, »I am at war with music, to the extend that it completely defines the parameters of intellectual discourse in the African-American community.« (Wallace 1992) Es gibt also auch eine durchgängige Abwehr gegenüber dem vermeintlich besonderen Zugang von Schwarzen zur Musik. Diese abwehrende Haltung ist zweifellos eine Reaktion auf das rassistische Stereotyp, das diese Zuschreibung ebenfalls vornimmt. Die zweite Anmerkung bezieht sich daran anschließend auf die Kategorisierung ›Black Liberation‹: Auch wenn es selbstverständlich nicht die eine Schwarze Erfahrung unabhängig von Ort und Zeit gibt und die Differenzen zwischen antikolonialen Kämpfen in Afrika und jenen der Bewegung für BürgerInnenrechte in den USA schon Teil der Selbstbeschreibung der AkteurInnen im ganzen 20. Jahrhundert waren, so gibt es doch zweifelsohne gemeinsame Bezugspunkte im Schwarzen linken Antirassismus – ohne zugleich annehmen zu müssen, Rassismus existiere bloß im Singular. Es gibt nicht bloß eine Form von Rassismus, sondern verschiedene, die wiederum historischen und konzeptuellen (also hinsichtlich seiner pseudo-biologischen und / oder kulturellen Begründungen unterschiedenen) Konjunkturen unterliegen. Aber nicht zuletzt die Repression und der systematisch verhinderte Zugang zu künstlerischen Praktiken machten diese gemeinsamen Bezugspunkte eines linken Schwarzen Antirassismus auch zu Trägerinnen von Befreiungshoffnungen. Umso mehr geht es in dem, was hier etwas vereinheitlichend ›Schwarze linke Theorie‹ genannt wird, um das Potenzial für Ermächtigung durch und mittels kultureller Produktion. Das hat die Theorie der Black Liberation durchaus mit den verschiedenen Varianten der Bezugnahmen auf Kunst etwa im Anarchismus gemein. In diesem Sinne wird auch schon im Klassiker des US-amerikanischen Soziologen, Philosophen und Journalisten W.E.B du Bois (1868–1963), Die Seelen der Schwarzen (1903), die Musik als kulturelles Erbe und zugleich als ermächtigende Ressource der Schwarzen beschrieben. In ihr versammelten sich Geschichte und Geschichten der afrikanischen Diaspora. Die Schwarze populare Musik, rückblickend der »rhythmische Schrei des Sklaven« (Du Bois 1903) genannt, beschreibt er zudem als wichtigsten Bestandteil US-amerikanischer kultureller Produktion, wörtlich als den »schönste[n] Ausdruck menschlicher Erfahrung auf dieser Seite des Meeres« (ebd.). Das Buch beschreibt und interpretiert die Lebensbedingungen Schwarzer US-AmerikanerInnen um die Jahrhundertwende. Du Bois verfasste damit ein viel gelesenes Grundlagenwerk, das, so Henry Louis Gates jr. in der Einleitung, »den kollektiven Text der afroamerikanischen Kultur in Worte zu fassen« (Gates 1903), in der Lage war. Theoretisch einflussreich war u.a. der darin entwickelte Begriff des »doppelten Bewusstseins«. Es sei den Schwarzen in den USA strukturell verwehrt, ein wahres Selbstbewusstsein zu entwickeln. Ihre Selbstwahrnehmung sei nur durch den und mittels des dominanzkulturellen Blick(s) möglich. »Es ist sonderbar, dieses doppelte Bewusstsein«, schreibt Du Bois, »dieses Gefühl, sich selbst immer nur durch die Augen anderer wahrzunehmen, der eigenen Seele den Maßstab einer Welt anzulegen, die nur Spott und Mitleid für einen übrig hat.« (Du Bois 1903). Sich selbst nur mit dem Blick derjenigen sehen zu können, die eine/n diskriminieren – diese Beschreibung wird zu einem wichtigen Ausgangspunkt für antikoloniale sowie de- und postkolonialistische Theorie von Frantz Fanon über Glória Anzaldúa bis Paul Gilroy.[1] Denn es geht um die potenziellen Grundlagen sowohl für individuelle psychische Gesundheit als auch für die Konstitution ermächtigender kollektiver Identifizierung. Die Ausbildung von Selbstbewusstsein und Selbstwertgefühl ist immer nur als ein kulturell überdeterminiertes, als ein vermitteltes Verhältnis zu sich selbst möglich. Davon sind auch die Möglichkeiten kollektiver Ermächtigung betroffen. Sie müssen das ›Eigene‹ als potenzielle Ressource des Kampfes immer erst von der abgewerteten, diskriminierenden Zuschreibung loslösen. Das gilt für das ›Eigene‹ als Konglomerat von Verhaltensweisen, also kulturellen Praktiken im Allgemeinen ebenso wie für künstlerische Praxis im Besonderen. Insofern formuliert Du Bois Beschreibung einer von rassistischer Diskriminierung gekennzeichneten Gesellschaft letztlich Problematiken, die bis heute im Zentrum von (Schwarzer) Kulturtheorie stehen. Das betrifft erstens das jeweilige – gegenwärtige – Verständnis von Kunst und künstlerischer Produktion. Zweitens schafft Du Bois auch die Grundlagen für die Fragen nach dem Umgang damit, in die rassistisch strukturierte Dominanzkultur involviert zu sein. Ein Verständnis von Kunst und künstlerischer Produktion kann nach Du Bois nicht ohne Rekurs auf die historische Diaspora und die Sklaverei und ihre Langzeiteffekte auskommen. Musik und Momente kreativen Schaffens generell sind Teil jenes kulturellen Textes Afroamerikas, insofern sie auf historische Prozesse zurückgehen. Die Kulturtheoretikerin bell hooks (* 1952) und der Kulturwissenschaftler Greg Tate haben diese historischen Grundlagen beispielhaft herausgearbeitet. In ihrem Text »Critical Genealogies. Writing Black Art« beschreibt bell hooks das Kunstschaffen vor dem Hintergrund der Geschichte der Sklaverei als Paradox: »To be bound and yet not bound – this was the paradox: the slave liberated for a time in the imagination, liberated in that moment of creative transcendence.« (bell hooks 1995). In demselben Aufsatz beschreibt bell hooks die Gegenwartsgesellschaft der USA 1995 als »culture of white-supremacist capitalist patriarchy«, die danach trachte, »to remove all traces of this subjugated knowledge.« (ebd.) Auch der Kulturtheoretiker Greg Tate bettet in seinem Buch Everything But The Burden (2003) die kulturtheoretischen Gegenwartsdiagnosen in den historischen Kontext der Diaspora-Effekte. »For much of the last century the burden of being Black in America«, schreibt Tate, »was the burden of a systematic denial of human and constitutional rights and equal economic opportunity.« (Tate 2003) Und er fährt dann fort mit einer kulturtheo- retischen Feststellung hinsichtlich Schwarzer kultureller Produktion, die letztlich direkt an Du Bois Statement vom »schönsten Ausdruck menschlicher Erfahrung« in den USA anschließt: »It was also a century in which much of what America sold to the world as uniquely American in character – music, dance, fashion, humor, spirituality, grassroots politics, slang, literature, and sports – was uniquely African-American in origin, conception, and inspiration.« (ebd.) Die soziale Ausgrenzung widersprach einer Integration kultureller Praktiken in den Mainstream überhaupt nicht. Vielmehr ging Letztere mit einer Missachtung ihrer UrheberInnen einher und kann insofern auch als kulturelle Ausbeutung beschrieben werden. Diese Tendenz sieht Tate noch gesteigert in der gegenwärtigen kulturellen Formation, die er, einen Begriff von Nelson George aufgreifend, Post-Soul-Ära nennt. In Zeiten des Post-Soul haben sich hybride Formen weißer und Schwarzer kultureller Zeichen ausgebildet, die sich, im Unterschied zur Schwarzen kulturellen Produktion der Soul-Ära, ohne Weiteres in den popkulturellen weißen Mainstream einpassten (verkörpert etwa durch Michael Jackson, Tracy Chapman, aber auch Filme von Spike Lee oder die Präsidentschaftskampagne des Bürgerrechtlers Jesse Jackson).[2] Für die Kultur-, aber auch die Kunstproduktion formuliert Tate vor diesem Hintergrund eine zumindest politisch betrachtet heikle Situation: »For the first time in history, mainstream success became a defining factor in the cultural production of an African-American arts movement«. Politisch heikel ist dies aus linker Perspektive insofern, als dass gerade die Marktdominanz des Kunst- und Kultursystems kaum kritisiert und delegitimiert werden kann, wenn sie es ist, die den Erfolg verspricht und auch gewährleistet. Die Infragestellung von eurozentrischen Denk- und Wahrnehmungsmustern in Kunst und Kultur – »to think about art solely in Eurocentric terms« (bell hooks 1995), wie bell hooks es ausdrückt – wird komplizierter, wenn genau diese Muster Anerkennung und Erfolg garantieren. Die zweite Problematik, die sich seit den Schriften Du Bois gehalten hat, ist also die Frage nach dem emanzipatorisch-politischen Umgang mit den Involviertheiten Schwarzer kultureller Praxis in die rassistisch diskrimi- nierende Dominanzkultur. Es stellte und stellt sich also die Frage, wie mit diesen Involviertheiten umgegangen werden soll, welche Handlungsoptionen offenstehen und/oder entwickelt werden müssen. (Involviertheit bedeutet hier nicht notwendigerweise Akzeptanz, sondern beschreibt vor allem das Ausgeliefert-Sein gegenüber dem double consciousness auch in Form des Erfolgs auf dem dominanzkulturell geprägten Markt.) Diese Frage nach politischen Handlungsmöglichkeiten oszillierte – wie etwa in aktivistischen Milieus – auch im Kunstfeld häufig zwischen der Forderung nach Ausbildung und Stärkung von Schwarzer Identität einerseits und solchen Positionen andererseits, die das Hybride betonten und in kultureller Produktion gerade die Möglichkeit sahen und sehen, die Dichotomie von Schwarz und weiß zu unterlaufen bzw. zu untergraben.

Literatur

W.E.B du Bois: Die Seelen der Schwarzen. [1903] Freiburg: Orange press 2003, S. 253. Frantz Fanon: »Rassismus und Kultur.« [1956] In: Ders.: Das kolonisierte Ding wird Mensch. Ausgewählte Schriften. Leipzig: Verlag Philipp Reclam jun. 1986, S. 134-148, hier S. 141. Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. [1961] Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1981, S. 206. Henry Louis Gates jr.: »Dunkel wie durch einen Schleier. Vorwort.« In: W.E.B du Bois: Die Seelen der Schwarzen. [1903] Freiburg: Orange press 2003, S. 7-28, hier S. 28. bell hooks: »Critical Genealogies: Writing Black Art.« In: Dies.: Art On My Mind. Visual Politics. New York: The New York Press 1995a, S.108-118, hier S. 117. Greg Tate: »Nigs R Us, or How Blackfolk Became Fetish Objects. Introduction« In: Ders. (Hg.): Everything But The Burden. What White People Are Taking From Black Culture. New York: Broadway Books 2003, S. 1-14, hier S. 3. Alice Walker: »Auf der Suche nach den Gärten unserer Mütter. Über Kreativität und schwarze Frauen im Süden.« [1974] In: Max Annas und Martin Altes (Hg.): Black Beats. Freiburg: orange press 2003, S. 172-183, hier S. 174. Michelle Wallace: »Why Are There No Great Black Artists? The Problem of Visuality in African-American Culture«. In: Gina Dent (Hg.): Black Popular Culture. Seattle: Bay Press 1992, S. 333-346.

Anmerkungen

[1] Fanon spricht vom »third-person consciousness«, mit dem Schwarze sich wahrnehmen (müssen), Frantz Fanon: Black Skin, White Masks. [1952] New York: Grove Press 1967, S. 110. Gloria Anzaldúa nimmt die rassialisierten Zuschreibungen zum Anlass, den Begriff normativ positiv zu wenden und konstatiert, »an ›alien‹ consciousness is presently in the making –a new mestiza consciousness«, Gloria Anzaldúa: Borderlands / La Frontera. The New Mestiza. [1987] San Francisco: Aunt Lute Books 2012, S. 99. Paul Gilroy nimmt Du Bois’ double consciousness als Argument bzw. Beispiel für die »ambivalences generated by modernity and their locations within it«, Paul Gilroy: The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge, MA: Harvard University Press 1993, S. 117. [2] Amiri Baraka etwa hatte den Soul als Ermächtigung, als »›neue‹ Wertsetzung« beschrieben, als »den Versuch, durch Neudefinition der Wertmaßstäbe die sozialen Rollen innerhalb der Gesellschaft umzukehren. Ebenso wie die ›Neuen Neger‹ der 20er-Jahre – wenn auch nur defensiv – begannen, die Attribute ihres ›Negertums‹ zu kanonisieren, will der ›Soul Brother‹ die Gesellschaftsordnun nach seinem eigenen Bilde umformen.« Amiri Baraka: Blues People. Von der Sklavenmusik zum Bebop. [1963] Freiburg: orange press 2003, S. 232.